Editorial

Totipotent durch Schneckentempo

Karin Hollricher


(07.10.2022) MÜNCHEN: Die Geschwindigkeit der Replikation steuert embryonale Totipotenz. Das fanden Forschende vom Helmholtz-Zentrum München heraus.

Multizelluläre Organismen entwickeln sich aus einer einzigen Zelle, der Zygote. Sie ist totipotent, was – strikt ausgelegt – bedeutet, dass sich daraus ein vollständiger Organismus entwickeln kann. Zelluläre Totipotenz wurde 1902 erstmals vom deutschen Pflanzenphysiologen Gottlieb Haberlandt postuliert. Er hatte beobachtet, dass sich Pflanzen in hohem Maße aus Gewebestücken regenerieren können. Bei Wirbeltieren können das nur die Zellen des ganz jungen Embryos. Das zeigten Hans Spemann und seine Kollegin Hilde Mangold Anfang des 20. Jahrhunderts: Sie vereinzelten die zwei Zellen sehr junger Blastomere von Amphibien, woraus sich jeweils zwei Tiere entwickelten. Während Mangold und Spemann die Teilung künstlich herbeiführten, kann dies auch auf natürliche Weise passieren: So entstehen eineiige Zwillinge.

Bei Mäusen ist diese Regenerationsfähigkeit auf die einzellige Zygote und das Zweizellstadium des Embryos beschränkt, also auf die Phase nach der ersten Teilung der befruchteten Eizelle. Mit jedem weiteren Entwicklungsstadium des Embryos verringert sich diese Eigenschaft. So sind embryonale Stammzellen „nur noch” pluripotent: Sie können sich zwar noch zu verschiedenen Zelltypen differenzieren, aber keinen vollständigen Organismus mehr bilden. Denn nur totipotente Zellen haben die Fähigkeit, das extraembryonale Gewebe zu bilden, welches für die Einnistung des Embryos in der Gebärmutter benötigt wird.

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Wird die Geschwindigkeit der Replikationsgabel gedrosselt, entstehen in vitro vermehrt Zellen mit molekularen Eigenschaften ähnlich totipotenter Zellen des embryonalen Zweizellstadiums. Illustr.: Adobe Stock/ktsdesign

Virale Überbleibsel

Obwohl man Totipotenz schon lange kennt, ist bis heute unklar, welche biologischen Vorgänge in der Zelle dafür verantwortlich sind. Um dies zu untersuchen, näherten sich Forschende des Instituts für Epigenetik und Stammzellen am Helmholtz-Zentrum München mit Unterstützung einiger Kollegen im In- und Ausland quasi von hinten an – also von der Pluripotenz aus. Sie identifizierten Ereignisse, die für die Erhaltung von Totipotenz essenziell sind. Ihre Studien führten sie mit Mauszellen durch.

Pluripotente Stammzellen des Mäuseembryos lassen sich in vitro unter geeigneten Bedingungen kultivieren. Dabei entstehen immer wieder, wenn auch selten, spontan Zellen mit molekularen Eigenschaften ähnlich der Zellen des embryonalen Zweizellstadiums. Man bezeichnet sie daher als 2CLCs (2-Cell-like Cells). Sie transkribieren beispielsweise wie totipotente Mauszellen Sequenzen namens MERVL (Murine Endogenous Retrovirus with a Leucine tRNA Primer Binding Site). Dies sind die Hinterlassenschaften von Retroviren, die sich vor langer Zeit in die Genome der Mausvorfahren einschmuggeln konnten. Im Laufe der Jahrmillionen übernahmen sie neue Aufgaben und können heute als Promotoren von Genen fungieren, die im embryonalen Zweizellstadium aktiv sind.

Außerdem besitzen 2CLCs auch eine offenere Chromatinstruktur und höhere Histonmobilität. Das sind beides Merkmale, die auch im Zweizellstadium des Mausembryos zu finden sind. Interessanterweise ähnelt auch ihre Chromatin-Organisation – also die räumliche Verteilung des Chromatins im Zellkern – derjenigen von totipotenten Stammzellen und unterscheidet sich stark von der Organisation pluripotenter Stammzellen. Das schaute sich das Team um Institutsleiterin Maria-Elena Torres-Padilla genauer an. „Wir stellten fest, dass der Anteil an 2CLCs in embryonalen Stammzellkulturen steigt, wenn wir die Aktivität von CAF-1 senken“, verrät sie. CAF-1 steht für Chromatin Assembly Factor 1. Er sorgt dafür, dass die Chromatin-Landschaft einer Zelle nach der Replikation wieder aufgebaut wird. Beschränkt man die CAF-1-Funktion in embryonalen Stammzellen oder schaltet sie ganz aus, wandeln sie sich in 2CLCs um (Nat. Struct. Mol. Biol. 22: 662-71). Aber wie lässt sich das erklären?

CAF-1 ist vor allem wichtig für die Aufrechterhaltung der Chromatinstruktur nach der Replikation, indem es die Histontetramere, bestehend aus jeweils zwei H3- und H4-Histonen, an die beiden neu synthetisierten DNA-Tochterstränge anlagert. Wenn nun weniger CAF-1 in der Zelle vorhanden ist, werden weniger Histontetramere eingebaut. Folglich lockert sich die Chromatinstruktur in der Zelle auf. Reduziert man die CAF-1-Aktivität in pluripotenten Mäusestammzellen, wird die Chromatinstruktur so umprogrammiert, dass sie dem des Zweizellstadiums ähnelt und 2CLCs entstehen können. „Aufgrund dieser Ergebnisse haben wir uns gefragt, welche Rolle die Replikation selbst bei dem Erwerb der Totipotenz spielt und ob eine Störung der Replikation auch zur Entstehung von 2CLCs führen kann”, führt Torres-Padilla weiter aus. Also beschäftigte sich das Forschungsteam um den Postdoc Tsunetoshi Nakatani mit der Analyse der DNA-Replikation im Mausembryo (Nat. Genetics 54: 318-27).

