Editorial

Wie altert das Immunsystem?

Karin Hollricher


(09.03.2023) Man wird ja nicht jünger. Auch das Immunsystem altert mit den Jahren. Aber wird es dadurch auch weniger funktionstüchtig? Darüber sind sich die Experten nicht einig.

Im Januar sagte Deutschlands Gesundheitsminister Karl Lauterbach, COVID-19-Infektionen würden das Immunsystem altern lassen. In der Laborjournal-Redaktion sind wir ratlos: Warum sollte das Immunsystem durch eine Infektion altern? Wie altert eigentlich ein Immunsystem? Woran macht man das Alter des Immunsystems fest? Die Redakteure zucken mit den Schultern. „Keine Ahnung”.

Damit begann eine Recherche, die so viele – teilweise widersprüchliche – Details lieferte, dass wir sie hier gar nicht vollständig darstellen können. Versuchen wir uns daher an einer Kurzfassung.

Gerontologe Roy Walford formulierte 1969 die „Immunologische Theorie des Alterns” (Immunol Rev 2: 171). Er nahm an, Altern mit all seinen unangenehmen Eigenschaften sei das Resultat fehlerhafter Immunprozesse. Diese Theorie gilt seit Langem als veraltet, in ihrer Ausschließlichkeit stimmt man ihr nicht mehr zu. Allerdings erlebt sie, ausgelöst durch Daten von COVID-19-Patienten, gerade eine Art Renaissance. Die Arbeitsgruppe von Jean-Laurent Casanova an der Rockefeller-Universität entdeckte nämlich bei lebensbedrohlich Erkrankten schon in der frühen Phase der Pandemie Autoantikörper gegen Interferone (IFN) und ihre Rezeptoren, die die virale Abwehr blockieren können. Weitere Studien bestätigten diesen Befund: bei 24 Prozent kritisch Kranker fand man mäßig hohe bis sehr hohe Autoantikörper-Titer. Bei asymptomatisch Infizierten konnte man sie nicht nachweisen. Besonders häufig waren IFN-Antikörper bei Menschen über achtzig Jahre, nämlich bei 18 Prozent der Verstorbenen und 20 Prozent der kritisch Kranken. IFN-Autoantikörper sind bei Älteren nicht selten. In der Kohorte Gesunder hatten ein Prozent der unter Siebzigährigen, aber sechs Prozent der über Achtzigährigen IFN-Autoantikörper (Sci Immunol 6(62): eabl4340). „Es ist also tatsächlich so, dass im Verlauf des Lebens durch Autoimmunität gegen Cytokine die Immunkompetenz geschwächt werden kann; nicht immer, aber im Einzelfall”, sagt der Immunologe Andreas Radbruch, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts Deutsches Rheuma-Forschungszentrum (DRFZ) in Berlin.

Hände eines alten Menschen
Foto: AdobeStock / Erik & Design Cells

Zu wenige? Zu langsam?

Von vielen Forschungstreibenden wird die Immunseneszenz – also die Alterung des Immunsystems – heute als zunehmender Verlust der Funktion der Abwehrkraft beschrieben. So ziemlich jeder Review zum Thema beginnt mit Sätzen wie diesem: Das Altern führt zu einer allmählichen Abnahme der Funktion des Immunsystems, was zu einer zunehmenden Inzidenz von Krankheiten wie Krebs und Infektionen führt. Diese Schlussfolgerung basiert auf verschiedenen korrelativen Beobachtungen: Alte Menschen erleiden häufiger als junge aufflammende Infektionen mit persistierenden Viren (zum Beispiel Herpesviren) und erkranken schwerer an akuten Infektionen (zum Beispiel Influenza und Pneumokokken). Auf Impfungen sprechen Ältere weniger gut an. Außerdem leiden Senioren häufiger an Autoimmunerkrankungen.

Aber warum ist das so? Funktionieren die vorhandenen Immunzellen nicht mehr? Oder sind es zu wenige? Oder sind sie nur zu langsam? Oder hat die erhöhte Mortalität mit dem Alter des Immunsystems gar nichts zu tun, sondern hängt von ganz anderen Faktoren ab?

