Editorial

Buchbesprechung

Martin Neukamm


Buch-Cover Amazonah

Rouven Marian Metternich:
Panta Rhei - Eine Reise auf dem Fluss der Evolution
Herausgeber: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg); 1. Edition (19. November 2021)
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe: 360 Seiten
ISBN-10: 3534406273
ISBN-13: 978-3534406272
Preis: 48 Euro (Hardcover), 38,99 Euro (PDF E-Book)

Gründlich aufgearbeitet

(09.03.2023) Auf über 300 Seiten, mit vielen Beispielen gespickt, beschreibt Rouven Marian Metternich die molekulargenetischen Werkzeuge der Evolution.

Panta Rhei – diese Weisheit des griechischen Philosophen Heraklit beschreibt die wohl fundamentalste Eigenschaft alles real Existierenden: Nichts in der Welt ist unveränderlich, wir leben in einem sich unablässig wandelnden, ja evoluierenden Kosmos. Somit ist der Haupttitel des vorliegenden Buchs gut gewählt, wogegen der Untertitel für Missverständnisse sorgen könnte. Er erweckt den Eindruck, das Buch widme sich exklusiv dem zeitlichen Verlauf der Bioevolution, ohne ihre Triebkräfte angemessen zu würdigen. Tatsächlich jedoch behandelt der Autor die molekulargenetischen Mechanismen, die bei der Entstehung biologischer Komplexität die Hauptrolle spielen, in einer für populärwissenschaftliche Evolutionsbücher erstaunlichen Gründlichkeit und Tiefe.

Von Raum und Zeit

Der Inhalt des Buchs untergliedert sich in zwei Hauptabschnitte: Im ersten („Raum: Gene und Genome“) bespricht Rouven Marian Metternich das Equipment, mit dem der genetische Werkzeugkasten der Evolution bestückt ist. Der Biologe diskutiert Aufbau, Funktion und evolutionäre Entstehung der informationstragenden Biomoleküle RNA und DNA, den „langen Weg vom Gen zum Protein“ sowie die Bedeutung der Genregulation für die Entstehung zellulärer und morphologischer Komplexität.

Der zweite Teil des Buchs („Zeit: Der Fluss des Lebens“) widmet sich dem Verlauf der Evolution in den letzten 700 Millionen Jahren. Die Stammesgeschichte verlief turbulent, fünf Massenaussterben führten zu Brüchen. Jeder ökologische Zusammenbruch bereitete die Bühne für die nach ihm kommenden Lebensformen. Die Säugetiere etwa hätten nie jene beeindruckende Ausbreitung erfahren, wären die ökologischen Nischen nicht durch den kolossalen Untergang der Dinosaurier leergefegt worden.

In diesem Buchteil diskutiert der Autor entscheidende genetische Faktoren, die zur Entstehung ausgewählter Schlüsselmerkmale führten – etwa der Kiefer der Gnathostomata (Kiefermäuler) oder der Echolot-Ortung der Wale. Dabei wird deutlich, dass Evolution ein komplexes Systemgeschehen ist. Anhand einer der faszinierendsten Transformationen im Känozoikum, der evolutionären Entwicklung und Radiation der Wale, zeigt Metternich, wie Geologie, klimatische Veränderungen, Ökologie und Genetik ineinandergreifen und gemeinsam den Kurs der Evolution bestimmen.

Biologische Komplexität durch regulatorische Gennetzwerke

Metternichs Buch vermittelt dem Leser die wichtige Erkenntnis, dass weder die Anzahl der Gene noch die Genomgröße gute Indikatoren für morphologische Komplexität sind. Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans beispielsweise besitzt trotz seiner Einfachheit kaum weniger Gene als der Mensch, und die Genome einiger Amöben sind bis zu zweihundert Mal größer als das menschliche.

Ob sich aus einem Häuflein undifferenzierter Zellen ein Fadenwurm oder ein Mensch entwickelt, richtet sich im Wesentlichen nach der genregulatorischen Choreographie, die in verschiedenen Zellen unterschiedliche Zellprozesse initiiert. So müssen in Zellen, aus denen sich Hirn und Rückenmark entwickeln, andere Gene aktiviert und stillgelegt werden als in solchen, aus denen sich Haut und Muskelzellen bilden. Essenziell ist dabei die Erkenntnis, dass eine ganze Reihe von „Schaltern“ diesen Prozess beeinflusst. Im Gegensatz zu Lichtschaltern, die nur zwei Zustände kennen, nämlich „an“ oder „aus“, ist die Sache bei der Genregulation deutlich komplizierter.

