Editorial

Wenn Lärm tötet

Larissa Tetsch


(13.06.2022) HANNOVER: Dem einzigen Wal Deutschlands geht es schlecht. Grund dafür sind die vielen menschlichen Einflüsse in seinem Lebensraum. Wie gefährlich Lärm für den Schweinswal ist, hat nun die Obduktion von Tieren gezeigt, die die Sprengung von Weltkriegs-Minen in der Ostsee miterlebt haben.

Auch fast achtzig Jahre nach Kriegsende liegen noch geschätzt 800.000 Minen aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Boden der Ostsee. Dort sind sie eine potenzielle Gefahr für die Schifffahrt und den Bau von Windanlagen, Brücken, Tunneln oder Pipelines. Wenn sie nicht geborgen und an Land entschärft werden können, müssen sie deshalb kontrolliert gesprengt werden. Unter Wasser ungefährlich, sollte man meinen. Leider ist das ein Trugschluss. Bei den Explosionen entstehen nämlich starke Druckwellen, die sich im Wasser sogar deutlich schneller und über weitere Entfernungen ausbreiten als an Land. Und diese Druck- oder Schallwellen können Meerestiere – vor allem Fische und Meeressäuger – schwer verletzen oder sogar töten.

Besonders gefährdet ist der Gewöhnliche Schweinswal (Phocoena phocoena), der als einziger Wal Deutschlands in der Nord- und Ostsee lebt. Unterwasserexplosionen, aber auch ganz normaler Lärm, der durch Schiffsmotoren oder Bauarbeiten entsteht, machen ihm zu schaffen. Trotz des flächendeckenden Vorkommens macht sich Ursula Siebert, die als europäische Spezialistin für Wildtierpopulationen das Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover leitet, Sorgen um den Schweinswal in Deutschland. „In der Ostsee existieren zwei Populationen, eine in der Beltsee mit Schwerpunkt westlich von Rügen und eine in der zentralen Ostsee mit Schwerpunkt östlich Rügens“, erklärt Siebert. „Vor allem die Population in der zentralen Ostsee mit derzeit nur noch rund 500 Individuen ist stark bedroht.“ Hinzu käme, dass die Tiere immer früher sterben. „Sie erreichen deshalb oft gar nicht mehr das reproduktionsfähige Alter, sodass es an Nachwuchs fehlt.“

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Foto: Adobe Stock/Colette

Immer häufiger werden tote Schweinswale an den Küsten Schleswig-Holsteins angeschwemmt. Das ITAW untersucht diese Tiere, um möglichst die Todesursache ermitteln und so Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Population ziehen zu können. Dazu arbeitet es mit einem Strandungsnetz zusammen, das das Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein finanziert. „Wir haben seit 1990 ein sehr gutes Strandungsnetz in Schleswig-Holstein“, so Siebert. „Die toten Tiere werden eingesammelt und der Untersuchung bei uns zugeführt. Allerdings werden bei den Routineuntersuchungen Schädigungen am Gehör nicht standardmäßig erfasst. Da wir wissen, wie wichtig das Gehör für die Überlebensfähigkeit der Schweinswale ist, sollten wir das häufiger machen, um die Belastung der Population besser erfassen zu können.“

Obduktion von Todfunden

Genau hier setzt eine groß angelegte Studie an, deren Ergebnisse in diesem Jahr erschienen ist (Environment International 159: 107014). Dafür untersuchten Siebert und Co. 24 verendete Schweinswale ausgiebig, die Ende November 2019 entlang der Eckernförder, Kieler und Lübecker Bucht aufgefunden worden waren. „Der Anlass für die Studie war die kontrollierte Sprengung von 42 britischen Minen Ende August 2019 im und um das Naturschutzgebiet Fehmarn“, erzählt Siebert. Da nicht nur das Schutzgebiet der Wale betroffen war, sondern die Sprengungen zudem noch in ihre Reproduktionszeit fielen, wurde das Vorgehen auch von Naturschutzverbänden kritisch hinterfragt. „Die Aktion war nicht optimal koordiniert“, formuliert die ITAW-Leiterin vorsichtig. Offensichtlich waren zur entsprechenden Zeit NATO-Verbünde in der Ostsee unterwegs, die für die Sprengungen ausgerüstet waren und der Bundesregierung Amtshilfe geleistet haben. An die Wale hat dabei aber wohl keiner gedacht.

So traurig das ist, war es für das Forschungsteam um Siebert aber auch eine einmalige Gelegenheit zu überprüfen, welche Auswirkungen diese Sprengungen auf die Schweinswale in der Ostsee hatten. „Explosionen unter Wasser können Meeressäuger auf unterschiedliche Weise schädigen“, erklärt die Tierärztin. „Im Umkreis von vielen Kilometern können sie direkte Verletzungen verursachen, sogenannte Explosionstraumata, die wir an Blutungen, Rissen und Mikrofrakturen im Gewebe erkennen. In größerer Entfernung entstehen zwar keine direkten Verletzungen mehr, aber das Gehör kann trotzdem beeinträchtigt werden, etwa durch eine Verschiebung der Knöchelchen im Mittelohr.“

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Ursula Siebert. Foto: Martin Bühler

