Editorial

Buchbesprechung

Andrea Pitzschke


Buch-Cover: Weshalb auf die Wissenschaft hören? Antworten aus Philosophie und wissenschaftlicher Praxis

Andreas Bartels, Dennis Lehmkuhl (Herausgeber):
Weshalb auf die Wissenschaft hören? Antworten aus Philosophie und wissenschaftlicher Praxis
Herausgeber: pringer; 1. Aufl. 2022 Edition (2. Dezember 2022)
Sprache: Deutsch
Taschenbuch: 415 Seiten
ISBN-10: 3662656876
ISBN-13: 978-3662656877 (Softcover)
ISBN: 978-3-662-65688-4 (eBook)
ASIN: B0BNTDLMBS
Preis: 24,99 Euro (Taschenbuch), 19,99 Euro (eBook)

Zuhören und sacken lassen

(15.05.2023) Auf über 400 Seiten teilen Philosophen, Ökonomen und Naturwissenschaftler ihre Gedanken zur Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft – mal anschaulich, mal etwas umständlicher. Ob es die richtige Zielgruppe erreicht?

Die Titelfrage „Weshalb auf die Wissenschaft hören?“ löst sicher bei so manchem Wissenschaftler spontan die Gegenfrage aus: „Weshalb nicht?“ oder „Auf wen denn sonst?“. Wissenschaft schafft Fakten, und Fakten geben Orientierung und Entscheidungsgrundlagen – unmittelbar und für die Zukunft. Ganz so einfach ist die Sache dann aber doch nicht. Wie und warum, das erklären sieben Philosophen, vier Naturwissenschaftler und drei Ökonomen in ihren Buch-Beiträgen.

Es ist ein Versuch, die gegenseitigen Horizonte zu erweitern; vorausgesetzt, der Leser lässt sich auf die Formulierungs- und Denkweise der jeweiligen Disziplin ein. Schade ist, dass manche (wenige) Kapitel schwungvoll, anschaulich auch für Fachfremde beginnen, dann aber in für Außenstehende schwer erschließbare „Hardcore“-Materie und -Sprache abdriften.

Das Buch ist divers in mehrerlei Hinsicht – etwa was den Hintergrund der prominenten Autoren angeht oder das erwartete Vorwissen des Lesers bei einzelnen Kapiteln, Aktualität (auch die der Zitationen) und Stil. Entsprechend schwierig ist es, eine konkrete Leser-Zielgruppe zu definieren. Einige weit ausholende philosophische Ausführungen mag ein Faktenlast gewohnter Leser als verschriftlichte Entschleunigung empfinden und ungeduldig überblättern. Ein Zweiter fühlt sich in eben diesen Kapiteln bestens aufgehoben und schreckt dafür bei naturwissenschaftlichen Diskursen und Termini („ionisiertes Restgas“ …) zurück. Ein Dritter weiß die verschiedenen Perspektiven, Stile und Schwierigkeitsstufen zu schätzen, und schnappt von allem etwas auf.

Historische Fakten, weise Zitate und vieles mehr

Unterm Strich kommt eine stattliche und vielfältige Leseausbeute zusammen: historische Fakten (bereits 1957 wurde vor dem CO2-Erderwärmungsproblem gewarnt), klimaökonomisches Wissen (EU-ETS und CO2-Bepreisung), physikalische Zusammenhänge (Stromnetzstabilität), ökonomisch-ökologisches Verständnis (etwa zum „Windrad-Größen-Anzahl-Dilemma“ für die Tierwelt an Land und auf See) und vielerlei Denkanstöße (Green-Green-Konflikt, moralischer Zufall) – für sich selbst und zum Weitergeben. Obendrauf gibt es noch weise Zitate („Paul Valéry: Alles Einfache ist falsch, alles Komplizierte unbrauchbar“) sowie griffige Akronyme und Bezeichnungen (NIMBY – not in my backyard; Homo oeconomicus).

