Editorial

Räuberische Grauzonen - Wissenschaftliches Publizieren

Henrik Müller


(07.02.2023) Der Übergang von seriösem Fachmagazin zu Raubtierverhalten ist heutzutage fließend. Selbst mit jahrzehntelanger Erfahrung können Forschungstreibende unerfreuliche Publikationserfahrungen machen. Ein Fallbeispiel aus Saarbrücken als Mahnung.

Im Mai 2022 reichte die Arbeitsgruppe um Karin Römisch, seit 2009 Professorin für Mikrobiologie an der Universität des Saarlandes, ihr neuestes Manuskript zur Qualitätskontrolle sekretorischer Proteine in Saccharomyces cerevisiae im Open-Access-Journal Cellular Microbiology (CMI) ein. Zwar fiel der Arbeitsgruppenleiterin auf, dass das Journal Editorial Board niemanden enthielt, den sie kannte. Aber schließlich steht das US-Verlagshaus John Wiley & Sons mit allein im Jahr 2022 über 250.000 publizierten Artikeln für Seriosität. Auch bestätigten Römischs Mitautoren um Tamara Doering von der Washington University in St. Louis die Reputation des Journals. Vier Wochen später erhielten sie von CMIs Academic Editor Sanket Kaushik eine Einschätzung ihres Manuskripts. Allerdings basierte sie unüblicherweise nur auf einem anstelle von zwei bis drei Peer-Review-Gutachten. Aber Hand aufs Herz: Wer freut sich nicht über eine positive Evaluierung der eigenen Forschung? Also ergänzten die Mikrobiologinnen ihr Manuskript um ein erbetenes Experiment und reichten es im September 2022 erneut ein. Einen Monat später war es akzeptiert. Römisch zahlte die Article Processing Charges (APC) in Höhe von 2.175 US-Dollar. Der Rest war Formsache.

Forscher mit Manuskript in der Hand, von gierigen Wölfen im Wlad umstellt
Zeichnung: Just de Leeuwe , CC-BY

Eigentlich. Römisch erinnert sich: „CMI produzierte dann Page Proofs, in denen unsere Abbildungen verhunzt waren. Als ich versuchte, sie über die Journal-Website zu korrigieren, hatten wir plötzlich keinen Zugriff mehr auf die Korrekturfunktionen. Das erklärten wir mehrfach gegenüber verschiedenen Handling Editors und schrieben irgendwann selbst alle acht Personen in CMIs Editorial Board an“. Doch als Antwort erhielten die Saarbrücker stets nur die gleiche, automatisch generierte E-Mail, das Manuskript endlich zu korrigieren, oder sie wurden von einem zum nächsten CMI-Mitarbeiter verwiesen. Niemand im Editorial Board war erreichbar und die Webseite ihres Manuskripts blieb eingefroren.

Also zogen Römisch und Doering Konsequenzen und ihr Manuskript zurück. Das Journal bestätigte zwar die Retraktion, doch die Rückerstattung der Publikationsgebühren bereite ihnen Schwierigkeiten: „CMI behauptete, unsere Kontodaten resultierten beim Überweisungsversuch in einer Error Message. Auch mit den Kontodaten unserer US-Mitautoren blieb das Resultat dasselbe: Unser Geld wurde nicht erstattet. In 35 Jahren Publikationshistorie ist mir solch ein Betrug noch nicht untergekommen.“

Wolf im Schafspelz?

Waren die Saarbrücker Mikrobiologen auf ein Predatory Journal hereingefallen, das es nur auf Artikelgebühren abgesehen hat? Was eine Fachzeitschrift im Detail zu einem räuberischen Journal macht, erklärte Laborjournal online bereits 2020 im Artikel „Im Raubtiergehege der Wissenschaft“. Römisch erkundigte sich bei früheren Editorial Board Members von Cellular Microbiology und erfuhr: Das Fachmagazin wird nicht länger von Wiley, sondern von Hindawi herausgegeben. Die letzte Wiley-Ausgabe stammte aus Dezember 2021. Erschienen bis dahin etwa 150 Artikel pro Jahr, waren es 2022 insgesamt nur 27 Publikationen.

Ein Fokus auf Qualität anstelle von Quantität ist natürlich nichts Schlechtes. So überzeugen die auf CMIs neuer Website (hindawi.com/journals/cmi/) ausgewiesenen Journalmetriken: 117 Einreichungen im Jahr 2022, Rückweisungsrate vor Peer Review 24 Prozent, finale Akzeptanzrate 25 Prozent, durchschnittliche Begutachtungszeit 54 Tage, durchschnittlich zwei Gutachten pro Manuskript, CiteScore 6,900, Impact-Faktor 4,115. Zum Vergleich: Üblicherweise vergehen in Naturwissenschaften und Medizin 12 bis 14 Wochen für den Peer-Review-Prozess (Scientometrics, 113: 633–50). Auch nehmen naturwissenschaftliche und medizinische Fachjournale im Durchschnitt 35 bis 40 Prozent aller Manuskripte an – OA-Zeitschriften sogar 50 Prozent (Prof de la Inf, 28(4)). Räuberische Verlage weisen dagegen nur selten eine Verdienstmöglichkeit ab. Außerdem ist CMI im Directory of Open Access Journals (DOAJ) und in den bibliografischen Meta-Datenbanken Scopus, Web of Science und Medline indexiert. Allesamt sind Qualitätssiegel.

