Editorial

Bollwerk gegen Pflanzenviren

Ralph Bertram


(15.02.2024) WIEN/POTSDAM: Pflanzliche Stammzellen schützen sich mithilfe von RNA-Interferenz gegen virale Angriffe. Eine ganz entscheidende Rolle spielt dabei ein chemischer Verwandter von Aspirin. Nur wie?

Pflanzen haben es nicht leicht. Aus Wasser und einem Treibhausgas müssen sie erst den Großteil ihrer Biomasse aufbauen, um dann nicht selten als essbare Kohlenstoffquelle zu enden. Durch ihre immobile Lebensweise sind sie noch dazu darin eingeschränkt, Bedrohungen wie etwa Infektionen mit Phytoviren zu entgehen, die oftmals durch stechend-saugende Insekten wie Blattläuse übertragen werden. Virusinfektionen können bei Pflanzen Symptome wie Verfärbungen, Formveränderungen oder Verzwergungen hervorrufen. Das kann zu beträchtlichen landwirtschaftlichen Schäden führen. Die Auswirkungen von Virusinfektionen und anderen Pflanzenkrankheiten belaufen sich auf eine Schadenssumme von über 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr (Plant  Virus and Viroid Diseases in the Tropics. doi.org/gjtnzq). Auch aus Gründen der Nahrungsmittelsicherheit für eine wachsende Weltbevölkerung besteht daher großes Interesse an einem besseren Verständnis der Interaktionen zwischen Phytoviren und ihren Wirten.

Vegetationskegel von Arabidopsis thaliana, Illustr: Modifiziert nach Abb.1 in HAL-03299266
Der Vegetationskegel von A. thaliana umfasst drei Zellschichten (L1 bis L3): Die zentrale Zone (rot) enthält das Reservoir pluripotenter Stammzellen. Das Organisationszentrum (gelb) sorgt für die Aufrechterhaltung der Meristemfunktion. In der peripheren Zone (grün) differenzieren die Stammzellen zu unterschiedlichen Geweben. Solange die RNA-abhängige RNA-Polymerase 1 (RDR1) exprimiert wird, sind die Stammzellen immun gegen eine Infektion mit den meisten RNA-Viren. Illustr: Modifiziert nach Abb.1 in HAL-03299266

Editorial
Gallische Dörfer

Einmal in der Pflanze gelangen Viren über Plasmodesmen von einer Zelle zur nächsten – aber nicht überall hin. Denn Pflanzen errichten an bestimmten Stellen ein regelrechtes Bollwerk gegen virale Infektionen. Dieses besteht aus den totipotenten, undifferenzierten Stammzellen des Sprossapikalmeristems, also der wuchsaktiven Zone des Sprossscheitels und der Wurzelspitze bei der Mehrzahl der höheren Pflanzen. Aus diesem Vegetationskegel gehen die Blätter, Stängel und die Reproduktionssysteme der Pflanze hervor. Im botanischen Modellorganismus Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) wird zwischen drei Schichten an Stammzellen unterschieden: L1 bildet die Epidermis, L2 die subepidermale Schicht, und aus L3 entstehen die übrigen Sprossgewebe. Das Sprossapikalmeristem schützt als antivirale Barriere dabei nicht nur die Pflanze selbst: Da Stammzellen der L2-Schicht vermutlich die Keimbahn bilden, bewahrt es auch die Nachkommenschaft einer infizierten Pflanze vor Viren und möglichen Schädigungen.

Seit 1940 ist bereits bekannt, dass Stammzellen eine antivirale Immunität aufweisen (Bot Rev. doi.org/cs7gx3). Die zugrunde liegenden Mechanismen blieben jedoch bruchstückhaft. Zumindest war mit dem meristematischen Transkriptionsregulator WUSCHEL ein Faktor identifiziert worden, dessen Deletion die Stammzellimmunität aufhob (Science. doi.org/ghhwk5). Und für die Infektion der Tabakpflanze Nicotiana benthamiana durch das Kartoffelvirus X wurde auch der Einfluss einer RNA-abhängigen RNA-Polymerase (RDR) auf die virale Verbreitung im Pflanzenwirt gezeigt (Plant Physiol. doi.org/fqs7jj). Darüber hinaus herrschte aber viel Ungewissheit.