Als „Auf-die-Wissenschaft-Hörer“ betrachten einige Kapitel Einzelpersonen bzw. die breite Öffentlichkeit, andere gezielt politische Entscheidungsträger. Vieles im Buch dreht sich um die SARS-CoV-2-Pandemie und den Klimawandel, denn gerade dort driften Wissenschaftshörer und -nichthörer auseinander. Beide Themen fungieren primär als konkrete, aber abstrahierbare Beispiele, die sich zwar modellbasiert vorhersagen, jedoch nicht in Stein meißeln lassen. Ohne modellbasierte Berechnungen, die immer auch auf Szenarien beruhen, wären politische Entscheidungsträger blank. Dem Einblick in mathematische Modelle zur Pandemieentwicklung von Systemimmunologe Michael Meyer-Hermann folgt die Kritik an der Politik, Maßnahmen nicht oder zu spät gemäß wissenschaftlicher Empfehlung ergriffen zu haben. Maßgeschneiderte Lösungen, wie sie beispielsweise Klimafolgen-Forscher erarbeiten, bringen nur etwas, wenn sie gehört werden.

Unter dem aufrüttelnden Titel „Klimawandel – mit dem Rücken zur Wand“ greift Klimaforscher Mojib Latif zu einem gezinkten Würfel als anschauliche Darstellung zu Klimawandel(-phänomenen). Er erklärt die Schalter der Erderwärmung, Klimamodelle und -folgen. Auch er verweist darauf, dass wissenschaftliche Vorhersagen nicht definitiv, sondern immer nur Projektionen, Wenn-dann-Konstellationen sind. Sie unterliegen komplexen Einflussgrößen wie Änderungen in Meeresströmungen oder menschlichem (Emissions-)Verhalten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit sei wichtig, und Grundlagenforschung unerlässlich. Fest steht aber: „Die Wissenschaft weiß genug, um schnelle und tiefgreifende Verringerungen der weltweiten Treibhausgasemissionen zu fordern.“

Ernüchternder Befund

Warum diese Forderungen nicht recht gehört werden, untersucht der Klimaökonom Gernot Klepper. Ernüchternd sein Befund: „Analysen über wirtschaftliche Zusammenhänge und wirtschaftspolitische Beratung gibt es schon seit Langem, sie werden in der Öffentlichkeit sowie von Regierungen angenommen und auch häufig umgesetzt. Trotzdem scheint es beim Klimaschutz um weniger vertrauenswürdige Forschungsergebnisse zu gehen als bei den bisherigen wirtschaftspolitischen Empfehlungen.“ An der Qualität der Analysen liegt es nicht, vielmehr stecken unter anderem ökonomische Eigeninteressen dahinter, etwa bei der jahrelang verhinderten CO2-Bepreisung. Es ist aber komplizierter, und Kleppers Beitrag – faktenlastig, verständlich, strukturiert – unbedingt lesenswert. Selbst Wissenschaftler hören aus Eigeninteresse mitunter nicht auf die Wissenschaft. Stichwort Fleischkonsum. Hierzu passt der Einblick in menschliches (Impf-)Verhalten und den Umgang mit statistischen Zusammenhängen von Philosophin Anette Dufner, die auf das „Weshalb“ des Buchtitels knapp antwortet: „… weil in der Pandemie Tote und durch Umweltschutz Katastrophen verhindert werden.“

Eine immer wieder auftretende Feststellung mehrerer Beiträge betrifft die Gültigkeit(sdauer) wissenschaftlicher Erkenntnisse oder Vorhersagen. Sie gemäß wachsendem Wissensstand zu revidieren, zu diskutieren, zu adaptieren, ist normal und gehört zum Forschungsalltag. Außerhalb der Fachwelt stattfindende Revisionen interpretiert die Öffentlichkeit jedoch als mangelnde Verlässlichkeit. Das Vertrauen schwindet. Wie Philosoph Martin Carrier ausführt, steckt die „praktisch wirksame Wissenschaft“, und insbesondere die biomedizinische Forschung, in der Zwickmühle zwischen Verlässlichkeit und Relevanz. Verlässliche, reproduzierbare Ergebnisse gewinnt man vor allem mit einem vereinfachenden Untersuchungsdesign, welches komplexe Einflussgrößen ausblendet (etwa Impfstofftests an Mäusen in keimfreier Umgebung). Diese Vereinfachung steht aber im Widerspruch zur komplexen Realität mit all ihren Störfaktoren und führt zum Vorwurf, die Ergebnisse seien irrelevant.

