Editorial

Buchbesprechung

Larissa Tetsch


Buch-Cover Amazonah

Lou Bihl:
Amazonah
Herausgeber: Unken-Verlag (14. September 2022)
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe: 440 Seiten
ISBN-10: 3949286071
ISBN-13: 978-3949286070
Preis: Preis: 22 Euro (gebunden), 16,99 Euro (E-Book)

Dystopie im Schwabenländle

(09.03.2023) Wie leben wir in Deutschland in 10, 20, 30 Jahren? „Amazonah“ zeigt uns eine mögliche Zukunft zwischen Klimawandel und tödlicher Pandemie.

Der Blick in die Zukunft scheint momentan wenig hoffnungsvoll: Klimawandel, Artensterben, das Auftreten neuer Pandemien, politische Radikalisierung und ein Krieg, der die Grenzen Europas erreicht. Wie soll es mit der Welt, wie mit Deutschland weitergehen? Ein mögliches Szenario entwirft Autorin Lou Bihl in ihrem zweiten Roman „Amazonah“ – ein Kunstwort, das darauf anspielt, wie klein die Welt geworden ist, seit wir in fast einem Tag jedes Land der Erde erreichen können.

„Amazonah“ beschreibt ein Deutschland in naher Zukunft; die aktuelle Corona-Pandemie ist erst seit wenigen Jahren Vergangenheit. Wir – die Leser – können davon ausgehen, dass wir diese Zeit noch erleben werden. Und so ist Bihls fiktives Schwabenländle gar nicht so viel anders als heute, nur eben etwas düsterer: Der fortschreitende Klimawandel hat auch vor dem Schwarzwald nicht Halt gemacht, die soziale Ungerechtigkeit hat Slum-artige Wohnviertel um Karlsruhe und Stuttgart aus dem Boden schießen lassen, viele Konsumgüter, die wir gewohnt sind, sind unerschwinglich teuer geworden. Technische Neuerungen wie Hausroboter und autonom fahrende Fahrzeuge helfen den Menschen im Kleinen, die großen Probleme scheinen dagegen ungelöst zu bleiben.

Liebe in Zeiten der Pandemie

In diese Welt tritt eine neue Pandemie, die die Menschheit vor eine ungleich größere Herausforderung stellt als COVID-19. Das mörderische Virus HeLiPa gehört wie Masern- und Rötelnerreger zu den Paramyxoviren und ist wie SARS-CoV-2 von einem tierischen Wirt „übergesprungen“. In „Amazonah“ sind es Affen, die – aus dem abgeholzten Tropenwald geflohen – die tödliche Krankheit in die Armenviertel von Rio de Janeiro bringen. Sehr schnell verbreitet sich die „Rio“-Seuche rund um die Welt.

In dieses realistische Zukunftsszenario bettet Bihl mehrere, miteinander verwobene Erzählstränge. Da ist vordergründig die Geschichte um den Wahlkampf des charismatischen und skrupellosen Bundesgesundheitsministers, der Baden-Württembergs Ministerpräsidenten beerben möchte. Seine intelligente und machtbewusste Frau beeinflusst nicht nur seine politischen Entscheidungen, sondern verfolgt auch ein eigenes Ziel: die Erhöhung der rückläufigen Geburtenquote in Deutschland. Hier kommt Gynäkologin Anna ins Spiel, die eine auf assistierte Reproduktion spezialisierte Klinik leitet, und sich in Ben verliebt – einen deutlich jüngeren Journalisten, der gegen den populistischen Gesundheitsminister kämpft und eher zufällig zum journalistischen Begleiter der Rio-Pandemie wird. Neben dieser konfliktgeladenen Liebesgeschichte entspinnt sich eine zweite zwischen den Ruheständlern Kitty und Kilian, die durch ihre Bodenständigkeit ein Stück weit als Gewissen von Ben und Anna fungieren.

Was uns erspart blieb ...

Lou Bihl, früher Chefärztin der Radioonkologie am Städtischen Klinikum Karlsruhe, greift für ihr Buch auf aktuelle Fachveröffentlichungen über die Corona-Pandemie zurück. Alleine dadurch ist „Amazonah“ für jeden Wissenschaftsinteressierten spannend zu lesen. Das Szenario der im Vergleich zu COVID-19 deutlich gefährlicheren Rio-Krankheit ist überaus glaubwürdig und hinterlässt beim Leser mehr als einmal das Gefühl, dass wir bei der Corona-Pandemie mit einem blauen Auge davongekommen sind. So sterben zehn Prozent der HeLiPa-Infizierten; ein Fünftel der Genesenden bleibt mit schweren Hirnschäden zurück – und gegen Ende des Buches zeichnet sich ab, dass noch lange nach der Genesung schwere Spätfolgen auftreten können. Aus der ungleich größeren Bedrohung resultieren striktere Kontaktbeschränkungen, die mit drakonischen Maßnahmen durchgesetzt werden, während gleichzeitig viele Menschen aus Angst vor der Krankheit ihren gesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen. Die Folge: Das Gesundheitssystem, die öffentliche Ordnung, die Versorgung mit täglichen Gütern – alles bricht zusammen.

... oder noch kommen könnte

„Amazonah“ ist eine Mahnung, endlich die Lösung unserer Probleme anzugehen. Dabei kommt es ohne moralischen Unterton aus. Indem es die Erfahrungen der 2020er-Jahre aufarbeitet und weiterspinnt, wird es auch zu einem Stück Zeitgeschichte. Die doppelte Liebesgeschichte, berührend, aber nie kitschig, schenkt dem Buch inmitten der Weltuntergangsstimmung etwas Menschlichkeit. Insbesondere der zweite Frühling von Kilian und Kitty macht Hoffnung, dass Liebe und Gutes auch in Zeiten einer Pandemie überleben können. Auf dem Nachttisch der Rezensentin liegt Bihls Erstlingswerk, in dem sie sich dem nicht weniger anspruchsvollen Thema der Transsexualität nähert, schon zur Lektüre bereit.





Letzte Änderungen: 09.03.2023