Editorial

Bürokratiemonster oder sinnvolle Sache?

Kathleen Gransalke


(15.05.2023) Auch Wissenschaftler müssen demnächst vielleicht ihre Arbeitszeiten erfassen. Was erstmal ungewöhnlich klingt, könnte sich jedoch lohnen.

Das Ende der Wissenschaft in Deutschland sei nahe, orakelten kürzlich Ralf Poscher vom Freiburger MPI zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht und Andreas Voßkuhle, ehemals Präsident des Bundesverfassungsgerichts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Forschern werde zukünftig der Zugang zu Laboren, Bibliotheken und Büros verwehrt. Schlimmer noch, die Wissenschaftsfreiheit sei in Gefahr. Es drohe das Diktat der Stechuhr. „Die Bürokratisierung der Forschung erringt ihren letzten Sieg: Gulliver liegt nun gefesselt am Boden.“

Was hat die beiden Professoren dazu gebracht, solch sinistere Zukunftsszenarien für den Wissenschafts­standort Deutschland zu skizzieren? Es geht um die Arbeitszeiterfassung. Bereits 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass auch Arbeitgeber in Deutschland dazu verpflichtet sind, ihren Arbeitnehmern ein System zur Verfügung zu stellen, mit dem sie ihre täglich geleistete Arbeitszeit erfassen und dokumentieren können. Deutschland hat sich mit der Umsetzung etwas Zeit gelassen. Nun, gibt’s jedoch keine Ausreden mehr. Die Arbeitszeiterfassung muss und wird mit in das Arbeitszeitgesetz aufgenommen. Das bekräftigte auch im letzten Jahr noch einmal das Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Bislang war der Arbeitgeber nur zur „Aufzeichnung der werktäglichen Arbeitszeit über acht Stunden sowie der gesamten Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen“ verpflichtet.

Stechuhr in der Wissenschaft?
Foto: AdobeStock / Ralf Geithe

Die Stechuhr bleibt still

Die neue Regelung zur Arbeitszeiterfassung nimmt bislang auch Wissenschaftler nicht aus, worüber sich Poscher und Voßkuhle in ihrem Meinungsbeitrag wortgewaltig empörten. Wobei, so ganz stimmt das nicht, denn Professoren und Professorinnen sind laut GEW ausgenommen – egal ob verbeamtet oder angestellt. Sie haben eine leitende Funktion, sind also Chefs. Und für Chefs gilt die Pflicht natürlich nicht. Wie die Süddeutsche kürzlich berichtete, enthält der neueste Gesetzentwurf einige Ausnahmeregelungungen, die auch auf Forschungstreibende zutreffen könnten („besondere Merkmale der ausgeübten Tätigkeit“). Ob Postdocs, Doktoranden und Arbeitsgruppenleiter unter diese Ausnahme fallen, ist jedoch noch unklar. Wenn nicht, droht ihnen dann das heraufbeschworene „Diktat der Stechuhr“? Das ist eher unwahrscheinlich.

Schauen wir uns direkt auf der entsprechenden Website des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) um. Dort heißt es etwa: „Für die Aufzeichnung besteht derzeit keine Formvorschrift; sie kann auch handschriftlich erfolgen.“ „Nach Auffassung des BMAS kann der Arbeitgeber die Aufzeichnung so wie bislang auch schon delegieren“. Auch die Vertrauensarbeitszeit soll weiterhin möglich sein: „Eine Dokumentation der Arbeitszeit steht einer solchen Vereinbarung nicht im Wege.“ Wichtig: auch im Homeoffice oder anderen mobilen Arbeitsorten gelten die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes über Höchstarbeits- und Ruhezeiten. Aktuell übrigens: nicht mehr als zehn Stunden täglich, nach sechs Stunden ist eine dreißigminütige Pause einzulegen. Insgesamt nicht mehr als 48 Stunden Arbeitszeit pro Woche. So steht es im Gesetz.

Wie die Arbeitszeiten erfasst werden, ist jedem Arbeitgeber überlassen. Es soll sich dabei nur um ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ handeln. Also wäre beispielsweise eine App, mit der man sich auch vom Homeoffice aus bequem ein- und ausloggen kann, denkbar und wird auch von einigen Unis wie der Uni Saarland bereits genutzt. Von einer Stechuhr kann also keine Rede sein.

