Editorial

Medikamente mit Gewicht

Larissa Tetsch


(10.03.2022) BONN: Wenn man den Abbau von Arzneimitteln im Körper bremst, würde weniger davon für den gewünschten therapeutischen Effekt ausreichen. Durch den passgenauen Einbau von „schwerem“ Wasserstoff lässt sich dieses Ziel erreichen.

Die meisten chemischen Verbindungen, die als Medikamente oder Drogen in unseren Körper gelangen, werden in der Leber von Cytochrom-P450-Enzymen wieder abgebaut. Was einerseits verhindert, dass sich schädliche Substanzen im Körper anreichern, kann andererseits die Wirksamkeit von Medikamenten herabsetzen. In diesem Fall müssen höhere Wirkstoffdosen eingesetzt werden, um einen therapeutischen Effekt zu erzielen. Ein Verfahren, Wirkstoffe so zu verändern, dass sie langsamer abgebaut werden, haben Chemiker um Andreas Gansäuer vom Kekulé-Institut für Organische Chemie und Biochemie der Universität Bonn etabliert (Angew. Chem. Int. Ed., doi: 10.1002/anie.202114198).

Im Vordergrund stehen dabei Wasserstoffatome, beziehungsweise bestimmte H-C-Bindungen, an denen die Cytochrom-P450-Enzyme bevorzugt angreifen. „Durch einen Austausch dieser H-Atome kann man den Abbau bremsen“, erklärt Gansäuer. „Man kann sie beispielsweise durch Fluor ersetzen (Isosterie). Allerdings kann das die Eigenschaften der Verbindungen ziemlich stark verändern. Ein minimalinvasiver Eingriff ist dagegen der Austausch bestimmter H-Atome gegen Deuterium.“ Das Isotop von Wasserstoff ist für Biologen eher exotisch, denn in der belebten Umwelt spielt es keine Rolle – schon allein deshalb, weil es so selten ist, wie Gansäuer weiß: „Ungefähr 0,015 Prozent der Wasserstoffatome sind Deuteriumatome.“

Neutronen machen träge

Erinnern wir uns kurz an unser chemisches Grundwissen: Isotope eines Elements unterscheiden sich in der Anzahl ihrer Neutronen. Ihre Ordnungszahl ist dieselbe und sie gehen auch die gleichen chemischen Reaktionen ein. Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt dagegen von der Masse ab, die bei Isotopen unterschiedlich ist. Manche Isotope sind außerdem instabil, wandeln sich also mit der Zeit in ein anderes Element um.

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Während die roten Wassereiswürfel ganz normal oben schwimmen, sinken die grünen Würfel aus gefrorenem schweren Wasser ab. Fotos (2): Volker Lannert/Uni Bonn

Wasserstoffatome kommen normalerweise als Protium („leichter“ Wasserstoff) vor, das aus lediglich einem Proton und einem Elektron besteht. Kommt ein Neutron hinzu, handelt es sich um den „schweren“ Wasserstoff Deuterium. Ein weiteres Neutron macht daraus das radioaktive „überschwere“ Tritium. Chemiker nutzen Deuterium gerne als Sonde, um chemische und enzymatische Reaktionswege aufzuklären. „Wenn man in einer chemischen Verbindung ein H-Atom durch ein D-Atom ersetzt, lässt sich der Weg dieses Atoms bei chemischen Reaktionen genau verfolgen“, erklärt Gansäuer. „Manchmal sind bei einer Reaktion deutlich mehr H-Atome beteiligt, als man von der Reaktionsgleichung her erwarten würde.“ Weiterhin können deuterierte Verbindungen bei analytischen Methoden wie der Massenspektrometrie als Standard dienen.

