Editorial

WissenschaftLiches Fehlverhalten
Betrugsskandal oder Provinzposse?

Henrik Müller


(08.09.2023) Inwieweit fördern mutmaßlich manipulierte Abbildungen die eigene Karriere, wenn sie über Jahrzehnte unentdeckt bleiben? Eine Verdachtsberichterstattung aus Hannover.

Das Internet vergisst nicht – wovon natürlich auch wissenschaftliche Aufzeichnungen nicht ausgeschlossen sind. So wies Claire Francis Anfang Juni 2023 Laborjournal auf eine PubPeer-Diskussion potenzieller Bildmanipulationen in jahrzehntealten Publikationen einer Hannoveraner Wissenschaftlerin hin.

Hinter dem Pseudonym „Claire Francis“ verbirgt sich eine Tippgeberin oder ein Tippgeber oder eine Gruppe von Tippgebern, die seit 2010 unermüdlich auf mutmaßliche Plagiate und Manipulationsfälle aufmerksam macht. Einige ihrer Beanstandungen führten anschließend zu Korrekturen und Retraktionen veröffentlichter Manuskripte. Die Identität, das Geschlecht und der Beruf der Fälschungsanklägerin „Claire Francis“ sind unbekannt.

PubPeer ist eine US-amerikanische Website, die es ihren Nutzern im Sinne eines PostPublication-Peer-Review erlaubt, Unstimmigkeiten in Forschungsartikeln aufzudecken. Mehrfach führte das in der Vergangenheit zu Vorwürfen wissenschaftlichen Betrugs.

Beispielsweise bestätigte der US-Zellbiologe Shoukhrat Mitalipov nach einer PubPeer-Diskussion unbeabsichtigte Mängel in seiner 2013er-Publikation zu den ersten geklonten menschlichen Embryonen (Cell. doi.org/mkn). Auch beschrieben PubPeer-Kommentatoren Merkwürdigkeiten in 20 Studien der Bremer Diabetesforscherin Kathrin Mädler. Im Jahr 2016 zog die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) daraufhin ihre Heisenberg-Professur aufgrund wissenschaftlichen Fehlverhaltens zurück. Aber wohl gemerkt: Nicht alle Anschuldigungen auf PubPeer sind zutreffend.

Renate J. Scheibe
Renate J. Scheibe erforscht an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) den Skelettmuskel und seine Fasertypen. Foto: P. Trulley/MHH

Bei der Hannoveraner Wissenschaftlerin schließlich handelt es sich um Privatdozentin Renate J. Scheibe. Seit ihrer Dissertation 1988 erforscht sie mit ihrer Arbeitsgruppe am Zentrum Biochemie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Fragestellungen rund um den Skelettmuskel und seiner Fasertypen. Insgesamt trug sie zu 35 wissenschaftlichen Publikationen bei. Von 2008 bis 2020 förderte die DFG ihr Projekt zur „Funktionellen Analyse der Wirkungsmechanismen der fasertypspezifischen Genregulation im Skelettmuskel“ mit einer Sachbeihilfe.

Außerdem ist Scheibe für das Modul „Molekulare Signalregulation im Skelettmuskel und Herz“ des MHH-Masterstudiengangs Biochemie verantwortlich. Die Hochschule zeichnete die Blockkurse der AG Scheibe jedes Jahr zwischen 2017 und 2021 mit ersten und zweiten Plätzen als beste Wahlpflichtmodule der MHH aus. Eine Professur blieb der Privatdozentin bisher verwehrt.

Warum stehen gleich elf Publikationen der Hannoveraner Muskelphysiologin aus den Jahren 1996 bis 2013 auf PubPeers Prüfstand? Weil sich Auffälligkeiten in ihnen häufen: Mal erscheinen identische Banden in unterschiedlichen Northern Blots, Western Blots und Electrophoretic Mobility Shift Assays, mal findet sich das identische Hintergrundrauschen in unterschiedlichen Spuren von Immunoblots, mal sind diese aus mehreren Experimenten zusammenkopiert, mal scheinen Fluoreszenzmikroskopie-Bilder aus Bildabschnitten mehrerer Aufnahmen zusammengesetzt (Details in der Tabelle rechts). Auffällig dabei: Alle Bildanomalien erinnern an das Ergebnis von Kopier- und Klonpinseln gängiger Bildbearbeitungsprogramme.

