Editorial

„Das entbehrt jeglicher Logik!“

Im Interview: Frank Hochholdinger, Bonn

Das Interview führte Juliet Merz


(13.09.2018) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs bezüglich genetisch veränderter Organismen hat große mediale Wellen geschlagen. Ein erstes Fazit: Das Urteil setzt ein völlig falsches Zeichen. Pflanzengenetiker Frank Hochholdinger spricht im Interview über fassungslose Wissenschaftler, nicht nachvollziehbare Begründungen des Gerichts und die schwerwiegenden Folgen des Urteils.

Laborjournal: Am 25. Juli dieses Jahres kam der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu einem Urteil bezüglich genetisch veränderter Organismen (GVO). Herr Hochholdinger, was besagt das Urteil?

Frank Hochholdinger » Das Urteil besagt, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen GVOs im Sinne der EU-Freisetzungsrichtlinie von 2001 sind. Sie unterliegen einer Kennzeichnungspflicht und benötigen außerdem eine EU-Zulassung, die unter anderem aufwendige Sicherheitsprüfungen voraussetzt. Identische Produkte, die durch herkömmliche Mutageneseverfahren erzeugt wurden, sind von dieser Regelung ausgenommen, weil sie laut EuGH „seit langem als sicher gelten“. Das Besondere an dieser Richtlinie ist, dass in der EU prozessorientiert bewertet wird. Das heißt, wenn im Prozess gentechnische Methoden zum Einsatz kommen, gilt das Produkt als gentechnisch verändert.

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Ist das überall so?

Hochholdinger » Nein. In Nordamerika ist es umgekehrt. Dort wird produktorientiert beurteilt. Das bedeutet, wenn sich das mit gentechnischen Methoden hergestellte Produkt von konventionell erzeugten Sorten unterscheidet, dann ist es Gentechnik. Wenn es sich nicht unterscheiden lässt, dann eben nicht.

Als die EU-Richtlinie 2001 verabschiedet wurde, war nicht absehbar, dass es in ein paar Jahren Produkte geben wird, die zwar durch gentechnische Verfahren hergestellt werden, sich von konventionellen Produkten aber nicht mehr unterscheiden lassen.

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Illustr.: Juliet Merz

Wie kam es zum Urteil?

Hochholdinger » Ein französischer Landwirtschaftsverband hatte mit acht anderen Verbänden beim obersten französischen Gericht Klage gegen die französische Regelung eingereicht, die vorsah, dass moderne genomeditierte Pflanzen nicht als GVOs klassifiziert werden sollen. In der Klage der Verbände ging es um einen speziellen Fall von durch Genomeditierung erzeugten, Herbizid-toleranten Raps-Sorten. Das oberste französische Gericht wandte sich dann wegen der generellen Bedeutung des Falles an den Europäischen Gerichtshof.

Dabei kam das Urteil zustande, an das nun die nationalen Gerichte gebunden sind, die im Einzelfall entscheiden müssen.

Was kritisieren Sie an dem Urteil?

Hochholdinger » Hauptsächlich drei Punkte in der Begründung des Urteils. Erstens, die Feststellung, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen GVOs im Sinne der GVO-Richtlinie sind, da laut Urteil eine auf natürliche Weise nicht mögliche Veränderung am genetischen Material eines Organismus vorgenommen wird. Sachlich ist das einfach nicht richtig. Die neuen Verfahren wie CRISPR/Cas9 setzen gezielt Mutationen, die sich eben nicht von natürlichen unterscheiden lassen.

Zweitens: Die Begründung, dass klassische Mutageneseverfahren aus der EU-Richtlinie ausgenommen sind, weil sie „seit langem als sicher gelten“. Wie wird „seit langem“ definiert? Durch Mutationszüchtung wurden seit 1936 mit Chemikalien oder Strahlung weltweit etwa 3.300 Pflanzenvarietäten erzeugt und zugelassen. Zum Beispiel alle Gerstensorten für die Bierherstellung, Hartweizen für Pasta oder Grapefruits mit rotem Fruchtfleisch. Bei den klassischen transgenen Sorten, die seit 1996 auf dem Markt sind, gab es bei millionenfacher Anwendung keine Schäden für Mensch und Umwelt. Ab wann ist etwas sicher? Das ist eine vollkommen unklare Formulierung.

Und der dritte Punkt des Urteils...

Hochholdinger » ... stößt bei den Wissenschaftlern auf völliges Unverständnis, weil auch dieser nicht nachvollziehbar ist. Das Urteil besagt, dass die Risiken, die mit der Anwendung der neuen Mutagenesetechniken verbunden sind, ähnlich sind, wie die Risiken bei der Produktion und Freisetzung eines GVO durch Transgenese. Das Gericht vergleicht gezielte Mutagenese durch Genom­editierung mit transgenen Ansätzen – das ist ein haarsträubender Vergleich und entbehrt jeglicher Logik! Bei der Transgenese schleust der Forscher dauerhaft Fremdgene in das Erbgut ein, was bei den Produkten der gezielten Mutagenese nicht der Fall ist. Letztere müsste man mit klassischen Mutagenesetechniken mittels Chemikalien oder Strahlung vergleichen. Und diese werden, obwohl sie zwangsläufig hunderte ungezielte Mutationen in der behandelten Pflanze verursachen, von der Regelung ausgenommen.