Zentral für die Regulation der Genaktivität ist eine DNA-Sequenz am Anfang eines jeden Gens, der sogenannte Promotor. Von dieser regulatorischen Region aus startet die RNA-Polymerase die Transkription. Voraussetzung dafür ist die Anwesenheit spezifischer Transkriptionsfaktoren (TF). Das sind „Schalter“-Proteine, die zu den Promotor-Bindestellen passen, sich dort anlagern und die RNA-Polymerase sozusagen richtig „in die Spur“ setzen. Weitere allgemeine und zellspezifische Faktor-Proteine innerhalb oder außerhalb der Zelle beeinflussen die Genaktivierung entweder positiv oder negativ. Sie vereinigen sich mit der RNA-Polymerase zu regelrechten Initiationskomplexen, die das Ablesen des Gens einleiten oder abschwächen.

Komplexität durch Kombinatorik

Wenn wir uns vor Augen halten, dass in jeder Zelle viele tausend Gene reguliert werden, erkennen wir, dass es nicht für jedes Gen beziehungsweise seinen Promotor eigene Schalter-Moleküle geben kann. Sie würden ja ebenfalls wieder von Genen stammen, die ihrerseits reguliert werden müssten und so weiter – eine nicht zu bewältigende Bürokratie!

Metternich zeigt, wie elegant die Natur dieses Problem löste – nämlich durch Kombinatorik: Einerseits gibt es eine begrenzte Anzahl regulatorischer Moleküle: Transkriptionsfaktoren, ihre Untereinheiten und Co-Faktoren, lange nicht-codierende RNA-Moleküle (lncRNA), Micro-RNAs (miRNAs) und so weiter. Da sie alle die Transkription in der einen oder anderen Weise beeinflussen, entscheidet das Zusammenspiel dieser Faktoren, wann welche Gene wie stark aktiviert werden. Andererseits haben die meisten Promotoren einen unterschiedlichen Satz von Bindungsstellen für mehrere Faktoren. Die Spezifität eines Promotors richtet sich nach der Kombination dieser Bindungsstellen.

Da auch Zelltyp-spezifische Moleküle als regulatorische Signalgeber wirken, differenzieren sich Zellen unter dem Einfluss ihrer chemischen oder physikalischen Umgebung unterschiedlich. Benachbarte Zelltypen haben also oft einen Einfluss darauf, welche Gene aktiviert und deaktiviert werden, sprich: zu welchen Geweben und Organen sich die Zellen differenzieren. Auf diese Weise gewinnen die Zellen sozusagen „Lageinformation“, die ihr weiteres Schicksal bestimmt. Es liegt ein komplexes Wechselspiel aus Embryonalzustand und Genaktivierung vor.

Durch spielerisches Drehen an diesen Stellschrauben und sukzessives Erweitern der kombinatorischen Vielfalt schafft es die Evolution, fast beliebig komplexe regulatorische Gennetzwerke hervorzubringen – und damit in der Folge immer neue Zelltypen und Organe.

Kleine Helfer, gewaltiges Evolutionspotenzial

Sein Hauptaugenmerk legt Metternich auf die faszinierenden Möglichkeiten nicht-codierender DNA-Abschnitte, die noch vor wenigen Jahrzehnten als nutzloser DNA-Müll („Junk-DNA“) galten. Wir beginnen mehr und mehr zu verstehen, dass diese Genomabschnitte – vor allem ihre fortlaufende Ausweitung und Diversifizierung – in der Evolution komplexer Lebensformen eine wichtige Rolle spielten.

Ein Beispiel: Die meisten Protein-codierenden Gene von Mensch und Seeanemone unterscheiden sich kaum. Warum sind dann Menschen so viel komplexer als Blumentiere? Die Antwort hatte viele überrascht: Unter anderem, weil der Mensch mehr als 1.500 verschiedene miRNAs besitzt, während die Seeanemone nur über etwa 90 verfügt.

Diese regulatorischen Moleküle sind lediglich 22 Basenpaare lang und werden nicht in Proteine umgeschrieben. Trotz ihrer geringen Größe ist ihr evolutionäres Potenzial jedoch gewaltig: Die genregulatorischen Helfer werden im Lauf der Evolution fortwährend dupliziert, sammeln sich im Genom an und werden durch Mutationen leicht abgewandelt. Je nach Struktur und Expressionsort legen sie bestimmte Gene still und differenzieren dadurch die Zellprozesse. Dies tun sie, indem sie sich an bestimmte Gentranskripte binden und deren Abbau einleiten oder durch Blockade eine Unterbrechung der Proteinherstellung bewirken.