Je langsamer, desto totipotenter

Die Annahme sollte sich als korrekt herausstellen. Die Forschenden nahmen die DNA-Replikation in 2CLCs und embryonalen Stammzellen unter die Lupe und stellten fest, dass die Replikationsgabeln in den Zellen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten arbeiten. Bei kultivierten embryonalen Stammzellen lag sie bei 1,34 kB pro Minute, in 2CLCs bei nur 0,56 kB. Im Zweizellstadium junger Mausembryonen – also in vivo – waren die Replikationsgabeln mit nur 0,3 kB pro Minute im Schneckentempo unterwegs. Mit höheren Entwicklungsstadien nahm die Replikation dann langsam an Fahrt auf.

Wenn die Forschenden die Geschwindigkeit der Gabeln in den Stammzellen entweder genetisch oder chemisch reduzierten, fanden sie in ihren Kulturschalen bis zu 20-mal mehr 2CLCs als ohne solche Eingriffe.

Die Geschwindigkeit der Replikationsgabeln hatte übrigens keinen Einfluss auf die Dauer der S-Phasen. Kurz zur Erinnerung: Die S-Phase ist eine der vier Phasen des Zellzykluses. In ihr dupliziert die Zelle ihr Erbgut, um es anschließend im Zuge der Mitose auf zwei Tochterzellen zu verteilen. In In-vitro-Experimenten der Münchener Forschenden waren die S-Phasen sowohl bei embryonalen Stammzellen als auch bei 2CLCs gleich lang. Das bedeutet, dass 2CLCs mehr Replikationsstartpunkte (Origins) nutzen müssen, um die geringe Geschwindigkeit der Replikationsgabeln zu kompensieren. Als der kritische Zeitpunkt für die Entscheidung „totipotent oder nicht” entpuppte sich die frühe S-Phase. Wenn Torres-Padilla und Co. zu diesem Zeitpunkt das Timing der Replikationsgabeln veränderten, hatte das einen deutlichen Einfluss auf das Schicksal der Zellen – jedoch nicht, wenn sie erst während der späten S-Phase eingriffen.

Aus früheren Untersuchungen war bekannt, dass die Replikation der DNA eng mit der Chromatin-Organisation im Zellkern verknüpft ist. „Wir wollten daher wissen, ob sich die Chromatinstruktur verändert, wenn man das Timing der Replikation ändert, und ob das dann zur Transkription von bestimmten DNA-Elementen führt, die eine Rolle für die Totipotenz spielen”, erzählt die Forscherin. Dazu muss man wissen, dass manche Gene nur während der frühen S-Phase transkribiert werden – bei Mäusen zum Beispiel die bereits erwähnten MERVL-Sequenzen. Da die Chromatin-Architektur die Transkription regelt, lässt sich über das Zeitprofil der MERVL-Transkription auf Änderungen im Chromatin schließen. Im Experiment stellte sich heraus, dass eine Verlangsamung der Replikation dazu führt, dass MERVLs früher transkribiert werden. Dies wurde von einer vermehrten Verwendung von Histonen des Typs H3.3 begleitet. Auch im Zweizellstadium fanden die Forschenden mehr H3.3 und MERVLs als in embryonalen Stammzellen. Also beeinflusst die Geschwindigkeit der Replikationsgabeln tatsächlich die Chromatinstruktur.

Das ist insofern spannend, weil dadurch der Multi-Molekül-Komplex, der für die Modifikationen an Histonen zuständig ist und hinter der Replikationsgabel her wandert, entscheiden muss, welche Histone er einbaut. Dieser Komplex verändert seine Zusammensetzung in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der S-Phase. Woher „weiß” er, wann die DNA um welche Moleküle gewickelt werden muss? Das ist noch völlig unbekannt.

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Obwohl man Totipotenz schon lange kennt, sind viele dafür verantwortliche zelluläre Vorgänge noch unbekannt – das möchte Maria-Elena Torres-Padilla mithilfe ihres Postdocs Tsunetoshi Nakatani und weiteren Teammitgliedern ändern. Fotos (2): Helmholtz Munich

Kommen wir nun zur entscheidenden Frage: Wenn MERVLs im Mausgenom als Promotoren fungieren und die zeitliche Steuerung ihrer Aktivität für das Phänomen Totipotenz offensichtlich wichtig, wenn nicht gar entscheidend ist – welche Gene steuern sie eigentlich? Torres-Padilla lacht und sagt: „Gute Frage, das wissen wir nicht. Aber wir kennen nun den Prozess und einige Mitspieler, die die Totipotenz regulieren. Somit können wir untersuchen, was passiert, wenn wir diese manipulieren.”

Das Schicksal der Zellen

Des Weiteren wollen die Forschenden untersuchen, ob die Geschwindigkeit der Replikationsgabeln auch in anderen Organismen in gleicher Weise über das Schicksal der Zellen bestimmt. Das ist zumindest auch bei induzierten pluripotenten Stammzellen von Mäusen der Fall: Je langsamer die DNA-Replikation vonstatten geht, desto eher nähert sich eine Zelle dem Zustand Totipotenz an. Darüber weiß man noch fast nichts. Es ist eine weiße Stelle auf der Landkarte der Entwicklungsbiologie, welche die Leiterin der multikulturellen Arbeitsgruppe am Stammzell-Institut in München sehr spannend findet, denn „da gibt es ganz viel zu erkunden und viel Neues zu entdecken.”