Hinzu kommt, dass mit den gezielten Mutagenesetechniken nicht wahllos irgendwelche Gene ausgeschaltet werden, sondern Gene, die bestens charakterisiert sind und deren Funktion bekannt ist.

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Foto: Barbara Frommann / Uni Bonn

Warum, denken Sie, ist das Urteil dennoch zustande gekommen?

Hochholdinger » Man könnte sagen, dass das Gericht der prozessorientierten Richtlinie von 2001 gefolgt ist. Allerdings ist die Begründung des Urteils – wie oben erwähnt – wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Im Endeffekt bleibt es rätselhaft, warum das Gericht dem Schlussantrag des Generalanwaltes nicht gefolgt ist. Denn dieser hatte genau das vorgeschlagen, was auch die Wissenschaftler fordern: Nämlich, dass die Technologien, die 2001 noch gar nicht bekannt waren, insofern sie keine Fremd-DNA beinhalten, von der Regulierung ausgenommen werden sollen.

Das Problem ist also nicht das Urteil sondern die GVO-Richtlinien.

Hochholdinger » Genau. Das Gericht muss sich selbstverständlich an die bestehenden Regelungen halten. Nur sind diese nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst.

In Pflanzen wurde zum Beispiel 2012 zum ersten Mal genomeditiert und seitdem ist seitens der Politik nichts passiert. Die Politik hat ihre Verantwortung die gesetzlichen Rahmenbedingungen anzupassen an die Gerichte abgeschoben. Wir müssen die Politik in die Verantwortung nehmen und einen Paradigmenwechsel fordern. Weg von der prozessorientierten gesetzlichen Regelung zur produktorientierten. So wie es in den großen Agrarländern USA, Kanada, Argentinien, Brasilien, Chile, seit kurzem Israel und demnächst wahrscheinlich Australien ist. Denn wie soll ich ein Produkt regulieren, das ich nicht von einem konventionell hergestellten unterscheiden kann? Es ist vollkommen unklar, wie die EU zukünftig kontrollieren möchte, dass wir solche Pflanzen nicht im großen Stile aus den eben genannten Ländern importieren. Und meine Hypothese ist, dass genau das passieren wird.

Durch die unmögliche Kontrolle erscheint das Urteil gar nichtig. Forscher können doch prinzipiell anbauen, was sie für richtig halten.

Hochholdinger » Theoretisch wäre das denkbar, aber die Forscher werden sich natürlich an die gesetzlichen Regelungen halten. In Belgien und Großbritannien gab es, bevor das Urteil gefällt wurde, eine Ausnahmeregelung. Diesen Sommer haben Pflanzenzüchter dort schon genomeditierte Pflanzen angebaut. Seit dem 25. Juli ist die Freisetzung allerdings illegal. Da stellt sich nun die Frage: Müssen die Pflanzen jetzt zerstört werden oder dürfen die bleiben, obwohl niemand außer den beteiligten Forschern sagen könnte, welches die genomeditierten Pflanzen sind?

Und selbst wenn Kontrolleure eine Probe sequenzieren würden, könnten diese immer noch nicht sagen, ob die Mutation gezielt eingebracht wurde, oder natürlich entstanden ist.

Hochholdinger » Richtig. Es gibt in jeder Pflanze von Natur aus Mutationen. Detlef Weigel hat dazu eine interessante Berechnung gemacht: Auf einem ein-Hektar-großen Weizenfeld gibt es pro Generation 20 Milliarden natürliche Mutationen. Damit befinden sich bereits auf so einem kleinen Feld statistisch in jedem Gen die unterschiedlichsten Mutationen.

Was bedeutet das Urteil für die europäische Bevölkerung?

Hochholdinger » Kurzfristig erstmal nichts, weil momentan noch keine genom­editierten Pflanzen auf dem Markt sind. Ende des Jahres soll jedoch das erste Produkt einer genomeditierten Pflanze in den USA auf den Markt kommen. Eine Soja-Sorte, bei der durch Ausschaltung von zwei Genen der Gehalt der einfach ungesättigten Ölsäure von zwanzig auf achtzig Prozent erhöht wurde. Die Reduzierung von mehrfach ungesättigten Fettsäuren zu Gunsten von einfach ungesättigten in der menschlichen Ernährung senkt den Cholesterinspiegel und somit das Herzinfarktrisiko.

Doch solche Pflanzen wird es in der EU bis auf absehbare Zeit vermutlich nicht geben. Große Unternehmen wie Bayer und BASF haben angekündigt, dass sie nach diesem Urteil genomeditierende Technologien für Nutzpflanzen in Europa nicht weiterverfolgen, sondern auf den amerikanischen Markt ausweichen.