Micro-RNAs waren ein wichtiger Baustein, der es Tieren und Pflanzen ermöglichte, komplexere genregulatorische Netzwerke zu entwickeln. Je mehr von ihnen sich zu regulatorischen Netzwerken zusammenschließen, desto komplexer die Körperform beziehungsweise desto größer die Anzahl verschiedener Zelltypen. Auch beim Übergang von Einzeller-Kolonien zu differenzierten Vielzellern spielten sie eine wichtige Rolle.

Ein anderes Beispiel ist das zentrale Nervensystem der Säugetiere, das in der Evolution stetig komplexer wurde. Hand in Hand ging diese Entwicklung mit der Zunahme der Anzahl bestimmter RNA-Transkripte, den lncRNAs. Da lncRNA-Gene gewebsspezifisch exprimiert werden und als zusätzliche Ebene bei der Regulation wirken, wird ein hohes Maß an Zelltypspezifität erreicht. Die Zunahme der Anzahl der lncRNA-Gene und deren Modifikation bedingte sowohl eine Größenzunahme des Gehirns als auch die Diversifizierung der neuronalen Zelltypen. Mutationen in einem lncRNA-Gen in der HAR1-Region waren wiederum für die rasante Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde in den letzten sieben Millionen Jahren mit verantwortlich.

Intelligent Design und nichtreduzierbare Komplexität

Metternich greift an einer Stelle auch anti-evolutionistische Einwände auf, nämlich beim Translationssystem von Säugetierzellen. Deren Proteinfabriken, die Ribosomen, setzen sich aus über fünfzig verschiedenen Proteinen und mehreren riesigen RNA-Molekülen zusammen. Eine graduelle Evolution dieser „nichtreduzierbar komplexen“ Maschine zum Zweck der Proteinsynthese erscheint unmöglich, da der Ausfall auch nur einer einzigen Proteinuntereinheit zum funktionellen Versagen des Ribosoms führt.

Wie der Autor bemerkt, liegen die Dinge jedoch anders, wenn sich das System „als evolutionäres Nebenprodukt eines gänzlich anderen Selektionsprozesses entwickelt [hat], wodurch im Laufe der Zeit die Fähigkeit zur Proteinsynthese entstand“ (S. 77).

Wissenschaftler können belegen, dass am Beginn der Evolution katalytisch aktive RNA-Moleküle (Ribozyme) standen. Ihre ursprüngliche Funktion bestand nicht darin, Proteine entstehen zu lassen, sondern ihre eigene Replikation zu optimieren. Die Effizienz dieses Prozesses nimmt erheblich zu, sobald mehrere leicht unterschiedliche Ribozyme komplex arbeitsteilige Verbände bilden und durch Bindung kleinerer Peptide oder einzelner Aminosäuren stabilisiert werden. In weiteren Schritten erlangten die Ribozyme die Fähigkeit, „mehrere Aminosäuren miteinander zu verbinden, um so die Effizienz der eigenen Reaktion noch weiter zu erhöhen“ (S. 79).

Der Autor führt aus, wie sich einzelne Ribozym-Kopien in weiteren Schritten der Subfunktionalisierung auf die Produktion bestimmter Aminosäureketten spezialisiert haben konnten, während andere die Aufgabe übernahmen, die verfügbaren Aminosäuren fest an sich zu binden. Der Prozess schritt fort, bis jede verfügbare Aminosäure ihre eigene tRNA besaß. Wieder andere Ribozyme spezialisierten sich darauf, die mit Aminosäuren beladenen tRNA-Moleküle zu binden. So wurden, unter Wahrung von Funktionalität und Adaptivität, jene Systeme selektiert, in denen die neu entstehenden Peptidketten den höchstmöglichen Vorteil für das Gesamtsystem erwirtschafteten. Am Ende des Prozesses stand der genetische Code samt Proto-Ribosom; eine nichtreduzierbar komplexe Maschinerie, additiv entstanden in vielen kleinen Einzelschritten.

Fazit

Rouven Marian Metternich legt die molekulargenetischen Grundlagen der Evolution gründlich und eloquent dar. Sein Buch gestattet tiefe Einblicke in die evolutiven Ursprünge des genetischen Codes, der Translationsmaschinerie moderner Vielzeller und ihrer genomischen Ökosysteme wie Intronen, ­miRNAs und anderer genregulatorischer Elemente. Dass vor allem Letztere die Tür zur biologischen Komplexität weit aufstoßen, indem sie der Evolution den Aufbau immer neuer und komplexerer genregulatorischer Netzwerke gestatten, erörtert der Autor anhand vieler faszinierender Beispiele.





Letzte Änderungen: 09.03.2023