Editorial

„Die Alzheimer-Forschung steckt in einer Zwangsjacke“ - Im Interview: Christian Behl, Mainz

Henrik Müller


(11.10.2023) Im Juli 2023 ließ die US-Arzneimittelbehörde FDA den Antikörper Lecanemab zu. Er wird als Durchbruch in der Therapie der Alzheimer-Demenz gefeiert. Christian Behl, Professor für Pathobiochemie an der Universitätsmedizin Mainz, widerspricht. Für ihn ist der aktuelle Hype nicht von der Datenlage gedeckt und lenkt vom eigentlichen Problem in der Erforschung von Alzheimer ab.

Laborjournal: Nach Jahrzehnten in der Alzheimer-Forschung haben Sie jetzt ein über 600-seitiges Buch geschrieben, das zu einem Paradigmenwechsel aufruft. Warum erachten Sie diesen als notwendig?

Christian Behl » Nötig wäre er schon früher gewesen. Und es gab ja auch schon andere Reviews und Überarbeitungen zum Thema, die alle die gleiche Frage stellten: Was ist aus all den klinischen Untersuchungen auf Basis der bereits in den 1990er-Jahren eingeführten Amyloid-Kaskaden-Hypothese geworden? Die Antwort: Sie waren erfolglos. Auch nach Jahrzehnten haben wir noch immer keinen überzeugenden klinischen Ansatz, um die Alzheimer-Erkrankung ursächlich zu behandeln – weil wir aus meiner Sicht ihre Ursachen gar nicht genau kennen. Mein Buch ist der Versuch, ein anderes Denken anzustoßen und andere Forschungsansätze und damit einen Paradigmenwechsel zuzulassen.

Symbolbild Alzheimerforschung, © Henrik Müller
Illustr.: Henrik Müller (Adobe Stock; nach Abb. 11.1 in doi.org/kvkv)

Laut Amyloid-Kaskaden-Hypothese stehen im Gehirn abgelagerte, fibrilläre Proteinaggregate am Anfang der Alzheimer-Pathologie. Solche Amyloid-Plaques gehören zu den charakteristischen Merkmalen der Erkrankung – nicht zuletzt infolge der hervorragenden Datenlage dazu. Dennoch übersieht die Hypothese irgendetwas?

Behl » Die Amyloid-Kaskaden-Hypothese war ohne Zweifel eine fantastische Arbeitshypothese, die auf umfangreichen Daten aus der Molekularbiologie, der Humangenetik und der Pathologie fußt. Auch ich selbst konnte ja einen Minimalbeitrag zu ihrer Entwicklung beitragen. Das Problem ist aber, dass ihre Dominanz das Forschungsfeld in eine Zwangsjacke gesteckt hat. Jede neue Entdeckung wurde immer nur in Richtung Interaktion mit Amyloid abgeklopft – aber nicht unabhängig betrachtet, was sie eigentlich bedeutet.

Foto: Christian Behl
Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Alzheimer Stiftung. Foto: Uni Mainz

So ist eines der Hauptargumente der Amyloid-Hypothese, dass Mutationen in den Genen für das Amyloid-Vorläufer-Protein (APP) sowie für Präsenilin 1 (PSEN1) und Präsenilin 2 (PSEN2), also den katalytischen Komponenten der γ-Sekretasen, die das Amyloid‑β-Peptid (Aβ) aus APP herausschneiden, zu einer frühen Krankheitsmanifestation zwischen dem 30. und 65. Lebensjahr führen. Das betrifft aber alles autosomal-dominant vererbte familiäre Formen – also nur wenige Prozent aller Alzheimer-Fälle. Meist tritt die Erkrankung jedoch altersassoziiert sporadisch auf und ist nicht auf solche Mutationen zurückzuführen. Alterung wurde aber lange aus der AlzheimerForschung ausgeblendet, weil die Genetik so überzeugend schien – obwohl das Alter der zentrale Risikofaktor der Erkrankung ist.

Familiäre Fälle wurden also mit sporadischen, altersassoziierten Fällen in einen Topf geworfen? Welchen Vorteil brachte das?