Wale orientieren sich in ihrer Umgebung dank ihres guten Gehörs; wie Fledermäuse nutzen sie dazu das Prinzip der Echoortung. „Für Zahnwale wie den Schweinswal ist die Echoortung überlebenswichtig, weil sie damit ihre Beute aufspüren“, weiß die Wildtierspezialistin. Mithilfe eines bestimmten Organs, das den menschlichen Stimmlippen ähnelt, produzieren Schweinswale hochfrequente Klicklaute. Diese Ultraschallwellen werden in der Melone – einem Organ aus verschiedenen Fettgewebsschichten hinter der Stirn der Wale – gebündelt und ins Wasser abgegeben, wo sie sich mit hoher Geschwindigkeit ausbreiten. Treffen die Schallwellen auf ein Hindernis, werden sie als Echo zurückgeworfen. Der Wal nimmt die zurückgeworfenen Schallwellen über Fettgewebe im Unterkiefer auf, leitet sie ans Innenohr weiter und kann daraus eine Karte seiner Umgebung berechnen.

Tod durch Explosionstrauma

Bei den Untersuchungen der 24 Wale – darunter drei Neugeborene, fünfzehn Jungtiere und nur sechs erwachsene Tiere – standen deshalb Untersuchungen des Hörapparates der Tiere im Vordergrund. Dazu gehört neben den Knochen des Mittel- und Innenohres insbesondere das akustische Fett in der Melone, im Unterkiefer und um die Ohrknochen herum. Zusätzlich wurden die Tiere auch auf Infektionserreger und andere Erkrankungsursachen untersucht, die den Tod verursacht oder das Tier zumindest geschwächt haben könnten. Um auch kleinste Schäden an den Gehörknöchelchen aufspüren zu können, schaltete sich das Institut für Osteologie und Biomechanik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf ein und übernahm die Analyse mittels Computertomographie.

Die Obduktionsergebnisse ergaben tatsächlich für zehn der toten Tiere deutliche Hinweise darauf, dass ihr Tod zumindest indirekt durch die Sprengungen verursacht wurde. „Bei Explosionstraumata gibt es charakteristische Veränderungen am Mittelohr“, fasst Siebert zusammen. „Dazu gehören Risse, Mikrobrüche und manchmal auch Dislokationen von Mittelohrknochen. Außerdem finden sich Blutungen im akustischen Fett in der Melone und im Unterkiefer. Diese Verletzungen konnten wir bei mehreren Tieren nachweisen und vermuten deshalb, dass diese direkt an den Auswirkungen der Sprengungen gestorben sind.“

Einige der Tiere scheinen dagegen durch die Explosionen orientierungsloser geworden zu sein. So fand das Forschungsteam bei einem Individuum ein stumpfes Trauma, also eine großflächige Prellung, die darauf hindeutet, dass das Tier von einem Schiff überfahren worden sein könnte. Ein anderes Tier zeigte Spuren eines Fischereinetzes. „Beides könnte bedeuten, dass die Tiere durch die Explosionen in ihrer Orientierung eingeschränkt waren“, so Siebert. Genau an diesem Punkt steht die Forschung laut der ITAW-Leiterin noch vor vielen offenen Fragen: An welchen Verletzungen versterben die Tiere direkt und mit welchen überleben sie noch eine Weile – verstört und weitgehend orientierungslos? Zeigen Tiere, die keine offensichtlichen morphologischen Veränderungen haben, trotzdem Stresssymptome oder andere Verhaltensänderungen? Und vielleicht die wichtigste Frage: Können Wale überhaupt dadurch gerettet werden, dass man die Netzfischerei verändert, oder sind Tiere, die ins Netz gehen, aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit sowieso schon dem Untergang geweiht?

Schutzmaßnahmen koordinieren

Aufgrund der immensen Anzahl an Minen in Nord- und Ostsee ist abzusehen, dass es zukünftig immer wieder Sprengungen geben wird. Die Wale dabei zu schützen, ist schwierig. Am besten wäre natürlich eine Bergung der Munition. Aber vor allem wenn irgendwo eine neue Schifffahrtlinie aufgenommen oder gebaut wird, fehlt dafür meistens die Zeit, wie Siebert aus Erfahrung weiß. Bei kontrollierten Sprengungen unter Wasser könne man Blasenschleier einsetzen, die die Schallwellen abfangen und so ihre Ausbreitung reduzieren. „Bei der großen Sprenglast von Minen ist ihre Wirksamkeit aber begrenzt“, bedauert die Tierärztin. Viel gewonnen wäre bereits, wenn die Kommunikation zwischen Behörden, Forschungsgruppen, Militär und Naturschützern verbessert würde. „Zumindest innerhalb von Schutzgebieten und in sensiblen Zeiträumen sollen Sprengungen damit vermieden werden können“, hofft Siebert. Aber immer wenn wirtschaftliche Interessen ins Spiel kommen, wird Natur- und Artenschutz schwieriger. „Problematisch ist auch, dass Tiere an Grenzen nicht Halt machen“, fügt Siebert hinzu. „Ihr Schutz muss deshalb nationenübergreifend gemanagt werden.“ Es gibt also noch viel zu tun, bevor es dem Schweinswal in Deutschlands Meeren wieder besser gehen kann.