Bei den sehr leichten Wasserstoffatomen ist im Vergleich zu anderen Elementen der Masseunterschied zwischen den Isotopen prozentual sehr groß. Dadurch laufen Reaktionen an deuterierten C-Atomen langsamer ab, als wenn ein Protium gebunden wäre – die C-D-Bindung ist also langlebiger als eine C-H-Bindung. Für eine biochemische Reaktion, die zum Beispiel durch Enzyme katalysiert wird, bedeutet das, dass die Aktivierungsenergie erhöht ist. Diesen sogenannten Isotopeneffekt nutzen die Bonner Chemiker aus, um den Abbau von Verbindungen zu bremsen. Denn auch Cytochrom-P450-Enzyme benötigen länger, um die stabilere C-D-Bindung zu knacken. „Der Stabilitätsunterschied zwischen den beiden Bindungen beträgt ungefähr ein Prozent“, weiß Gansäuer. „Da die Stabilität der Bindung exponentiell über die Aktivierungsenergie in die Reaktionsgeschwindigkeit eingeht, kann bereits eine kleine Veränderung zu einem deutlich langsameren Abbau führen. Dabei verändert das eingebaute Deuterium die Eigenschaften der Verbindung ansonsten nicht, was ein großer Vorteil gegenüber dem Austausch durch Fluor ist.“

Wie aber kommt Deuterium ins Molekül? Grundsätzlich wäre es zwar möglich, Synthesen in „schwerem“ Wasser durchzuführen, sodass am Ende in den Verbindungen nur Deuterium verbaut ist. Allerdings ist das wenig praktikabel, denn Deuterium ist nicht nur selten, sondern auch teuer. „Wir wollen deshalb möglichst gezielt einzelne Wasserstoffatome austauschen“, sagt der Chemiker und beschreibt, dass sein Team sich dabei am Abbaumechanismus der Cytochrom-P450-Enzyme orientiert hat. Letztere fügen nämlich an bestimmten C-Atomen OH-Gruppen ein, wodurch die Verbindungen hydrophiler werden und daraufhin leichter ausgeschieden werden können. Diese Hydroxylierungsstellen sind geeignete Ziele für eine Deuterierung.

Reaktive Dreiecksverbindung

Im Zentrum des in Bonn entwickelten Verfahrens steht eine besondere Verbindungsklasse – die Epoxide. Dabei handelt es sich um zyklische, organische Verbindungen, die sehr reaktionsfreudig sind. Die einfachste Darstellung eines Epoxids kann man sich als ein Dreieck vorstellen, in dem zwei Kohlenstoffatome und ein Sauerstoffatom die Ecken bilden. Die restlichen Bindungsstellen des Kohlenstoffs sind mit Wasserstoffatomen besetzt. Diese Dreierringe stehen unter einer großen Spannung und lassen sich deshalb leicht öffnen. Gansäuers Team benutzt sie aus diesem Grund als Akzeptoren für die Deuteriumatome.

Die zweite Komponente ist ein Katalysator, der die Übertragung des Deuteriums vermittelt, denn: „Fast alle Deuterierungsreaktionen in organischen Synthesen brauchen einen Katalysator, damit sie ablaufen können.“ Allerdings sind auch viele Katalysatoren teuer, weil sie Edelmetalle enthalten. Hier haben die Chemiker zum Glück ebenfalls ein günstiges Metall als Alternative gefunden, welches sogar so preiswert ist, dass es in handelsüblicher Wandfarbe als Weißmacher eingesetzt wird. „Statt Edelmetallen setzen wir bei unserem Katalysator auf Titan“, so Gansäuer.

Zuletzt fehlt noch die Deuterium-Quelle. Hierfür kommen Silane zum Einsatz. Das sind anorganische Verbindungen mit einem Siliziumatom, das statt Protium Deuterium gebunden hat. „Unsere Deuterosilane sind zu 98 Prozent mit Deuterium gesättigt“, sagt der Chemiker. „Das reicht für unsere Zwecke und ist noch bezahlbar. Im Endprodukt ist dann das gewünschte H-Atom zu mindestens 97 Prozent durch ein D-Atom ersetzt. Da kann man von einem vollständigen Einbau sprechen.“ Den Reaktionsablauf kann man sich vereinfacht folgendermaßen vorstellen: Wenn die Epoxide geöffnet werden, liegen zwei freie Enden vor. Eines davon trägt eine OH-Gruppe, an die das Titan aus dem Katalysator binden kann. Auf das andere freie Ende wird durch die Deuterosilane das Deuterium übertragen.