Alter Antikörper
Foto: AdobeStock / Erik & Design Cells

Seit der Begriff Immunseneszenz in der Welt ist, vergleicht man immunologische Parameter junger und alter Labortiere und Menschen oder auch die Immunzellen in der Milz von Mäusen mit denen im Blut von Menschen. Die Resultate sind nicht immer eindeutig, die Interpretationen daher schwierig. „Es gibt sehr große individuelle Unterschiede, aber grundsätzlich ist das Immunsystem eines Siebzigjährigen nicht so fit wie das eines Dreißigjährigen”, sagt Albert Osterhaus, Direktor des Research Center for Emerging Infections & Zoonoses (RIZ) der Tierärztlichen Hochschule in Hannover. Nachzulesen sei das beispielsweise im Artikel „Aging and Options to Halt Declining Immunity to Virus Infections“ (Front Immunol 12: 681449). Dieser Aussage schließen sich, wie wir bei der weiteren Recherche feststellen, nicht alle Immunologen an.

Schrumpfen ab der Pubertät

Fakt ist: Man findet auch bei Lymphozyten einige der für die Zellalterung typischen Anzeichen. Beispielsweise steigt die Aktivität der lysosomalen sauren Beta-Galactosidase. Das ist ein wichtiges Kriterium des Seneszenz-assoziierten sekretorischen Phänotyps (SASP), der durch eine übermäßige Synthese inflammatorisch wirksamer Moleküle gekennzeichnet ist. Anzeichen von SASP fand man etwa bei alternden Makrophagen, die zum angeborenen Immunsystem gehören. Dennoch können diese Zellen weiterhin prima proliferieren. Das widerspricht einem Kernelement der Definition der seneszenten Zelle, wonach diese sich nämlich nicht mehr (so gut) teilen kann. Ist SASP also kein Kriterium für das Alter von Makrophagen? Man weiß es nicht.

Alter Mann mit COVID-19-Erkrankung
Insbesondere die COVID-19-Verläufe von älteren Menschen haben die Diskussion neu entfacht, wie das Immunsystem altert – wenn überhaupt! Von einem einhelligen Bild sind die Experten jedenfalls weit entfernt. Foto: AdobeStock / simona

Unbestritten ist außerdem, dass beim Menschen mit zunehmenden Lebensjahren die Zahl der naiven T-Zellen sinkt. Das ist auch nicht erstaunlich, denn schon ab der Pubertät schrumpft der Thymus. In diesem Organ reifen die aus dem Knochenmark stammenden Vorläufer-T-Zellen heran und bilden ein gigantisches Reservoir an T-Zellen mit jeweils einem durch zufällige Rekombination entstandenen Antigen-Rezeptor. Schätzungsweise 98 Prozent davon werden als autoreaktiv wieder aussortiert, der kleine Rest CD4- und CD8-positiver T-Zellen, die man nun als naive Zellen bezeichnet, verlässt das Organ und wandert zwischen Blut und lymphatischen Organen hin und her.

CD4-positive T-Zellen sind Helferzellen, die für die Aktivierung von B-Lymphozyten zu Antikörper-produzierenden Plasmazellen und B-Gedächtniszellen nötig sind. CD8-positive T-Zellen sind cytotoxische Zellen, also Killerzellen. Auch B-Zellen beginnen ihre Entwicklung im Knochenmark, reifen dort und zirkulieren dann im Blut oder halten sich in Organen auf. Erkennen sie ein passendes Antigen, proliferieren sie und übernehmen ihre spezifischen Aufgaben. Die meisten dieser Effektorzellen sterben nach Abklingen einer akuten Infektion, aber verschiedene Typen Gedächtniszellen verbleiben, um bei erneuter Infektion wieder zu proliferieren.

Blut ist nicht alles

Und diese Zellen können extrem langlebig sein. Beispielsweise fanden Forschungsteams des DRFZ und der Charité im Knochenmark einer Patientengruppe von durchschnittlich 64 Jahren uneingeschränkt reaktive und funktionale Gedächtnis-T-Zellen vom Typ CD4+ gegen Masern-, Röteln- und Mumps-Viren. Diese Zellen sind wohl über fünfzig Jahre alt, denn sie entstanden nach Impfungen oder Infektionen im Kinder- oder Jugendalter der Patienten (PNAS 111: 9229-34).

Masern-spezifische T-Zellen waren übrigens bei einigen Probanden nur im Knochenmark zu finden und nicht im Blut. Das ist insofern relevant, weil viele immunologische Studien an Menschen nur mit deren Blut und nicht mit Zellen aus dem Knochenmark gemacht werden – also dem Ort, an dem die Gedächtniszellen lebenslang persistieren können, selbst wenn sie aus dem Blut verschwunden sind. „Das muss man berücksichtigen, wenn man Rückschlüsse aus einer Blutanalyse zieht”, sagt Radbruch. „Und dieser Befund bedeutet, dass man eine fulminante Immunantwort auch dann noch auslösen kann, wenn im Blut gar keine Gedächtniszellen sind und der Kontakt mit dem Antigen Jahrzehnte her ist.”