RNAi gegen Viren

Egal, ob Kartoffelvirus X, Gelbes Rübenmosaik-Virus oder Rübenmosaik-Virus: Über 90 Prozent aller Pflanzenviren besitzen ein einzelsträngiges RNA-Genom. Und so bekommt bei der antiviralen Antwort von Pflanzen das Gene Silencing durch RNA-Interferenz (RNAi) eine ganz besondere Bedeutung: Dicer-artige Proteine schneiden in den Stammzellen von Pflanzen doppelsträngige RNA-Moleküle, die infolge viraler Replikation entstehen, in 21 bis 24 Nukleotide lange Virus-derived-small-interfering-RNA (vsiRNA)-Fragmente. Wirtsigene RDRs verstärken die Produktion dieser vsiRNA. Schließlich werden komplementäre virale RNAs mithilfe von Proteinen der Argonaut-Familie erkannt und abgebaut.

Arabidopsis thaliana
Der botanische Modellorganismus schlechthin: Arabidopsis thaliana. Foto: M.L. Nguyen

Derartige RNAi-Mechanismen sind nicht nur in Pflanzen, sondern auch in Pilzen und Wirbellosen an antiviralen Antworten beteiligt. Auch dort induzieren virale Nukleinsäuren die Akkumulation von vsiRNA-Fragmenten, die von RNasen der Dicer-Familie gebildet werden. Des Weiteren replizieren Viren in all diesen Organismen stärker, wenn Defekte in der RNA-Interferenz vorliegen. Und natürlich wirken auch Viren selbst der RNAi entgegen. Beispielsweise codieren Phytoviren sogenannte Virus-encoded Suppressors of RNAi (VSR), die es ihnen ermöglichen, in Pflanzenzellen einzudringen und dort zu bestehen. Doch wie wird letztlich die Immunität in den Stammzellen orchestriert? Und welche weiteren Mechanismen und Faktoren sind möglicherweise beteiligt?

Faktorenpuzzle

Diese Fragen beschäftigten Marco Incarbone – erst am Gregor-Mendel-Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und seit August 2023 als Forschungsleiter der Arbeitsgruppe „Antivirale Immunität der Pflanzenkeimbahn“ am Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam. Der gebürtige Italiener fasst seinen Erkenntnisstand zum Rübenmosaik-Virus (Turnip mosaic virus, TuMV), das neben Nutzpflanzen wie verschiedene Kohlsorten auch andere Kreuzblütler wie A. thaliana befällt, zusammen: „Durch zeitabhängige Experimente haben wir herausgefunden, dass TuMV nach dem Bewerkstelligen einer pflanzenweiten systemischen Infektion und dem Eintreffen im Meristem zwar in die Stammzellen eindringt, aber dann gleich wieder ‚hinausgeworfen‘ wird. Das Virus gelangt zwar in die Zellen, wird dort aber aufgehalten.“ Fehlt A. thaliana jedoch das Gen für die RDR1 – und somit ein wichtiger Faktor für die RNAi – schafft es TuMV, sich in Stammzellen festzusetzen. In vergleichenden zeitaufgelösten Experimenten zeigte sich, dass das Virus in Wildtyp-Pflanzen erst 13 bis 15 Tage nach Inokulation temporär in den L1- und L2-Schichten des Sprossapikalmeristems zu finden ist, in der RDR1-Mutante aber deutlich früher. In einer RDR1-RDR6-Doppelmutante war dieser Effekt sogar noch stärker. Die RNA-Polymerisation durch RDR1 wird für die Stammzellimmunität also benötigt.

Zwei weitere Nachweise erbrachte Incarbones Arbeitsgruppe: Aus einem experimentellen Aufbau, bei dem sie die Synthese antiviraler siRNA von RDR1 entkoppelte, konnte das Team schlussfolgern, dass die Produktion kleiner RNAs von Wirtsgenen – wie in früheren Studien postuliert – nicht nötig ist. Außerdem war der meristematische Transkriptionsfaktor WUSCHEL, der laut der oben erwähnten Publikation die Stammzellimmunität mitverantwortet, gar nicht aktiv – zumindest unter den verwendeten Versuchsbedingungen.

