Editorial

Leben von Luft und Strom

Larissa Tetsch


(11.10.2023) JENA: Bakterien, die hochwertige Kohlenstoffverbindungen unter Strom aus Kohlenstoffdioxid aufbauen, könnten gleich mehrere globale Probleme lösen. Zuerst muss aber die mikrobielle Elektrosynthese verstanden sein.

Die Menschheit steht derzeit vor einer Menge drängender Probleme. Zu ihnen zählt insbesondere der Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen, der sich nur durch eine drastische Reduktion von Treibhausgasemissionen bremsen lässt. Gleichzeitig gehen fossile Energieträger wie Erdöl zur Neige, die nicht nur als Treibstoff, sondern auch als Basis für die Synthese einer Vielzahl chemischer Verbindungen dienen. Eine Technologie, die der Atmosphäre CO2 entzieht und daraus verwertbare Chemikalien synthetisiert, könnte helfen, beide Probleme zu lösen.

Derartige Prozesse laufen tatsächlich in der Natur ab: Verschiedene Mikroorganismen nutzen atmosphärisches CO2 als Kohlenstoffquelle und bauen daraus ihre Zellbestandteile auf. Für eine technische Nutzung besonders interessant ist die mikrobielle Elektrosynthese (MES), bei der Bakterien die für die Reduktion von CO2 benötigten Elektronen über eine Elektrode im Nährmedium zugeführt bekommen. Erstaunlicherweise ist die MES aber längst nicht im Fokus der Öffentlichkeit angekommen und wird selbst in Mikrobiologie-Lehrbüchern kaum behandelt. „Das liegt daran, dass die Biologie dahinter noch immer als Black Box gesehen wird, also nicht richtig verstanden ist“, erklärt Miriam Rosenbaum, Lehrstuhlinhaberin für Synthetische Biotechnologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiterin des Biotechnikums am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut (Leibniz-HKI). Die Mikrobiologin beschäftigt sich schon seit ihrer Diplomarbeit mit Mikroorganismen, die Elektronen mit einer Elektrode austauschen, und versucht, sie biotechnologisch nutzbar zu machen. „Aber wir können einen Prozess nur kontrollieren, wenn wir ihn auch verstehen“, ist Rosenbaum überzeugt.

Foto: H-Typ-Glasreaktor in Naßlabor
Sobald Bakterien wachsen, lässt sich das leicht anhand einer Trübung in der Kathoden-Kammer der Typ-H-Glasreaktoren beobachten. Der Nachweis von gelöstem Wasserstoff in unmittelbarer Nähe der Kathode erweist sich dagegen als anspruchsvoller. Foto: Ronja Muench/Leibniz-HKI

Editorial
Stromfressende Bakterien

Bakterien, die Strom produzieren, also Elektronen über Enzyme nach außen abgeben, sind schon lange bekannt und werden bereits seit Mitte der 1990er-Jahre erforscht. Sie gehören vor allem zu den Gattungen Geobacter und Shewanella, die als Biofilm auf Eisenmineralien wachsen und Elektronen auf das Substrat übertragen. Zu den Mikroorganismen, die Elektronen hingegen von einer Elektrode aufnehmen, gehören beispielsweise Vertreter der strikt anaerob lebenden acetogenen Bakterien. Aus CO2 und H2 stellen sie in einer anaeroben Atmung Acetat und unter passenden Bedingungen auch Ethanol her. „Wir arbeiten mit Clostridium ljungdahlii, dem Modellorganismus für die Acetogenese“, erklärt Rosenbaum. „Wenn wir an eine Suspension des Bakteriums Strom anlegen und Kohlenstoffdioxid zuführen, produziert es Acetat.“

Bislang ging die Forschungsgemeinde davon aus, dass die elektrotrophen Bakterien zugeführte Elektronen direkt von der Elektrode abgreifen. Doch diese Annahme basierte auf einem Trugschluss, wie die Biotechnologin berichtet: „Weil stromproduzierende Bakterien freie Elektronen über bestimmte Proteine abgeben, war einfach behauptet worden, dass Elektronen auch in der MES über ähnliche Mechanismen direkt aufgenommen würden. Das ist aber nie bewiesen worden.“ Über Jahre hatte sich die Fachwelt auf diese Vermutung verlassen und dazu passende Versuche durchgeführt – etwa die Bakterien als Biofilm an die Elektrode zu bringen. Keiner diese Versuche erzielte aber die gewünschten Ergebnisse. „Weil sie auf falschen Annahmen beruhten“, ist Rosenbaum überzeugt – und fügt hinzu: „Vor uns hat sich einfach niemand die Mühe gemacht, herauszufinden, wie die Bakterien wirklich an die Elektronen kommen.“ Diese Frage hat die Jenaerin jetzt gemeinsam mit ihrem Doktoranden Santiago Boto beantwortet (Green Chem. doi.org/gr9xnj).