Was Hindawis Website für CMI allerdings nicht verrät: Keine der 27 CMI-Publikationen 2022 findet sich bei PubMed. Denn das Journal scheint nicht länger PubMed-akkreditiert zu sein. Römisch erklärt: „Natürlich wäre es für uns ein Ausschlusskriterium gewesen, wenn wir das gewusst hätten.“ Schließlich ist die Literaturdatenbank in der Biomedizin die Anlaufstelle Nr. 1 auf der Suche nach wissenschaftlicher Information.

Erfolgsgeschichte mit Fragezeichen

Ein Blick auf Hindawis Vorgeschichte: Der 1997 von der Mathematikerin Nagwa Abdel-Mottaleb und ihrem Ehemann, dem Physiker Ahmed Hindawi, in Kairo gegründete Verlag erfreute sich von Anfang an eines explosiven Wachstums. Mit einer einzigen Fachzeitschrift gestartet, gehörten dem Herausgeber zehn Jahre später bereits einhundert Journale mit 220 Mitarbeitern. Kurz nach der Jahrtausendwende erzielte Hindawi Einnahmen von 6,3 Millionen US-Dollar bei einem Profit von 3,3 Millionen US-Dollar. Derartige Umsatzrenditen übertreffen selbst die Gewinnspannen westlicher Verlage wie Elsevier und Wiley von regelmäßig 30 bis 40 Prozent.

Mikrobiologien und Raubjournal-Opfer Karin Römisch
Der Saarbrücker Mikrobiologin Karin Römisch verging erstmal das Lachen ...

Im Februar 2007 stellte Hindawi komplett auf Open Access als Geschäftsmodell um, verdreifachte in den Folgejahren seine Journalzahl, verlegte seine Hauptgeschäftsstelle 2013 nach London und verzehnfachte die Anzahl herausgegebener Artikel. Im Jahr 2022 brachte der Verlag 43.256 Publikationen in 272 Journalen heraus. Damit ist er nach MDPI, Frontiers, Springer Nature und Elsevier weltweit der fünftumsatzstärkste OA-Verlag. Insgesamt 242 seiner Journale sind im DOAJ indexiert, 207 bei Scopus und 38 bei Medline. Zusätzlich verfügen 64 Fachzeitschriften über einen Impact-Faktor.

Doch die Erfolgsgeschichte hat Schattenseiten: In den letzten zehn Jahren fiel dem Team von Retraction Watch der Verlag 519-mal negativ auf. Sticht das unter vergleichbaren Herausgebern hervor? Für den selben Zeitraum listet die Retraction-Watch-Datenbank 3.103 Retractions und Expressions of Concern für Elsevier, 2.654 für Springer Nature, 152 für Frontiers und 141 für MDPI. Pro eintausend Publikationen entspricht das 0,5 Beanstandungen bei Elsevier, 0,7 bei Springer Nature, 0,4 bei Frontiers, 0,2 bei MDPI und 2,0 bei Hindawi.

Nicht schwarz-weiß

Tatsächlich fiel das ägyptisch-britische Verlagshaus nicht nur Retraction Watch auf. Schon 2010 tauchte es kurzzeitig auf der vom ehemaligen US-Bibliothekar Jeffrey Beall kuratierten Liste „of potential, possible, or probable predatory scholarly open-access publishers” (beallslist.net) auf. Auch auf der „Early Warning Journal List 2020“ der chinesischen Akademie der Wissenschaften war es mit drei von 65 Fachzeitschriften vertreten. Allerdings tauchen auf dieser Liste auch Elsevier, SAGE, Springer, Taylor & Francis und Wiley zwei- bis fünfmal auf (Learn Publ, 35(4): 467-80). Eine aktualisierte Liste von Ende 2021 enthielt unter 41 Journalen sechs aus dem Verlagshaus Hindawi.

Ein positives Bild zeichnen dagegen die Analysen von Clarivate Analytics, die anhand der Daten ihres Zitierungsnetzwerks Web of Science jährlich über die Impact-Faktoren (JIF) aller Journale entscheiden. Noch 2014 maßregelte es drei Hindawi-Journale für anomale Selbstzitationsraten mit dem Entzug ihres JIF. Doch seitdem kamen keinerlei Auffälligkeiten mehr ans Licht – zumindest nicht bei Hindawi. So fielen Clarivate Analytics beispielsweise in den letzten beiden Jahren 11 beziehungsweise 15 Fachzeitschriften durch erhöhte Selbstzitationsraten auf. Unter ihnen waren je zwei bis fünf Journale von Elsevier, Frontiers, Springer Nature und Wiley vertreten. Unter den zehn Journalen, denen Clarivate Analytics 2022 und 2021 den Impact-Faktor entzog, finden sich je eine Fachzeitschrift von Elsevier und SAGE, zwei von Springer Nature und vier von Taylor & Francis. Keines stammt von Hindawi.