Beispiel 1 für Auffälligkeiten
Laut Abbildung 5 in Scheibe et al., 2006 (doi.org/bbg258) zeigt die obere Reihe Kardiomyozyten von Wildtyp-Mäusen, die untere Reihe Kardiomyozyten von α-Carboanhydrase-XIV-Knockout-Mäusen. Nach Drehung und Spiegelung erscheinen Teile der Abbildungen identisch.



Beispiel 2 für Auffälligkeiten
Im Western Blot von Abbildung 5A in Meissner et al., 2011 (doi.org/fvhxt3) zeigt das Hintergrundrauschen an mehreren Stellen identische Muster. Sichtbar sind sie erst nach Kontrasterhöhung.

Natürlich verbieten die Autorenrichtlinien aller seriösen Fachzeitschriften jegliche Art von Flickschustereien. Stellvertretend erklärt das Journal of Biological Chemistry: „No specific feature within an image may be enhanced, obscured, moved, removed, or introduced. […] Any re-use of the same images in more than one panel or figure must be disclosed and justified. This applies equally to any protein, DNA, or RNA bands and/or microscopy image. […] Image manipulation to unfairly enhance or eliminate or otherwise obscure data, is misconduct and will be addressed as such.” Die Grenze zu ernsthaftem Fehlverhalten ist also klar gezogen.

Eine löchrige Verteidigung?

Wie reagierte Renate J. Scheibe auf die PubPeer-Nachfragen zu ihren Publikationen? Für sechs von 22 fraglichen Abbildungen präsentierte sie deren Originalaufnahmen. Teilweise überzeugten diese die Kommentatoren, teilweise warfen sie neue Fragen auf. Zu den restlichen 16 Abbildungen erklärte sie sich nicht. Auch gegenüber Laborjournal wollte sie sich nicht äußern.

An ihrer Stelle ergriff Gerolf Gros das Wort, der über 30 Jahre die Arbeitsgruppe Vegetative Physiologie an der Medizinischen Hochschule Hannover leitete. Insgesamt publizierten beide 18-mal gemeinsam. Auf PubPeer erklärte der seit 2008 emeritierte Professor, keine Abbildung sei manipuliert worden. Manche Fluoreszenzaufnahmen seien zwar ähnlich, aber nicht identisch. Schließlich würden höchst regelmäßige Muskelstrukturen abgebildet. Lehrbücher und Reviews seien reich an derartigen Ähnlichkeiten. Als die PubPeers ihn baten, Beispiele für sich wiederholende identische Merkmale in Veröffentlichungen anderer Labore zu nennen, reagierte er nicht mehr.

Unrecht hat er indes nicht. Natürlich können sich Banden in Immunoblots ähneln. Ebenso können Mikroskopieaufnahmen ähnliche Zellstrukturen zeigen. Doch wie lassen sich identische Körnungsmuster im Hintergrundrauschen von Abbildungen erklären? Könnten sich vielleicht alle Auffälligkeiten auch einfach als unglückliche Kombination von Schlampigkeit und harmlosen Artefakten infolge von beispielsweise Bildkompressionen erweisen?

Beispiel 3 für Auffälligkeiten
Fluoreszenz-markierte Carboanhydrasen in den Plasmamembranen von Muskelfasern folgen in Abbildung 3 von Scheibe et al., 2008 (doi.org/cfqrq4) (siehe obere Reihe) und Abbildung 1 von Hallerdei et al., 2010 (doi.org/chnmmc) (siehe untere Reihe) dem identischen Verteilungsmuster (siehe mittlere Reihe) – manchmal.

Beispiel 4 für Auffälligkeiten
Oben: Im Electrophoretic Mobility Shift Assay von Abbildung 4C in Meissner et al., 2007 (doi.org/cstgv5) zeigen viele Banden identische Schwärzungsmuster.
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Auffällige Publikationen?

Insgesamt trat Renate J. Scheibe in ihrer Forschungskarriere sechsmal als Erstautorin in Erscheinung, 20-mal in mittlerer Position einer Autorenliste, achtmal als Letztautorin. Die auffälligen elf Publikationen aus den Jahren 1996 bis 2013 umfassen sieben ihrer acht Letztautorschaften und zwei ihrer sechs Erstautorschaften, aber nur eine von 20 Publikationen mit ihrem Namen in mittlerer Position. Die Auffälligkeiten scheinen also mit dem Einfluss zu korrelieren, den Scheibe auf Manuskripte hatte. Besteht ein kausaler Zusammenhang?