Aus allen im Buch vertretenen Disziplinen richtet sich der Blick auf den Aspekt der „Unsicherheit“, insgesamt 92-mal erwähnt. Hierzu sagt beispielsweise Philosoph Martin Carrier: „Die Wissenschaft sammelt nicht bloß Erkenntnisse, sondern deckt auch Lücken und Irrtümer auf und verwirft zuvor akzeptierte Lösungen. Durch die Anerkennung dieser Art von Revidierbarkeit und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur rücken Wissenslücken und Fehlbarkeit in den Vordergrund.“ Gernot Kleppers klimaökonomische Sichtweise dazu: „Diese Unsicherheiten stellen Risiken für politische Entscheidungsträger dar, falls eine Entscheidung im Klimaschutz zu anderen Ergebnissen führt, als von den Modellen vorhergesagt. Sie sind auch ein Risiko für den Einzelnen, wenn er sich für eine emissionsmindernde Investition entscheidet.“ Entscheidend für die Akzeptanz der Ergebnisse (Anm.: Handlungsoptionen) der verschiedenen Forschungsansätze und Modelle ist deshalb, wie die unvermeidlichen Unsicherheiten und Unterschiede in den Modellergebnissen kommuniziert werden.

Politiker lesen oft nur die Studienzusammenfassung

Rafaela Hillerbrand, Professorin für Technikethik und Wissenschaftsphilosophie am Karlsruher Institut für Technologie, teilt diese Ansicht: „Verschweigen von Unsicherheiten verunmöglicht den rationalen Diskurs. […] Vernachlässigen zu Überinterpretation wissenschaftlicher Aussagen.“ Ein noch so penibles und transparentes Vorgehen seitens der Wissenschaft scheitert aber, wenn der Hörer sich nicht die angemessene Zeit nimmt.

Physiker und Wissenschaftserklärer Harald Lesch verweist auf das Problem, dass Politiker oft nur die Studienzusammenfassung lesen. Informationen zu Wahrscheinlichkeiten, Rahmenbedingungen, relativierende Aussagen fallen unter den Tisch. Lesch zeichnet in seinem Beitrag zu „Politikberatung und Wissenschaft“ ein erfrischendes Bild von einem Land im Idealzustand: „Immer wieder werden die Folgen wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen zusammen mit politischen Akteuren aller Couleur, Regierungsparteien und Opposition, offen und transparent diskutiert.“ Fehler oder Fehlentscheidungen werden akzeptiert, aber kein zweites Mal begangen. Leschs Formel zum Idealzustand, einer politisch-wissenschaftlichen „Dreieinigkeit“, lautet: Klarheit im Argument, Transparenz in der Entscheidung und Offenheit bei Korrekturen. Diese Formel bringt glaubwürdige und gesellschaftlich akzeptierte Gesetze und Regularien hervor.

„Weshalb auf die Wissenschaft hören?“ ist kein Buch, das man einfach von vorn bis hinten durchliest – weniger wegen der stattlichen Seitenzahl (407), sondern wegen des „Sackenlassens“. Unmittelbare Überzeugungsarbeit könnte das Buch nur leisten, wenn es einen eingefahrenen Wissenschaft-Misstrauenden zur Lektüre brächte. Nur kommt diese Konstellation wohl leider kaum zustande, da jemand, der nicht auf die Wissenschaft hört, sie auch nicht liest.





Letzte Änderungen: 15.05.2023