Behl » Na ja, ihre Krankheitsendzustände sehen ja auch ähnlich aus. Der Fehler war aber, zu schlussfolgern, beide müssten dann auch die gleichen Ursachen haben. Und das ist aus unterschiedlichen Gründen passiert, nicht zuletzt, um Aufmerksamkeit und somit Forschungsgelder für diese Erkrankungen zu generieren. Seltene genetische Erkrankungen werden nie adäquat finanziert. Bei einer Volkskrankheit hingegen besteht die Bereitschaft, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Indem man für beide Krankheitsformen die gleiche Ursache propagiert hat, landete die Forschung in dieser „Amyloid-Zwangsjacke“.

Was aber nicht ausschließt, dass neurotoxische Aβ-Peptide nicht doch Alzheimer auslösen, oder?

Behl » Ja, möglicherweise in den wenigen Prozent familiärer Alzheimer-Fälle. Allerdings ergaben jahrelange Infusionen von Aβ-Antikörpern zur Entfernung des Aβ keine klinische Besserung. Das Amyloid war zwar weitestgehend entfernt, das Einsetzen der Erkrankung wurde aber nicht verhindert.

Wenn Amyloide und Demenz nicht korrelieren, warum wird die Amyloid-Hypothese dann noch immer favorisiert, um die Krankheitsentstehung zu erklären?

Behl » Für bestimmte Formen der Alzheimer-Erkrankung könnte Amyloid möglicherweise eine Rolle spielen im Krankheitsverlauf. Aber meiner Meinung nach ist es nicht der initiale Trigger der Erkrankung, sondern eine Begleiterscheinung. Mir geht es darum, dass wir den Forschungsblick erweitern und andere pathogenetische Konzepte zulassen, um Alzheimer in seiner Gesamtheit zu verstehen. Das ist bisher nicht ausreichend passiert, weil der Forschungsschwerpunkt seit gut 30 Jahren vor allem auf der Amyloid-Kaskaden-Hypothese lag – auf Kosten anderer Krankheitsthesen. Das Wort „Amyloid“ machte Fördergelder verfügbar und es war immer leichter, eine Arbeit zu publizieren, die mit der Amyloid-These konform ging, als eine disruptive, widersprechende Datenlage zu präsentieren. Doch wenn sich eine Arbeitshypothese als unzureichend herausstellt, eben weil sie nach Jahrzehnten nicht zu einer überzeugenden Therapie geführt hat, sollte man dann die Grundannahmen dieser These nicht doch überdenken?

Die kognitiven Fähigkeiten von Alzheimer-Betroffenen, die regelmäßige Injektionen der IgG1-Antikörper Lecanemab beziehungsweise Donanemab erhielten, verschlechterten sich nach 18 Monaten um 27 beziehungsweise 35 Prozent weniger als bei Placebo-Kontrollen. Beide Antikörper verlangsamen also das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit. Das mag eine bescheidene Veränderung der klinischen Parameter sein. Doch die US-Arzneimittelbehörde FDA hat Lecanemab im Juli 2023 zugelassen. Die Zulassung von Donanemab ist beantragt. Zeugt all das nicht vom Erfolg der Amyloid-These?

Behl » Diese Denkweise empfinde ich als eines der zentralen Probleme in der Alzheimer-Diskussion. Weil ein Medikament erste minimale klinische Erfolge erbringt, muss die Hypothese dann richtig sein? Damit habe ich mehrere Probleme: Zum einen die Frage, wie diese Antikörper überhaupt ins Gehirn gelangen? Die Blut-Hirn-Schranke verhindert das normalerweise. Dies ist bisher nicht überzeugend geklärt. Aber nehmen wir mal an, es funktioniert: Die Originalpublikationen vergleichen die Antikörper nun mit einem Placeboansatz und zeigen eine moderate Abschwächung des kognitiven Verlustes. Doch was bekam die Placebo-Gruppe eigentlich verabreicht? Auf Nachfrage schrieb mir der Erstautor der Donanemab-Studie: Saline. Eine Salzlösung soll also die adäquate Kontrolle für eine Antikörperlösung sein?