Drei der vier restlichen unauffälligen Erstautorschaften publizierte Renate J. Scheibe am Anfang ihrer Forschungskarriere 1991 und 1992. Die erste Windows-Version der vielleicht bekanntesten Bildbearbeitungssoftware des US-Softwareherstellers Adobe kam Ende1992 auf den Markt. Zuvor war Bildbearbeitung nur eingeschränkt möglich. Ist das nur Zufall?

Könnte eine andere Autorin oder ein anderer Autor vielleicht für die Bildanomalien verantwortlich sein? Scheibes häufigster Koautor war Joachim Meißner, der in seiner MHH-Arbeitsgruppe Kardiomyozyten charakterisiert. Zu acht der elf fragwürdigen Publikationen trug er bei, fünfmal als Erstautor. Keine seiner 23 anderen Publikationen steht jedoch auf PubPeer in der Kritik. Gegenüber Laborjournal wollte sich Meißner nicht äußern. Zu fünf von Scheibes elf fragwürdigen Publikationen trug zwischen 2001 und 2011 außerdem Gerolf Gros bei. Auf die umstrittenen Abbildungen in den Artikeln davor und danach hatte er keinen Einfluss. Auf vier Publikationen aus den Jahren 1996 bis 2000 findet sich der Name des seit 2005 emeritierten MHH-Professors Walter Heinz Müller. Auf die Abbildungen im Jahrzehnt danach hatte er keinen Einfluss. Neben Renate J. Scheibe gibt es also also keine Personalie, die Zugriff auf die Bilddaten aller auffälligen Publikationen gehabt haben könnte.

Warum stammt ihre jüngste auf PubPeer kritisierte Publikation aus dem Jahr 2013? Im Jahrzehnt danach trug sie nur zu sechs Publikationen bei – als Mittelautorin. Niemals war sie seitdem federführend als Erst- oder Letztautorin beteiligt. Wären Scheibes Erst- und Letztautor-Manuskripte vor 2013 auch ohne die kritisierten Abbildungen von Journalen zur Publikation angenommen worden? Dieses Urteil können nur Fachexperten und -expertinnen fällen.

Fakt ist: Auch ohne Publikationserfolge im letzten Jahrzehnt finanziert die MHH die Arbeitsgruppe von Privatdozentin Scheibe weiter – seit nunmehr durchgehend dreißig Jahren. Scheibe war nie an einem anderen Institut tätig – zumindest hat eine eventuelle Tätigkeit außerhalb der MHH keinerlei Spuren in ihrer Publikationsliste hinterlassen. Auf allen ihren Artikeln zwischen 1996 und 2016 – egal ob auf PubPeer diskutiert oder nicht – taucht erst durchgehend MHH-Professor Walter Heinz Müller, dann durchgehend MHH-Professor Gerolf Gros unter gleicher Adresse auf. Wie beeinflusste deren Patronat die offensichtliche Stellensicherheit der Privatdozentin?

Tabelle: Auf PubPeer diskutierte Publikationen von Renate J. Scheibe.
Bildanomalie Referenz Jahr
identische Banden in selbem Western Blot Exp Cell Res. doi.org/fpb4zt
Oncogene. doi.org/fgrjkf
Mol Cell Biol. doi.org/f42j7j
1996
1997
2013
identische Banden in unterschiedlichen Northern Blots oder Western Blots Biochem J, 338: 561-8
J Cell Physiol. doi.org/dwmn7b
Nucleic Acids Res. doi.org/fvhxt3
1999
2000
2011
Molekulargewichts-Bereiche in Northern Blot zusammenkopiert J Physiol. doi.org/bk8zrx 2001
identische Banden im Electrophoretic Mobility Shift Assay J Biol Chem. doi.org/cstgv5 2007
identisches Hintergrundrauschen im Western Blot Nucleic Acids Res. doi.org/fvhxt3 2011
identische Zellstrukturen in Fluoreszenzmikroskopie-Aufnahmen J Histochem Cytochem. doi.org/bbg258
Am J Physiol Cell Physiol. doi.org/cfqrq4
PlosOne. doi.org/chnmmc
2006
2008
2010

Wer klärt auf?

Gros war der einzige von 37 Koautoren der elf fragwürdigen Publikationen, der sich auf PubPeer neben Scheibe zu Wort meldete. Gegenüber Laborjournal erklärte er Mitte Juni 2023: „Die PubPeer-Analysen sind bereits Gegenstand einer Ombudsuntersuchung der MHH. Bevor diese Untersuchungen abgeschlossen sind, können noch keine Aussagen dazu gemacht werden.“

Auch Beate Schwinzer, die Leiterin der Geschäftsstelle Ombudswesen der MHH, konnte aus Gründen der guten wissenschaftlichen Praxis (GWP) und des Umgangs mit Verdachtsfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens keinerlei Auskunft geben.