Erstmal abwarten

Aktuell erfasst die Uni Saarland, wie sie uns auf Anfrage mitteilt, jedoch nur die Arbeitszeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnern der Verwaltung. Dort wurde das digitale Zeitmanagement erst kürzlich modernisiert und soll bis Ende des Jahres auf weiteres Personal in Verwaltung und im technischen Bereich ausgeweitet werden. „Das wissenschaftliche Personal erfasst die Arbeitszeit derzeit nur, wenn dies innerhalb von Projekten, wie vor allem bei EU-Förderprojekten, erforderlich ist.“

Ansonsten wartet man ab. Denn das Bundesarbeitsministerium hat erst für diesen Herbst Vorschläge für die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung versprochen. Auch die Uni Kiel schaut erwartungsvoll auf Hubertus Heil: „Für die Umsetzung ist es [...] wichtig zu wissen, welche Anforderungen durch das Arbeitszeitgesetz künftig gestellt werden“, schreibt sie uns in einer E-Mail. Ähnlich verhält es sich auch an der Universität Freiburg: „Sobald der von Seiten der Bundesregierung angekündigte Gesetzesentwurf zur Arbeitszeiterfassung vorliegt, wird die Universität Freiburg prüfen, ob ihr Zeiterfassungssystem für Wissenschaftler*innen einer Änderung bedarf und, sollte dies der Fall sein, entsprechende Anpassungen vornehmen. Aktuell wird die Arbeitszeit von Wissenschaftler*innen an der Universität Freiburg entsprechend der derzeit geltenden Gesetzeslage nicht erfasst.“ Auch die Max-Planck-Gesellschaft ist noch unentschieden. Wie sie uns wissen lässt, wird das Thema Arbeitszeiterfassung derzeit in den Gremien beraten.

Recht auf Zeitbuchhaltung

Wie handhaben andere europäische Universitäten die Arbeitszeiterfassung? Zuerst ein Blick in das Nicht-EU-Land Schweiz. An der Uni Zürich gilt eine Pflicht zur Erfassung ebenfalls nur für das Verwaltungs- und das technische Personal. Arbeitszeiten und Abwesenheiten sind in einer Arbeitszeittabelle einzutragen und dem oder den Vorgesetzten vorzulegen. Für den Mittelbau gilt: Es gibt keine Pflicht, aber ein Recht auf eine persönliche Zeitbuchhaltung. „Sie haben nur dann Anspruch auf ein nicht bezogenes Ferienguthaben oder die Kompensation eines positiven Arbeitszeitsaldos, wenn sie eine Zeitbuchhaltung führen und diese von der vorgesetzten Person geprüft und visiert wird“, heißt es auf der Uni-Zürich-Website.

An der BOKU Wien sieht es ähnlich aus. Für das wissenschaftliche Personal ist ein Zeiterfassungssystem bislang nicht verpflichtend realisiert und ist auch in nächster Zeit nicht in Sicht. Eine Ausnahme gibt es jedoch. Forscher, die für ihre Projekte Drittmittel (zum Beispiel EU-Mittel) erhalten, müssen die für das jeweilige Projekt aufgewandten Zeiten verpflichtend in einem elektronischen und revisionssicheren Erfassungssystem dokumentieren. Das gilt allerdings nicht für Projekte mit Förderung durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), die den dicksten Brocken von Drittmittelprojekten ausmachen.

Überstunden im Blick

Ob via Tabelle, Zettel, Chipkarte oder App – ja, Arbeitszeit­erfassung ist wieder ein bisschen mehr Bürokratie. Aber es könnte sich lohnen. „Wir erachten die Dokumentation der geleisteten Arbeitsstunden als sinnvoll“, schreibt uns Lisa Janotta vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft auf Anfrage. „Wie unsere Evaluation des WissZeitVG zeigt, leisten wissenschaftlich Beschäftigte in der Regel fächerübergreifend im Durchschnitt 11,8 Stunden pro Woche bei Teilzeitbeschäftigten und 7,8 Stunden bei Vollzeitbeschäftigten mehr. Grund hierfür ist laut Beschäftigtenangaben, dass die Qualifikations- bzw. Forschungsarbeit (die ja Bedingung für die Weiterbeschäftigung ist) anders nicht vollbracht werden kann. Der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) zählt durchschnittlich sogar 12 bis 13 Überstunden pro Woche. Vor diesem Hintergrund halten wir die Dokumentation der Arbeitszeit für ein geeignetes Mittel, die Überstunden noch besser zu dokumentieren und politisch Druck zu machen, um a) Vollzeitanstellung voranzubringen und b) entfristete Stellen im Postdoc-Bereich einzurichten.“

Zu hoffen wäre es, dass mit ein paar zusätzlichen Clicks tatsächlich bessere Arbeitsbedingungen und vielleicht sogar bezahlte oder anderweitig kompensierte Überstunden herauskommen. Mit ziemlicher Sicherheit aber steht der Untergang der Wissenschaft, wie von den beiden Professoren proklamiert, nicht unmittelbar vor der Labortür.