Eine Injektionslösung mit einem anderen Protein wäre sicher angemessener …

Behl » Genau. Wollen Sie beispielsweise ein kleines Molekül wie Aspirin klinisch testen, lösen Sie es in Salz und die Placebogruppe bekommt dann eben nur die Salzlösung. Das ist adäquat. Verabreichen Sie aber einen angeblich spezifisch wirkenden Antikörper, wäre nur ein unspezifischer Antikörper die adäquate Kontrolle.

Sie argumentieren also, dass bereits ein unspezifischer Antikörper die Placebokurve verschiebt?

Behl » Das wäre meine Hypothese. Mit jeder Infusion eines Proteins ruft man logischerweise eine aktivierende Immunreaktion hervor. Ich könnte mir vorstellen, dass die moderaten Effekte von Lecanemab und Donanemab und zuvor die des mittlerweile nicht mehr weiter verfolgten Aducanumab allein auf dieser Proteininfusion beruhen. Und dafür sollen Alzheimer-Betroffene dann die Gefahr massiver Nebenwirkungen in Kauf nehmen? Ein großer Prozentsatz der Teilnehmenden der Donanemab-Phase-3-Studie brach wegen unerträglicher Übelkeit ab. Ein Viertel litt an besorgniserregenden Nebenwirkungen wie Hirnödemen. Drei Studienteilnehmende verstarben sogar an Hirnschwellungen oder -blutungen.

Lecanemab hingegen zeigte null Effekte in Patientinnen. Das ist besonders bedeutsam, da Frauen im Vergleich zu Männern ein doppelt so hohes Alzheimer-Risiko haben. Ebenfalls verlangsamt Lecanemab nicht den kognitiven Abbau bei Trägern des ApoE4-Allels, sondern verstärkt ihn sogar. Das ist eine extrem schlechte Nachricht für Alzheimer-Patienten, denn etwa zwei Drittel unter ihnen tragen mindestens ein ApoE4-Gen. Und diese Behandlungen mit ihren Minimaleffekten und deutlichen Nebenwirkungen werden jetzt zu einem Behandlungsdurchbruch bei einer Volkserkrankung aufgeblasen?

Nach 30 Jahren Amyloid-These ohne Therapie-Erfolge kommt so ein Hauch einer Hoffnung und soll plötzlich mal wieder der Beweis einer These sein – nachdem schon zuvor andere Antikörper und Sekretase-Inhibitoren als Durchbruch propagiert wurden, aber klinisch scheiterten? Das ist aus meiner Sicht ein Stück weit Augenwischerei. Manchmal scheint es, es geht im Feld weniger um das Aufdecken der genauen pathologischen Mechanismen als darum, weitere Forschung in genau diese eine Richtung zu rechtfertigen.

Foto: Buch von C. Behl
Im Juli 2023 erschien Behls Aufarbeitung von drei Jahrzehnten Alzheimer-Forschung. Über kritisches Feedback würde er sich sehr freuen.

Gibt es Menschen, die zwar unter einer Alzheimer-Demenz leiden, aber keine Amyloid-Plaques in ihrem Gehirn aufweisen?

Behl » Die klinische Definition der Erkrankung ist auf Amyloid ausgerichtet und schließt das somit aus. Andersherum haben laut Literatur aber übrigens 30 bis 40 Prozent der älteren Menschen auch ohne kognitive Einschränkungen amyloide Ablagerungen im Gehirn. Dem zugrunde liegt das zentrale Problem in der Demenz-Forschung: Das, was wir als klassisches Alzheimer definieren, ist extrem selten. Meist liegen Mischpathologien vor aus Alzheimer, frontotemporaler Demenz, Huntington, Parkinson und so weiter. In allen diesen Erkrankungen aggregieren irgendwelche Proteine und lagern sich ab. Also vorzugeben, es gäbe definierte Veränderungen, die ausschließlich Alzheimer charakterisieren, ist aus meiner Sicht eine Überinterpretation.

Die große Hürde ist also eine unzulängliche Differentialdiagnostik? Und dass ohne sie gar keine definierten Personengruppen für klinische Studien erschlossen werden können und klare Aussagen etwa zur Wirksamkeit von Anti-Amyloid-Antikörpern somit verwässern?