Spiegelt Römischs Erfahrung mit CMI also nur ein Fachmagazin im Umbruch wider? Im Januar 2021 hatte der US-Verlag John Wiley & Sons den reinen OA-Verlag Hindawi für 298 Millionen US-Dollar erworben und manche seiner eigenen Journale – wie eben CMI – an die neue Verlagstochter Hindawi abgegeben. Die alte CMI-Website erklärt: „Cellular Microbiology will remain a Wiley title but will be published and hosted by Hindawi.“ Laborjournal fragte im Dezember 2022 bei Hindawi nach, was es bedeutet, von einem Verlag herausgegeben zu werden, aber bei einem anderen zu verbleiben? Welche der aktuellen Journalmetriken sich noch auf Wiley und welche sich auf die neue Herausgeberschaft durch Hindawi beziehen? Und warum keine der CMI-Publikationen 2022 bei PubMed gelistet ist?

Mehrere Production Editors, Support Specialists und Editorial Assistants von Hindawi versprachen zeitnah zu antworten. Bis Redaktionsschluss Ende Januar 2023 geschah das nicht. Die einzige Deutsche in Hindawis Editorial Board Barbara C. Kahl, Oberärztin am Institut für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Münster, erklärte gegenüber Laborjournal, nach nur wenigen Monaten von ihrer Aufgabe als Editorin zurückzutreten. Zum einen würden ihr „immer wieder Manuskripte zugesandt, die absolut nicht in meiner Fachkompetenz liegen“. Zum anderen wären beim Journal „Vorgänge nicht so durchschaubar“.

Breite Grauzone

Im Dezember 2019 erörterten fünfzig Vertreter von Wissenschaftseinrichtungen, Forschungsförderern und Verlagen aus zehn Ländern, was Raubtierjournale kennzeichnet. Sie einigten sich auf: „They are entities that prioritize self-interest at the expense of scholarship and are characterized by false or misleading information, deviation from best editorial and publication practices, a lack of transparency, and/or the use of aggressive and indiscriminate solicitation practices” („Predatory journals: no definition, no defence“, Nature, 576: 210-2).

Weder auf CMI noch auf Hindawi treffen diese Kriterien komplett zu. Vielmehr existiert innerhalb der Gesamtheit weltweiter Wissenschaftsverlage ein Kontinuum von Anbietern, die von betrügerisch über laienhaft bis hin zu renommiert reichen. Manchen Journalen gelingt es, ihre Standards mit der Zeit zu verbessern, andere sehen in Betrug die einzige Einkommensmöglichkeit. Die einen von den anderen zu unterscheiden, ist oft problematisch. Die Grauzone ist breit.

Und nun?

Was bedeutet das für Autoren? Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ein anvisiertes Journal auf Herz und Nieren zu prüfen. Nicht nur wollen seine Website und sein Editorial Board inspiziert werden. Auch ist es im Eigeninteresse, seine Legitimität im Web of Science (mjl.clarivate.com), bei Scopus (scopus.com/sources.uri) und bei Retraction Watch (retractionwatch.com), wahlweise auch auf der Ranking-Plattform SCImago (scimagojr.com) oder in der Journal-Datenbank Scilit (scilit.net/container_ranking_containers), zu überprüfen. Auch schadet es nicht, das anvisierte Fachmedium bei PubMed (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov) nachzuschlagen und unter den mehr als 13.000 schwarzen Schafen auf Cabell‘s Predatory Journal Blacklist (cabells.com) zu suchen. Erst die Summe all dieser Informationen ergibt ein verlässliches Bild, da bestimmte Fachzeitschriften in der einen Datenbank auftauchen können, in einer anderen aber nicht. Für Karin Römisch steht fest: „Lieber eine halbe Stunde für diese Checks investiert, als wie wir ein halbes Jahr an ein ehemals seriöses Journal wie CMI verschwendet!“

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte Laborjournal doch noch eine positive Nachricht aus Saarbrücken: „Unser Justiziariat hatte mir keine Hoffnungen gemacht, die Publikationsgebühren von einem Verlag mit Sitz im Ausland erstattet zu bekommen. Es rentiere sich nicht, rechtliche Schritte wegen zweitausend US-Dollar einzuleiten. Doch nachdem ich CMI rechtliche Konsequenzen in Aussicht stellte, waren unsere Publikationsgebühren plötzlich mit den selben Bankdaten rückerstattet, die vorher wochenlang eine Error Message produziert hatten. Es ist nicht zu erkennen, ob CMI nur irrsinnig unorganisiert ist oder ob das System hat.“ Entkräftet das aber die Raubtier-Vermutung?