Marco Incarbone
Schon in Wien, erst recht jetzt in Potsdam fragt sich Marco Incarbone vor allem eines: Wieso infizieren Pflanzenviren weder Stamm- noch Keimzellen oder Embryonen? Foto: sevens+maltry
Das antiinfektive Phytohormon

Als noch bemerkenswerter stellte sich die Wirkungsweise von RDR1 heraus: „Die RNA-Polymerase wird in der virenfreien Zone gar nicht exprimiert“, sagt Incarbone. „Während der Infektion exprimiert die Pflanze das RDR1-Gen nur in den unteren Teilen des Vegetationskegels sowie den Leitungsbahnen, was darauf hindeutet, dass sie die Stammzellen aus einer gewissen Entfernung mit antiviraler Information versorgt.“ Eine entscheidende Rolle bei der RDR1-Expression kommt dabei der Salicylsäure zu. In acetylierter Form fehlt das Phytohormon als Schmerzstiller und Fiebersenker in kaum einer Hausapotheke. In Pflanzen ist es hingegen eine Schlüsselsubstanz zur Aktivierung der Pathogen-Abwehr. So spekulierten Incarbone und seine Kollegen, dass Salicylsäure auch eine Rolle beim Ausschluss von TuMV aus Stammzellen des Sprossapikalmeristems spielen könnte. In der Tat erwiesen sich Stammzellen als durchlässig für TuMV, sobald A.-thaliana-Pflanzen ein heterologes Bakterienenzym zum Abbau von Salicylat exprimierten. Gleichzeitig induzierte TuMV aber auch die Produktion von Salicylsäure in Wildtyp-Pflanzen. Ist das ein Widerspruch? Warum sollte ein Pflanzenvirus ein Phytohormon induzieren, das seine eigene Ausbreitung hemmt?

Und damit nicht genug der Rätsel: Pflanzen synthetisieren Salicylat über den Isochorismat-Synthase (ICS)-vermittelten Isochorismat-Weg. Doch in einer A.-thaliana-Variante mit einer Loss-of-Function-Mutation im Syntheseweg blieb die Infektion der Stammzellen aus. Das war unerwartet, schließlich hatte Incarbones Arbeitsgruppe doch gerade bewiesen, dass die Abwesenheit von Salicylsäure Stammzellen durchlässig für TuMV macht.

Letztes Puzzlestück?

Für beide Rätsel fanden die Pflanzenforscher Antworten. Neben dem ICS-vermittelten Weg existiert in A. thaliana noch ein zweiter Biosyntheseweg für Salicylsäure. Im Einklang mit früheren Belegen handelt es sich dabei wahrscheinlich um den Phenylalanin-Ammoniak-Lyase (PAL)-vermittelten Phenylalanin-Weg. Auch mit einer Loss-of-Function-Mutation im ICS-vermittelten Weg kann A. thaliana also Salicylsäure produzieren.

Das Hauptergebnis der Arbeitsgruppe fasst Incarbone selbst zusammen: „Tatsächlich triggert eine TuMV-Infektion die Salicylsäure-Produktion in Pflanzen, was wiederum für die erhöhte Expression von RDR1 notwendig ist. Doch nur in Gegenwart von RDR1 führt die Salicylsäure-Antwort auch zur Stammzellimmunität.“

Gilt das auch für Infektionen mit anderen phytopathogenen Viren? Neben TuMV aus der Familie der Potyviridae lösen sowohl das Gelbe Rübenmosaik-Virus (Turnip yellow mosaic virus, TYMV) aus der Familie der Tymoviridae als auch der Erreger der Englischen Kräuselkrankheit der Mairübe (Turnip crinkle virus, TCV) aus der Familie der Tombusviridae eine Salicylsäure-Antwort in Wildtyp-Arabidopsis aus, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Im Gegensatz dazu löst das Tabak-Rattle-Virus (TRV) aus der Familie der Virgaviridae keine Salicylsäure-Aktivierung aus und wird auch nicht aus den Stammzellen von A. thaliana ausgeschlossen. Alles deutet also darauf hin, dass Salicylsäure der ursächliche Faktor ist, mit dem die Ackerschmalwand es schafft, die Stammzellen ihres Sprossapikalmeristems frei von zumindest den meisten RNA-Viren zu halten (PNAS. doi.org/gsvppb).

Bisher haben Pflanzen im Rennen mit RNA-Viren also die Nase vorn. Zu Ende erzählt ist die Geschichte pflanzlicher Stammzellimmunität unterdessen wohl noch nicht – ebenso wenig wie Incarbones Forschungsbeitrag dazu. So resümiert er selbst: „Sind noch weitere RDR-Proteine beteiligt? Oder auch andere Salicylat-abhängige Stoffwechselwege? Diese Viren sind ziemlich gut darin, RNA-Interferenz zu blockieren; aber hier ist ein RNAi-Weg, der gegenüber einer Suppression immun ist. Cool! Aber warum?“