Behl » Nicht ganz. In die Antikörperstudien werden ja von vornherein nur Personen mit einer ausreichenden Menge bestimmter Amyloide im Gehirn eingeschlossen.

Aber: Amyloid könnte ja auch ein generelles biologisches Phänomen sein. Vielleicht ist es ja sogar Ausdruck eines Schutzmechanismus, den unsere Nervenzellen zeitlebens brauchen.

Wie meinen Sie das?

Behl » Alzheimer ist ausschließlich eine humane Erkrankung, die speziell die Gehirnregionen betrifft, die in der Evolution erst spät angelegt wurden, nämlich die sogenannten Assoziationskortizes. Erst diese Bereiche des Neokortex machen uns zu dem, was wir sind, denn sie vermitteln unsere höheren kognitiven Funktionen wie Sprache, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Handlungsplanung. Gleichzeitig sind diese phylogenetisch neuen Gehirnareale aber genau die, die am vulnerabelsten sind gegenüber degenerativen Prozessen. Alzheimer könnte sozusagen der Preis für unsere wesentlich bessere Gehirnausstattung sein.

Die Idee ist nun, dass Amyloide vielleicht Mikroben, fehlgefaltete Proteine oder neurotoxische Moleküle binden und so aus dem Gehirnstoffwechsel entfernen, das Nervensystem also schützen, dann aber irgendwo gelagert werden müssen, weil sie nur schwer zu degradieren sind. Bei manchen Menschen hat das dann langfristig negative Auswirkungen, weil sie eben so viel älter werden. Im 19. Jahrhundert, als die durchschnittliche Lebenserwartung noch unter 60 Jahren lag, war Alzheimer schließlich unbekannt. Der Trugschluss könnte also sein, Amyloid als das ursächliche Problem von Demenz-Erkrankungen zu definieren.

Welche alternativen Krankheitskonzepte existieren denn?

Behl » Es gibt eine Vielzahl von Krankheitsthesen, die versuchen, den degenerativen Prozess zu beschreiben: oxidativer Stress, eine mitochondriale Dysfunktion, die Störung endosomal-lysosomaler Degradationswege, vaskuläre Faktoren und Durchblutungsstörungen, die Rolle von Infektionen, ein veränderter Lipidstoffwechsel, Entzündungsprozesse im Gehirn, eine Aktivierung der Mikroglia und nicht zu vergessen Lifestyle-Faktoren. Viele dieser Erklärungsmodelle haben aber nicht in das Mainstream-Weltbild gepasst und sind im Rauschen der Amyloid-Euphorie wieder untergegangen.

Welche Krankheitsthese sehen Sie als am vielversprechendsten an?

Behl » Man sollte nicht den Fehler machen, nur eine dieser Thesen zu betrachten. Alle müssen erforscht, zusammengeführt und integriert betrachtet werden. Meine eigene Arbeitsgruppe bemüht sich stark darum, zu verstehen, wie sich etwa Autophagie und Proteinhomöostase im Laufe der Zellalterung ändern und mit neurodegenerativen Paradigmen im Einklang stehen. Beispielsweise arbeiten wir daran, wie das Tau-Protein über Autophagie abgebaut wird. Denn die frühesten Veränderungen bei Alzheimer-Patienten betreffen lysosomal-autophagische Abbauwege. Erst kürzlich hat die New Yorker Arbeitsgruppe von Ralph A. Nixon anhand verschiedener Mausmodelle und humaner Gehirnschnitte gezeigt, dass amyloide Plaques in defekten lysosomalen Kompartimenten innerhalb der Nervenzellen entstehen. Doch auch diese Forschung ist nur ein Teil des gesamten Puzzles; die Alzheimer-Pathogenese ist extrem vielfältig und komplex.

Wenn Amyloide also nur das Endresultat eines Schutzmechanismus sind und sich Alzheimer nicht damit beheben lässt, Amyloide zu unterbinden, wo sehen Sie das meiste Potential in der Medikamentenentwicklung?