In der vorletzten Juniwoche 2023 teilte Schwinzer Laborjournal mit: Eine Vorprüfung von Verdachtsfällen sei gemäß § 13 der GWP-Richtlinien der MHH binnen zwölf Wochen abzuschließen. Im aktuellen Fall ergibt das Mitte September 2023. Eine sich eventuell anschließende „förmliche Untersuchung“ solle dann „möglichst zügig“ durchgeführt werden. Wie lange das dauere, sei aber „individuell sehr unterschiedlich“. Auch würde von Fall zu Fall entschieden, inwieweit die Öffentlichkeit informiert würde. Wahrscheinlich hat die MHH bei Verdachtsfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens hinzugelernt. Akademische Kontroversen sind ihr schließlich nicht unbekannt (siehe unten angefügter Abschnitt zu "Kontroversen an der Medizinischen Hochschule Hannover").

Der Vorsitzende der GWP-Kommission an der MHH ist übrigens Matthias Gaestel, der Direktor des MHH-Zentrums Biochemie – und somit Renate J. Scheibes direkter Vorgesetzter. Auf der jüngsten auf PubPeer kritisierten Publikation von Scheibe findet sich Gaestel als Koautor. Bereits der Forschungsbericht 2008 der MHH führt beide als Kooperationspartner auf.

Außer bei der MHH fragte Laborjournal auch bei den elf betroffenen Fachzeitschriften nach, inwieweit sie sich mit den auf PubPeer geäußerten Verdachtsfällen auseinandersetzen. Bis zum Redaktionsschluss reagierten nur drei von elf Verlagen. Von der PubPeer-Diskussion wusste nur eine Fachzeitschrift, nämlich The Journal of Physiology. Alle drei Journale beteuerten allerdings, jegliche geäußerten Bedenken äußerst ernst zu nehmen und den höchsten Standards der Publikationsethik verpflichtet zu sein. Mit Verweis auf die Richtlinien des Committee on Publication Ethics (COPE) konnten sie jedoch keine Auskunft zu ihren Maßnahmen geben. Es bleibt also abzuwarten, wie Arbeitgeber und Fachzeitschriften Scheibes Publikationen bewerten. Muss sie sich Sorgen machen?

Hinweis: Die Zellbiologin Renate J. Scheibe an der MHH ist nicht zu verwechseln mit der Pflanzenwissenschaftlerin Renate Scheibe von der Universität Osnabrück, die seit 2017 dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingesetzten Gremium „Ombudsman für die Wissenschaft“ angehört.




Kontroversen an der Medizinischen Hochschule Hannover

Wissenschaftsskandale sind der Medizinischen Hochschule Hannover nicht fremd. So stellte die MHH beispielsweise 2016 fest, dass die damalige Verteidigungsministerin und derzeitige Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen in ihrer Doktorarbeit nachweislich plagiiert hatte. Doch von der Leyen durfte ihren Doktortitel behalten, da ihre Dissertation „wissenschaftlich neu, valide und von praktischer Relevanz“ sowie nur 20 Prozent der Arbeit fehlerhaft seien. Auch begann der Fälschungsbetrüger Paolo Macchiarini seine Karriere in der Luftröhrentransplantation an der MHH. Als Chefarzt der Klinik für Thorax- und Gefäßchirurgie im Klinikum Hannover Heidehaus habilitierte er sich 1999, bevor er 2005 über Barcelona ans schwedische Karolinska-Institut wechselte. Nach mehreren ethisch nicht zu rechtfertigenden Operationen mit Todesfolge stellten internationale Gremien 2016 wissenschaftlichen Betrug in Macchiarinis Veröffentlichungen fest. Im Zuge des Wissenschaftsskandals traten der Generalsekretär des Nobelkomitees Urban Lendahl sowie die Vizekanzler des Karolinska-Instituts Anders Hamsten und Harriet Wallberg-Henriksson zurück. Doch an der MHH firmierte Macchiarini als außerplanmäßiger Professor weiter. Zwar erklärte die Medizinische Hochschule Hannover, keine der desaströsen Lungen-OPs unterstützt zu haben; der MHH-Professorentitel war für Macchiarinis Karriere aber sicher nicht hinderlich.