Editorial

Buchbesprechung

Larissa Tetsch


Buchcover: Albtraum Wissenschaft

Anne Christine Schmidt:
Albtraum Wissenschaft
Herausgeber: TEXTEM VERLAG; 1. Edition (28. Februar 2023)
Sprache: Deutsch
Taschenbuch: 154 Seiten
ISBN-10: 3864852862
ISBN-13: 978-3864852862
Preis: 16 Euro

Erlebnisse einer Aussteigerin

(15.02.2024) Geschichte wird von den Siegern geschrieben – auch in der Wissenschaft. Eine sehr persönliche Geschichte vom Scheitern im Wissenschaftssystem erzählt Anne Christine Schmidt.

Die Lebenserinnerungen von erfolgreichen Wissenschaftlern lehren uns, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit eine Karriere in der Forschung gelingen kann. Liest man Interviews mit Wissenschaftlern oder Forscherinnen, geführt beispielsweise anlässlich der Verleihung eines wichtigen Preises, oder ihre am Ende der Karriere niedergeschriebene Biografie, so tauchen darin immer wieder dieselben Faktoren auf, die für den Erfolg fast unverzichtbar zu sein scheinen. Darunter besonders bedeutsam: die Förderung durch mindestens einen einflussreichen Gönner, der unterstützt ohne dabei einzuengen. Ohne derartige Hilfe scheint es fast unmöglich, im Wissenschaftssystem zu bestehen.

Über die Menschen, die zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Wissenschaftssystem aussteigen, und ihre Beweggründe erfährt man dagegen nur selten etwas. Über einen Misserfolg – sei er selbst verschuldet oder nicht – spricht halt niemand gerne. Dabei wäre es besonders wichtig zu erfahren, aus welchen Gründen Menschen, die sich ursprünglich für die Forschung entschieden haben, dieser dann letztlich den Rücken kehren. Anne Christine Schmidt, Biochemikerin und Pflanzenforscherin aus Sachsen, ist kurz vor der Habilitation, als sie aus dem Wissenschaftssystem aussteigt und ein Leben ohne sozialversicherungspflichtigen Job beginnt. Im Internet propagiert sie ein Leben als Selbstversorgerin, das sie nach eigenen Aussagen glücklich macht. Die Geschichte ihres Ausstiegs erzählt sie in ihrem Buch „Albtraum Wissenschaft“, das bereits 2016 im Selbstverlag als E-Book erschienen und heute als Band in der Reihe „Kleiner Stimmungsatlas in Einzelbänden“ des Textem-Verlags auch gedruckt erhältlich ist.

Enthusiasmus und Ernüchterung

Gerade lang genug, damit wir uns ein Bild von Schmidt als begeisterter „Wald-und-Wiesen-Biologin“ und engagierter Studentin machen können, verweilt die Autorin bei den Anfängen ihrer wissenschaftlichen Karriere – einer Zeit, in der sie noch viel Unterstützung von Chefs und Mentoren erfahren hat. Die eigentliche Geschichte beginnt dann mit ihrer Postdoc-Zeit, also dem Karriereabschnitt, in dem Forschende den Weg in die Eigenständigkeit suchen (müssen). In dieser Phase ist es besonders wichtig, Unterstützung zu bekommen, aber gleichzeitig genug Freiheit zu behalten, um ein eigenes Forschungsthema etablieren zu können. Naturgemäß kommt es in dieser Phase häufig zum ersten Interessenkonflikt zwischen Gruppenleiter und Nachwuchsforscher. Was Schmidt als Postdoc und später als Habilitandin bis zu ihrem Ausstieg mit 39 Jahren an drei sächsischen Universitäten und Großforschungseinrichtungen (ihr Lebenslauf und die beteiligten Institutionen lassen sich im Internet mühelos recherchieren) erlebt hat, ist schier unglaublich: Da wird ihr Forschungsprojekt beendet, weil der Arbeitsgruppenleiter Drogen mit Institutsmitteln hergestellt und verkauft hat, ihr späterer „Habil-Papa“ entsorgt ein für ihre Experimente unverzichtbares Großgerät ohne Absprache, in ihrem Namen werden Drohbriefe an Doktoranden geschrieben und ihr aus der Promotion mitgebrachtes Forschungsthema geht auf eine Kollegin über.

Es ist eine Geschichte vom Kampf gegen Windmühlenflügel im Wissenschaftssystem, von Themenklau, von mangelnder Unterstützung, von Intrigen im Kollegenkreis, von abgelehnten Anträgen, verweigerten Stellen und immer wieder von völlig willkürlich anmutenden Schikanen der Vorgesetzten – meist etablierten Professoren mit Dauerstelle. Trotz der Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen – räumlich und auch thematisch – kann Schmidt nicht dauerhaft Fuß fassen und verlässt die letzte Arbeitsstätte ohne den von ihr angestrebten Qualifizierungsabschluss, die Habilitation.