Mittelfristig, wenn sich genomeditierte Pflanzen in den großen Agrarländern Nord- und Südamerikas etabliert haben, wird es für unsere Bauern schwierig sein, damit zu konkurrieren. Sie können auf einer geringeren Fläche produziert werden und brauchen weniger Dünger oder Pestizide. Für die europäischen Landwirte ist das ein klarer Wettbewerbsnachteil.

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Vollkommen gleich? – Genomeditierte Pflanzen lassen sich zumindest auf Genebene nicht von solchen mit natürlich entstandenen Mutationen unterscheiden. Foto: Pixabay

Und langfristig betrachtet, müssen wir die globalen Auswirkungen im Blick behalten. In einem Bericht von 2008 prognostizierten Wissenschaftler, dass die landwirtschaftliche Produktion bis 2050 um siebzig bis hundert Prozent gesteigert werden muss, um die wachsende Weltbevölkerung zu versorgen. Das ist mit den klassischen Methoden nicht zu erreichen, insbesondere auch unter Berücksichtigung eines rasant voranschreitenden Klimawandels. Wir müssen alle verfügbaren Methoden in Betracht ziehen, um dieses Problem im Rahmen einer nachhaltigen und ressourceneffizienten Landwirtschaft zu lösen. Methoden der Genomeditierung werden dabei weltweit eine wichtige Rolle spielen, außer in Europa.

Wie wirkt sich das Urteil auf die Wissenschaft aus?

Hochholdinger » Da muss man unterscheiden zwischen Grundlagenforschung und translationalen Ansätzen. Für die Grundlagenforscher wird sich kaum etwas ändern, da diese ohnehin Gentechnik-zertifizierte Klimakammern und Gewächshäuser haben. Von Freisetzungsversuchen werden sie sich trotzdem distanzieren, weil es nach dem Urteil ein zu großer Aufwand ist, solche zu beantragen. Falls genomeditierte Pflanzen im Feldversuch getestet werden sollen, dann suchen sich die Forscher Kooperationspartner in den USA, wo solche Experimente ohne Zulassung möglich sind.

Aber translationale Ansätze, die Merkmale von praktischer züchterischer Relevanz mit Genomeditierung untersuchen wollen, werden es schwer haben, gefördert zu werden. Wozu sollte zum Beispiel das BMBF solche Projekte auch fördern, wenn sie hier ohnehin keine Anwendung finden? Klein- und Mittelständische Unternehmen in Europa werden sich vermutlich ebenfalls aus der Genomeditierungs-Forschung zurückziehen, da es für die so erzeugten Produkte keinen Markt gibt.

Die Direktoren des Max-Planck-Instituts für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln haben in ihrer Stellungnahme zum Urteil folgendes geschrieben: „Schließlich wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sicherlich dazu führen, dass hervorragend ausgebildete junge europäische Wissenschaftler in landwirtschaftliche Unternehmen in außereuropäische Staaten abwandern werden.“

Hochholdinger » Das kann durchaus passieren. Talentierte Wissenschaftler aus Europa werden sich zweimal überlegen, ob sie in Europa forschen wollen oder lieber in Nordamerika. Umgekehrt werden sich auch talentierte internationale Pflanzenwissenschaftler überlegen, ob sie in Europa forschen wollen.

Was kann die Wissenschaft tun, um das Kind wieder aus dem Brunnen zu holen?

Hochholdinger » Das Urteil hat ein völlig falsches Zeichen gesetzt. Vor allem sind die Begründungen für uns Wissenschaftler schockierend, weil sie dem wissenschaftlichen Konsens widersprechen. Deshalb muss in jedem Fall eine breitere wissenschaftliche Kommunikation mit der Öffentlichkeit stattfinden. Wer die Möglichkeiten neuer Züchtungsverfahren durch gezielte Genomeditierung versteht, wird zustimmen, dass diese Verfahren große Zukunftschancen für die Landwirtschaft eröffnen. Erfreulich waren die positive Berichterstattung in den großen Tageszeitungen und das Unverständnis vieler Kommentatoren über dieses Urteil. Dies war in der Vergangenheit bei den klassischen transgenen Methoden nicht immer der Fall. Auch auf Twitter haben sich so viele Wissenschaftler zu Wort gemeldet, wie selten zuvor. Die Wissenschaftskommunikation muss verstärkt werden, damit die breite Bevölkerung versteht, um was es geht.

Zu guter Letzt ist die Wissenschaft dazu verpflichtet, intensiver mit den Politikern ins Gespräch zu kommen – und zwar europaweit. Die Politiker müssen davon überzeugt werden, dass die gesetzliche Regelung von 2001 nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspricht und dringend überarbeitet werden muss. Ob eine Änderung dieser Richtlinie mit den aktuellen politischen Konstellationen in Europa möglich ist, ist jedoch fraglich.



Zur Person

An der Universität Freiburg studierte Frank Hochholdinger Biologie und promovierte 1999 im pflanzengenetischen Labor von Günter Feix. Anschließend leitete Hochholdinger nach einem zweijährigen Auslandsaufenthalt an der Iowa State University neun Jahre eine Forschungsgruppe am Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen an der Uni Tübingen. Seit 2010 ist er Professor für funktionelle Genomik der Nutzpflanzen an der Uni Bonn.