Eine Frage des Wo

Alternativ zu einer direkten Aufnahme von Elektronen könnten sie auch indirekt übertragen werden – und zwar über Wasserstoff, der an der Elektrode durch Spaltung von Wasser entstehen könnte. Der Möglichkeit einer solchen Elektrolyse hatte bisher aber niemand Beachtung geschenkt. Schließlich war Wasserstoff in den ursprünglichen Arbeiten nicht nachgewiesen worden. Boto und Rosenbaum schauten mit einem neuen Versuchsdesign noch einmal nach und wurden fündig. „Bisherige Experimente versuchten, Wasserstoff in der Gasphase über dem Kulturmedium nachzuweisen“, erklärt Boto. „Wir haben dagegen mithilfe von empfindlichen Mikrosensoren direkt im Medium an der Elektrode gemessen und konnten dort tatsächlich Wasserstoff finden.“ Und mehr noch: Veränderten die Mikrobiologen das Redoxpotential der Zellkultur so, dass kein Wasserstoff mehr entstand, hörte schlagartig auch die Acetatproduktion auf. „Einen absoluten Beweis, dass Elektronen nicht auch direkt transferiert werden, können wir zwar nicht erbringen“, schränkt Rosenbaum ein. „Unsere Experimente zeigen aber, dass ein direkter Elektronentransfer zumindest nicht relevant ist. Denn nur wenn Wasserstoff entsteht, sind die Bakterien auch nachweislich aktiv.“

Suspensiv oder adhärent?

Damit machen die Mikroorganismen auf den ersten Blick das, was alle acetogenen Bakterien machen: Sie wandeln CO2 und H2 in Acetat um. „Allerdings zeigen unsere Bakterien ein unterschiedliches metabolisches Verhalten je nach Versuchsaufbau unseres elektrochemischen Systems“, erklärt Rosenbaum. Die ersten Hinweise darauf fanden die Biotechnologen eher durch Zufall. Je nachdem mit wie viel Bakterienzellen Doktorand Boto neues Nährmedium beimpfte, wuchsen die Mikroorganismen auf unterschiedliche Art und Weise: Bei hoher Zellzahl verteilten sie sich im Medium – sie wuchsen also planktonisch. Bei niedriger Zellzahl bildeten sie hingegen einen Biofilm an der Elektrode. Da bei planktonischem Wachstum nur die wenigsten Bakterien die Elektrode berührten, war somit klar, dass Wasserstoff als Mediator wirken musste. Im Biofilm könnten die Bakterien zwar theoretisch Elektronen direkt von der Elektrode abgreifen, doch auch hier brach die Acetatproduktion sofort ein, sobald kein Wasserstoff mehr gebildet wurde.

Portraitfoto von Miriam Rosennbaum
Nach einer Juniorprofessur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen ist Miriam Rosenbaum seit 2017 als Professorin für Synthetische Biotechnologie am Hans-Knöll-Institut in Jena tätig. Foto: Jan-Peter Kasper/FSU Jena

Auch hinsichtlich von Biomasse und Acetatproduktion erwiesen sich planktonisch wachsende Kulturen als vielversprechender. Setzte Boto eine Elektrode mit vergrößerter Oberfläche ein, an der sich mehr Wasserstoff bildete, konnte er die Ausbeute sogar weiter steigern. „Auf diese Weise erreichten wir die höchsten Acetaterträge, die bislang für eine Reinkultur veröffentlicht sind“, freut sich der Doktorand. Die geringere Produktivität des Biofilms erklären sich die Jenaer Mikrobiologen indes damit, dass dieser durch sein Wachstum auf der Elektrode die Produktion und Diffusion von Wasserstoff behindert.