Behl » Demenzen sind individuelle Erkrankungen, die von verschiedenen Prädispositionsfaktoren abhängen, die das Erkrankungsrisiko erhöhen. Haben Sie das Glück, über ein Genom ohne Risikogene zu verfügen, ist Ihr Gehirn im Alter vielleicht etwas weniger flexibel, aber es funktioniert ansonsten. Haben Sie hingegen von Geburt an bestimmte Prädispositionsfaktoren zum Beispiel im lysosomal-autophagischen Recyclingsystem Ihrer Nervenzellen, dann lagert Ihr Gehirn eher früher als später Amyloid ab, die ohne Zweifel Mikroglia aktivieren und Entzündungsprozesse in Gang setzen. Vielleicht lassen sich autophagische Wege also therapeutisch unterstützen. Allerdings möchte ich nicht, dass wir jetzt den gleichen Fehler wiederholen wie mit der Amyloid-These. Meiner Ansicht nach gibt es bei Alzheimer kein Allheilmittel! Alle genannten Krankheitsthesen haben ihre Berechtigung, da sie alle nur einen bestimmten Teil des pathologischen Gesamtprozesses betrachten. Man muss ihre Gesamtheit in ein Präventions-, Therapie- und Heilungskonzept integrieren.

Ein Alzheimer-Medikament wird also stets ein Cocktail für unterschiedliche Krankheitsaspekte sein?

Behl » Ja, ich bin überzeugt, dass solche Multi-Drug-Ansätze die Zukunft sind – auch wenn die Pharmaindustrie sie wahrscheinlich eher nicht favorisiert.

Den reduktionistischen, auf Amyloid fokussierten Ansatz um andere Krankheitsthesen zu erweitern, wird wahrscheinlich den wenigsten in der Alzheimer-Forschung gefallen …

Behl » Ja, aber es hilft doch alles nichts. „Keep it simple“ wird diesem Problem nicht gerecht. Wir müssen akzeptieren, dass Alzheimer extrem komplex und pathogenetisch immer eine individuelle Erkrankung ist. Es gibt nicht die eine Alzheimer-Demenz, sondern es ist eher ein Spektrum von Alzheimer-Syndromen, die wir zuerst einmal vernünftig kategorisieren müssen.

Alzheimer-Untergruppe 1 muss dann vielleicht zeitlebens Fettstoffwechsel-Medikamente und Entzündungshemmer nehmen; bei Untergruppe 2 spielt vielleicht Amyloid eine mitentscheidende Rolle und Betroffene müssen in einem bestimmten Altersfenster mit Anti-Amyloid-Antikörper-Infusionen beginnen, und so weiter. Ohne personalisierte Medizin wird das nicht gehen. Betroffenen heute aber zu sagen, wir hätten die eine Therapie für Alzheimer gefunden, deren Antikörper eine knapp 30-prozentige Reduktion des kognitiven Leistungsabfalls bringen, ist politisch höchst brisant – denn es stimmt so allgemein eben nicht.

Auf Basis welcher Biomarker ließe sich eine solche Kategorisierung realisieren?

Behl » Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Als Allererstes kommt mir das Apolipoprotein E (ApoE) in den Sinn. Es transportiert Triglyzeride, Cholesterin und fettlösliche Vitamine in der Lymphbahn und im Blut, ist seit 30 Jahren bekannt und gilt als der wichtigste genetische Risikofaktor für eine Alzheimer-Erkrankung. Mit zwei ApoE4-Allelen erhöht sich dessen Wahrscheinlichkeit um mehr als Faktor zehn. Ob Sie ApoE2, ApoE3 oder ApoE4 haben, bestimmt also die Richtung, in die sich Ihr Gehirn im Laufe des Lebens entwickelt. Neben ApoE gibt es noch Dutzende andere Faktoren – übrigens auch Ernährung und Lifestyle –, anhand derer sich die Vulnerabilität des Gehirns für degenerative Erkrankungen kategorisieren ließe. Und jetzt soll niemand behaupten, dass all das zu schwierig wäre. Mithilfe maschineller Lernverfahren haben wir sehr wohl die Möglichkeit, diese Komplexität zu erfassen – und vor allem alle Krankheitsthesen zu integrieren.

(Interview: 18.09.2023)