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Das Team um Andreas Gansäuer (Zweiter von rechts) schaut ganz gespannt, wie sich schwerer Wasserstoff verhält – nicht nur in Eiswürfeln, sondern auch in Wirkstoffen.

In den Startlöchern

Natürlich war das Ziel des Forschungsteams nicht, ein einfaches Epoxid zu deuterieren. Stattdessen sollte der Austausch in pharmazeutisch interessanten Verbindungen erfolgen. Gansäuers Gruppe hat deshalb die Epoxide in Moleküle eingebracht, die als Ausgangsstufe für die Synthese verschiedener medizinischer Wirkstoffe dienen können. Neben der hohen Einbaurate des Deuteriums von mindestens 97 Prozent sind die Chemiker stolz auf die hohe Selektivität ihrer Reaktion. „Zum einen ist der Prozess selektiv in Bezug darauf, an welchem Atom deuteriert wird, zum anderen darauf, welches Stereoisomer entsteht“, freut sich Gansäuer. Stereoisomere sind Moleküle mit ähnlicher Struktur, bei denen sich aber die räumliche Anordnung der Atome unterscheidet.

Eine in der Biologie bedeutsame Untergruppe von Stereoisomeren sind die Enantiomere, die sich wie Bild und Spiegelbild zueinander verhalten, und deshalb auch als Spiegelbildisomere bezeichnet werden. Bei Biomolekülen dominiert meist eine der beiden Formen. So werden in Proteinen von speziellen Ausnahmen abgesehen nur L-Aminosäuren eingebaut. Bei den Zuckern dominiert dagegen die D-Form. Enzyme, die aus L-Aminosäuren aufgebaut sind, können oft nur ein Enantiomer umsetzen oder haben zumindest eine große Präferenz dafür.

Medizinische Wirkstoffe müssen deshalb die „richtige“ Chiralität aufweisen, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Das falsche Enantiomer hat bestenfalls keine, schlimmstenfalls sogar eine schädliche Wirkung, wie der Contergan-Skandal eindrücklich gezeigt hat. Während eines der beiden Enantiomere die erwünschte Wirkung als Schlafmittel aufwies, war das andere Enantiomer fruchtschädigend. Da bei chemischen Synthesen meist beide Enantiomere im gleichen Verhältnis entstehen, muss das jeweils unerwünschte durch aufwendige und teure Reinigungsverfahren entfernt werden. „Dass unsere Deuterierung stereoselektiv verläuft, ist deshalb ein großer Vorteil“, ist Gansäuer überzeugt.

Mit ihrer Methode haben die Bonner deuterierte Vorstufen des Schmerzmittels Ibuprofen und des Antidepressivums Venlafaxin hergestellt. Diese enthalten Strukturelemente, die in vielen Medikamenten vorkommen, wie Gansäuer erklärt: „Die Methode ist nun anwendungsbereit für die Synthese verschiedenster Verbindungen und kann von uns hochskaliert werden.“ Selbst haben die Chemiker bisher nur kleine Wirkstoffmengen produziert – einfach weil die Synthese schnell teuer wird. „Aber wenn jemand auf uns zukommt, können wir auch ein Kilogramm herstellen.“

Das größte Interesse daran wird wohl die Pharmaindustrie haben, denn Wirkstoffe mit längerer Lebensdauer können niedriger dosiert und müssen zusätzlich seltener eingenommen werden. Aber auch andere Anwendungen sind denkbar – beispielsweise in der Analytik. Dort können deuterierte Verbindungen schon heute als interne Standards funktionieren.