Überraschende Produkte

Letztlich war es aber dennoch der Biofilm-Ansatz, der für die größte Überraschung sorgte. In ihm bildete C. ljungdahlii nämlich nicht nur das für acetogene Bakterien typische Acetat, sondern völlig unerwartet auch die beiden Stickstoffverbindungen Glycin und Ethanolamin. „Bei der Arbeit mit acetogenen Bakterien wie C. ljungdahli sind wir im Produktspektrum klar limitiert“, sagt Rosenbaum und ergänzt: „Acetat ist zwar eine wichtige Chemikalie, aber als Massenprodukt muss sie billig produziert werden. Mit MES können wir das nicht. Von daher ist Acetat für uns nicht das ideale Produkt.“

Die Freude über die beiden Stickstoffverbindungen war deshalb groß. Da Glycin und Ethanolamin im Gegensatz zu Acetat nur schwerlich chemisch synthetisiert werden können, darf ihre biotechnologische Herstellung mehr kosten. Doch über welche Stoffwechselwege stellt C. ljungdahlii die Stickstoffverbindungen her? Und wie lassen sich die Substratflüsse zugunsten höherer Effizienz verschieben? „Beide neuen Produkte sind ein Resultat von physiologischem Stress“, vermutet Rosenbaum. „Offensichtlich liegen beim Wachstum im Biofilm mehr Redoxäquivalente vor als verbraucht werden. Als Konsequenz beschreiten die Bakterien wohl Stoffwechselwege, die sonst keine Rolle spielen.“

Vom Labor in die Produktion

Ein neu eingereichter Projektantrag soll es nun ermöglichen, die Bildung der Stickstoffverbindungen genauer zu untersuchen und hoffentlich biotechnologisch nutzbar zu machen. Ein Vorteil dabei sei, dass C. ljungdahlii bereits industriell verwendet wird, sagt Rosenbaum. „In der Grundlagenforschung wollen wir zuerst prüfen, wie wir den Stoffwechsel von C. ljungdahlii verschieben können, um neue Produktgruppen zugänglich zu machen. Im nächsten Schritt wollen wir deren Produktion hochskalieren“, blickt die Studienleiterin in die Zukunft. Dem steht allerdings noch ein Hindernis im Weg. Derzeit finden alle Versuche mit C. ljungdahlii im Labormaßstab in einer sogenannten H-Zelle mit zwei abgetrennten Kammern statt. Der Grund: Bei der Elektrolyse entsteht an der Anode Sauerstoff, der die Bakterien töten würde. Deshalb werden Kathode und Anode räumlich getrennt und die Bakterien nur in die Kammer mit der Wasserstoff produzierenden Kathode gegeben. „Doch die H-Zelle lässt sich nicht hochskalieren“, bedauert Rosenbaum. „Wir wollen deshalb hin zu skalierbaren Rührkesselfermentern.“

An der Optimierung der Reaktoren und Elektroden ist Falk Harnisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig beteiligt, der auch Co-Autor der aktuellen Studie ist. Rosenbaum und er kennen sich aus der Promotionszeit, nach der sich Harnisch auf die Elektrokatalyse spezialisierte. Als Boto und Rosenbaum feststellten, dass an ihrer Kathode auf abiotische Weise Ameisensäure entstand – was thermodynamisch unter den gewählten Bedingungen eigentlich unmöglich ist –, konnte Harnisch direkt helfen. Seine Analyse in Leipzig ergab: Aus Salzen des Nährmediums entstehen an der Elektrode Verbindungen, die die Ameisensäurebildung katalysieren. „Da die Acetatbildung über Ameisensäure läuft, nimmt dieser abiotische Vorgang unseren Bakterien Arbeit ab. Sie sparen also Energie“, freut sich Rosenbaum. Allerdings müsse man im Kopf behalten, dass Teile des Nährmediums dadurch verbraucht werden und den Bakterien fehlen könnten. „Für uns ist es spannend zu sehen, wie wir die Ausbeute steigern können, wenn wir die Biologie in die Systementwicklung einbeziehen“, fassen Boto und Rosenbaum zusammen. „Wir schauen uns an, was die Bakterien brauchen und designen auf dieser Grundlage Reaktoren.“ Vielleicht kann C. ljungdahlii so schon bald mithelfen, dem Klimawandel entgegenzuwirken.