Sicher kein Einzelschicksal

Nun könnte man das Ganze als ein Einzelschicksal betrachten, wäre da nicht dieser negative Beigeschmack dadurch, dass die Rezensentin in ihrem viel kürzeren Karriereweg an deutschen Universitäten viele von Schmidts Erfahrungen in der einen oder anderen Weise ebenfalls erlebt hat. Das beschwört Erinnerungen herauf, die vor allem mit dem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins zu tun haben – einem Gefühl, das auch Schmidts Situation am besten beschreibt; ein Ausgeliefertsein, das die Nachwuchsforscherin seelisch und körperlich krank macht. Auch hierfür kann die Rezensentin leider gleich mehrere Beispiele aus ihrem direkten früheren Umfeld nennen. Wer einmal erlebt hat, was konstanter Druck von außen, Repressalien, Existenzangst und Willkür mit einem Menschen machen, versteht Schmidts Erleichterung darüber, dieser Situation entkommen zu sein – eine Erleichterung, die möglicherweise auch der Grund ist für manche Aussagen, die für viele Wissenschaftler vermutlich schwer zu akzeptieren sind.

Augen auf bei der Berufswahl

Denn leider hinterlässt nicht nur Schmidts Geschichte einen negativen Nachgeschmack, sondern auch ihre – von der Rezensentin als extrem empfundene – Wissenschaftsfeindlichkeit. Ob es sich dabei um Überzeugung handelt oder diese eher als Zeichen einer verständlichen Verbitterung zu sehen ist, lässt sich schwer festmachen. So beschwert sich Schmidt wiederholt darüber, dass ihr Forschungsinstitut, obwohl dort an Pflanzen geforscht wird, steril ist und völlig „ungrün“. Das ist eigentlich selbstverständlich, denn Forschungsinstitute müssen wie jedes andere große Büro- oder Industriegebäude in erster Linie eine moderne, zweckmäßige Arbeitsumgebung bieten. Dass Forschung unter reproduzierbaren Bedingungen ablaufen muss, dass dazu Pflanzen in der regulierbaren Klimakammer und nicht auf dem Institutsbalkon angezogen werden müssen, versteht sich ebenfalls von selbst. Wer sich daran stört, findet als Biologin eine Vielzahl an anderen Betätigungsfeldern, etwa im Naturschutz oder der Wildtier- oder Biodiversitätsforschung.

Manche Aussagen zur naturwissenschaftlichen Forschung selbst, etwa zur Gentechnik oder dem Umgang mit giftigen Substanzen im Labor, klingen geradezu nach Verschwörungstheorien. Der (chemischen) Industrie mit ihrer „naturzerstörerischen, anraffenden Tätigkeit“ stellt Schmidt ebenfalls ein katastrophales Zeugnis aus. Das ist insofern schade, als diese Aussagen Schmidts berechtigte Kritik am Wissenschaftssystem relativieren. Noch problematischer in dieser Hinsicht ist die Liste mit den „nötigen Voraussetzungen für eine Karriere im Wissenschaftssystem“, die für die vielen engagierten und rechtschaffenen Forscherinnen und Forscher einem Schlag ins Gesicht gleichkommt. Die Aufzählung an durchweg schlechten Charaktereigenschaften, die erfolgreichen Wissenschaftlern zugeschrieben werden, legt den Verdacht nahe, dass das Buch eher als Abrechnung mit den Gewinnern des Systems gedacht ist, denn als Hinweis auf seine Missstände. Letzteres ist aber das, was wir dringend brauchen, um das System verbessern zu können, insbesondere um die Abhängigkeit von Nachwuchswissenschaftlern zu verringern.

Abrechnung mit dem System

Auf den ersten Blick wirkt der Titel „Albtraum Wissenschaft“ sicher überzogen. Tatsächlich ist es ein Albtraum, was Schmidt im Wissenschaftssystem erlebt hat. Selbst nach ihrem Ausstieg gehen die Probleme weiter, da sie als hochqualifizierte Fachkraft auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle außerhalb der Forschung findet. Mit diesem Problem ist sie im Kreise der Promovierten und in einem Land, das den Begriff der „Überqualifizierung“ kennt, alles andere als allein. Trotzdem sei dahingestellt, ob wirklich die Wissenschaft schuld an der albtraumhaften Situation ist, oder nicht eher die Menschen, die die Schwächen des Wissenschaftssystems ausnutzen.

Ob Schmidt selbst zu manchem Konflikt beigetragen hat oder im Nachhinein durch Verbitterung auch manches negativer beurteilt als es ein objektiver Beobachter tun würde, bleibt offen. Ein Indikator für Letzteres ist, dass sie ihre eigene Forschung – die immerhin zu mehreren hochrangigen Publikationen und bewilligten Anträgen, unter anderem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, geführt hat – rückblickend als Zeitverschwendung darstellt, die niemandem etwas gebracht hat, außer „Strom und giftige Chemikalien zu verbrauchen“. Dabei sollte man wohl einen Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft voraussetzen können, und Schmidt selbst hatte durch ihre Forschung zumindest einige Jahre ein finanzielles Auskommen wie durch jede andere sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auch. Lediglich das Habilverfahren war tatsächlich völlig umsonst, was nach jahrelanger Plackerei ärgerlich genug ist. Letztlich bleibt nach der Lektüre von „Albtraum Wissenschaft“ die Frage, warum Schmidt es in dem System überhaupt so lange ausgehalten hat. Immerhin gibt es auch andere spannende Jobs, für die man einen naturwissenschaftlichen Hintergrund braucht: Wissenschaftsjournalistin zum Beispiel!





Letzte Änderungen: 15.02.2024