Ebenfalls unumstritten ist, dass mit dem Alter die Anzahl sehr weit differenzierter CD8-positiver T-Zellen steigt. Diese Zellen sind das Resultat persistierender Infektionen, verursacht vor allem durch das Cytomegalievirus (CMV) und andere Herpesviren. Einige dieser Zellen – oder auch viele – mögen alt und schwach sein. Aber ist dieses Phänomen ursächlich verantwortlich für weniger effiziente Antworten auf Infektionen? Das weiß man nicht.

Ist es für den Ausgang einer Infektion denn überhaupt wichtig, wie viele aktivierbare B- und T-Zellen im Organismus vorhanden sind, ob nun im Blut oder anderswo? Das untersuchten William Paul, einer der Entdecker von Interleukin-4, und sein Team am National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda (USA). Sie spritzten Mäusen um mehrere Zehnerpotenzen unterschiedliche Mengen an Antigen-spezifischen CD4-positiven T-Zellen (3 bis 30.000) und immunisierten sie anschließend (PNAS 108: 3312-7). Erstaunlicherweise war dabei mehr nicht gleich besser, sondern die Immunantwort war umgekehrt proportional zur Zahl der infundierten Zellen. Radbruch zieht daraus den Schluss: „Ein Vergleich der Zahl der T-Lymphozyten im Blut ist demnach keine sichere Basis für eine Aussage über deren Leistungsfähigkeit und die Effektivität der Immunantwort.”

Eine Art Rückkopplung?

Andere Immunologen sind anderer Meinung. Osterhaus und sein Kollege Guus Rimmelzwaan beispielsweise. „Eine geringere Wirksamkeit der T-Zellen bei Älteren korreliert mit der sinkenden Effektivität von Impfungen”, argumentiert Osterhaus. Zwar gäbe es „enorme individuelle Unterschiede”, doch hält er insbesondere den Schwund an naiven T-Zellen für eine wesentliche Eigenschaft des alternden Immunsystems – und somit mitverantwortlich dafür, dass zumindest sich schnell verändernde Viren wie Influenzaviren und SARS-Coronaviren bei Älteren schwerere Symptome auslösen und die Immunantwort nach Impfung geringer ist. „Andererseits sind ältere Menschen möglicherweise auch besser vor bestimmten neu auftretenden Virusinfektionen geschützt, da sie sich im Gegensatz zu jungen Menschen in früheren Jahren mit verwandten Viren infiziert haben. Dies betrifft hauptsächlich bestimmte T-Zellen, die konservierte Epitope erkennen, die auf den alten und neuen Viren vorkommen.” Eine solche Schutzwirkung zeigte sich bei jüngeren Menschen während der H1N1-Grippepandemie 2009 in Großbritannien: Personen mit kreuzreaktiven T-Zellen wurden während einer Grippeinfektion nicht fiebrig, während alle anderen ohne solche Zellen Fieber bekamen. Drei Personen mit besonders hohem Titer an kreuzreaktiven T-Zellen blieben völlig asymptomatisch (Nat Med 19: 1305-13).

Und um uns alle noch mehr zu verwirren, schauen wir uns das Argument der mit dem Alter sinkenden Impfeffektivität an. Die neuesten Daten stammen aus Studien zu mRNA-Impfungen gegen SARS-CoV-2. Jüngere bilden tatsächlich schneller und mehr Antikörper sowie T-Zellen nach einer und zwei Impfungen als ältere Menschen, die eine stärkere Stimulation benötigen (Nature 613: 735-42; Nat Microbiol 7: 195-9). Aber auch vor einer Impfung vorhandene kreuzreaktive Antikörper haben diesen Effekt (Immunity 55: 1924-39). Haben wir es hier mit einer Art Rückkopplung des immunologischen Gedächtnisses zu tun? Haben Ältere also sozusagen „Pech”, bereits (kreuz-)reaktive Antikörper zu besitzen? Das bedarf weiterer Untersuchungen.

Ist es eigentlich wichtig für den Verlauf einer Infektion, wie schnell und intensiv eine Immunreaktion auf eine Impfung erfolgt? Anscheinend nicht wirklich – zumindest im Fall von COVID-19. Obwohl die Bewohner einer Einrichtung für betreutes Wohnen nur zweifach geimpft waren und somit eine noch viel geringere B-Zell-Antwort hatten als jüngere Menschen, schützte sie dies vor schweren Symptomen bei einem Corona-Ausbruch zwei Wochen nach der Impfung (Emerg Infect Dis 27: 2174-8).

