Editorial

Time Is On My Side

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(15.02.2024) Dass externe Faktoren in die Regulationsschleifen von Zellprozessen mit eingerechnet und oft genug sogar für deren konkrete Ausgestaltung genutzt werden, ist klar. Die prominentesten Beispiele sind sicherlich Licht und Temperatur, zuletzt traten vermehrt auch mechanische Außenreize in den Fokus.

Ein wenig stiefmütterlich scheint die Forschungsgemeinde bislang hingegen den Faktor Zeit ins Kalkül genommen zu haben. Oder genauer gesagt: Wie vorgegebene Zeitspannen für das Einrichten konkreter Regulationsmechanismen genutzt werden.

Ein nettes Beispiel dreht sich um die Transkription. Im Reagenzglas hatte man für das Aneinanderreihen der einzelnen Nukleotide zu fertigen mRNA-Strängen eine Geschwindigkeit von 30 bis 60 Nukleotid-Verknüpfungen pro Sekunde ermittelt. Doch damit stand man unverhofft vor einem Rätsel. Dieses wurzelte darin, dass die Exon-Blöcke der meisten eukaryotischen Gene bekanntlich durch nicht-codierende Intron-Abschnitte unterbrochen werden – wodurch sie teilweise weit voneinander getrennt liegen.

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Die Zelle jedoch muss zunächst ein Primärtranskript des gesamten Gens inklusive aller Introns erstellen, aus dem erst nachfolgend die Exons zur funktionellen mRNA zusammengespleißt werden. Und da die Primärtranskripte aufgrund ihrer Exon-Intron-Strecke – wie gesagt – bisweilen sehr lang sein können, braucht die Zelle für deren Produktion ordentlich Zeit.

Beunruhigend wurde das Ganze, als man die gemessene Transkriptionsgeschwindigkeit mit dem hohen Zellteilungstempo in frühen Drosophila-Embryonen in Beziehung setzte. Denn in diesen verlaufen die ersten Zellteilungsrunden nach Befruchtung der Eizelle viel zu schnell, als dass ein durchschnittlich langes Fliegen-Gen wenigstens einmal fertig abgelesen werden könnte.

Genauer nachschauen war also angesagt – und das Ende vom Lied war: Die Evolution hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass exakt diejenigen Gene, deren Produkte die Drosophila-Embryonen von Beginn an für ihre Entwicklung brauchen, ungewöhnlich kurz sind – sodass die knappe Teilungszeit für deren Transkription ausreicht. Lange Transkripte wurden in dieser Phase zwar auch gestartet, wegen des Zeitdrucks aber vorzeitig abgebrochen und „abgetrieben“.

Inzwischen weiß man, dass dies durchweg für alle Gene gilt, die in den ersten Zellstadien nach der Befruchtung transkribiert werden: Sie sind kurz, damit sie in dem Run der enorm schnellen Zellzyklen überhaupt aktiv werden können.

Ein prinzipiell ganz ähnliches Beispiel kommt frisch von einem Team um Marina Chekulaeya am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. In Molecular Cell (83 (15): 2709-25) berichtet es, dass RNA-Moleküle, die in den äußersten Ausläufern weitverzweigter Nervenzellen aktiv werden sollen, besonders stabil sind – und damit besonders langlebig. Wären sie es nicht, würden sie nach der Synthese im Zellkörper zu schnell abgebaut, um überhaupt nur in die Nähe ihrer Aktivitätsorte gelangen zu können.

Typischerweise sorgen bestimmte Destabilisierungselemente in der mRNA-Sequenz dafür, dass sie innerhalb von wenigen Stunden abgebaut werden. Diese „Zeitschalter“ fehlen jedoch gerade bei denjenigen mRNAs, die in den entfernten Neuriten-Ausläufern gebraucht werden. Zudem ging man davon aus, dass diese RNA-Moleküle einen spezifischen Adresscode für ihr „Fernziel“ benötigen. Doch mit den Berliner Daten war klar: Es braucht keinen! Allein die lange Haltbarkeit sorgt für einen hinreichend selektiven Langstreckentransport. Dies genügt als Steuermechanismus, damit nur die „richtigen“ mRNA-Moleküle in den Ausläufern der Nervenzellen ankommen und dort aktiv werden. Bei allen anderen bewirkt der pure Zeitfaktor, dass sie „auf halber Strecke verhungern“.

Womit beide Beispiele letztlich dasselbe zeigen: Dass die Evolution bestimmte Gene so gestaltet hat, dass deren RNA-Produkte gezielt die Zeit als Regulationsfaktor für ihre spezifischen Zwecke arbeiten lassen können.

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