Ist Verjüngung möglich?

„Der menschliche Immunseneszenz-Phänotyp – existiert er?” Diese provokante Frage stammt nicht von uns, sondern sie ist der Titel eines Reviews von Graham Pawelec, Immunologe an der Universität Tübingen (Semin Immunpathol 42: 537-44). Auf der Suche nach einer Antwort durchforstete er die wenigen existierenden Langzeit-Beobachtungsstudien zum Thema. Seine Interpretation der nicht durchgehend konsistenten Resultate fasst er auf Nachfrage in einer E-Mail so zusammen: „Mein Punkt ist, dass diese Unterschiede zwischen Jung und Alt meist das Ergebnis der normalen adaptiven (Gedächtnis-)Funktion der antigenspezifischen Immunität sind. Um einen Immunseneszenz-Phänotyp zu definieren, müsste man nachweisen, dass der jeweils gewählte Phänotyp altersassoziierte Pathologien vorhersagt.”

Beispielhaft dafür sind Studien aus Schweden und Belgien. In Schweden identifizierte man ein Biomarker-Set, das bei über 85-Jährigen anzeigt, ob die betreffenden Personen innerhalb der nächsten zwei, vier oder sechs Jahre sterben werden. Dieselben Marker erwiesen sich bei Menschen in Belgien, die zwanzig Jahre später untersucht wurden, in dieser Hinsicht als nutzlos. Pawelec: „Es ist also durchaus möglich, dass verschiedene Populationen unterschiedliche Immunseneszenz-Phänotypen aufweisen – aber in den meisten Fällen wissen wir das nicht, weil keine Daten vorliegen. Sich lediglich die Unterschiede zwischen Jung und Alt anzuschauen, ohne die gesundheitlichen Auswirkungen zu kennen, führt in die Irre.”

Kann man eigentlich irgendwas tun, um ein altes Immunsystem zu verjüngen? Möglicherweise. Der alternde Organismus weist Zeichen von Inflammaging auf. Darunter versteht man chronische, aber nicht sehr stark ausgeprägte Entzündungsprozesse, die auch Immunzellen betreffen und womöglich die Abwehrfunktion behindern. In Tierstudien konnte man jedenfalls zeigen, dass sich die Immunfunktion wieder verbessert und die Mortalität sinkt, wenn man die Anzahl von Zellen mit dem SASP-Phänotyp reduziert. Daher prüft man nun, ob Substanzen, die gezielt seneszente Zellen in die Apoptose treiben, sich positiv bei der Bekämpfung von Infektionen auswirken.

Noch im Laborstadium

Zu solchen Senolytika gehören die Flavonoide Quercetin und Fisetin, aber auch die in der Krebsmedizin verwendeten Wirkstoffe Dasatinib und Navitoflax (siehe dazu auch unser „Stichwort des Monats: Senolytika“ in Heft 4/2021 sowie auf LJ online - Link). Rimmelzwaan und sein Team überprüfen im Rahmen des Projekts ISOLDA (Improved Vaccination Strategies for Older Adults), ob man mit Kinase-Inhibitoren das Immunsystem älterer Menschen stimulieren kann, indem man blockierte Signalwege wieder funktionsfähig macht. „Diese Studien sind allerdings noch im Laborstadium, wir haben noch nichts publiziert”, sagt Rimmelzwaan. Veröffentlicht wurde allerdings, dass Sestrin-Proteine bestimmte MAP-Kinasen binden, was die Funktion von T-Zellen beeinträchtigt. Solche Sestrin-Kinase-Komplexe kommen häufiger bei Älteren vor. Entfernt man die Sestrine, lässt sich im Tierversuch die T-Zell-Funktion wiederherstellen (Nat Immunol 18: 354-63).

„Obwohl noch viel Arbeit nötig ist, um die Veränderungen in der Zusammensetzung und Funktion des Immunsystems im Laufe des Lebens besser zu verstehen, ist klar, dass Alter ein wichtiger Faktor ist, der bei der Bewertung der Variation des humanen Immunsystems berücksichtigt werden muss”, schreiben Petter Brodin und Mark Davis in einem Übersichtsartikel von 2017 (Nat Rev Immunol 17: 21-9). „Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass selbst wenn festgestellt wird, dass bestimmte Parameter positiv oder negativ mit dem Alter korrelieren, dies nicht als Beweis für ihre Beteiligung am Alterungsprozess angesehen werden kann”.

Das fasst den Stand der Forschung wohl ganz gut zusammen. Folglich bleibt noch viel zu forschen in Sachen Immunseneszenz.