Editorial

Ganz schön dunkel hier

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(11.10.2023) Es ist dunkel geworden in der Biologie. Zuletzt ist jedenfalls ziemlich viel dunkle Materie aufgetaucht. Googeln Sie mal „Dark Matter Biology“. Ohne Mühe werden Sie neben „Biological Dark Matter“ weiterhin finden: Dark Matter of the Genome, Genetic Dark Matter, Dark Matter of the Proteome, Dark Matter Proteins, Dark Matter of the Brain, Dark Matter of Life on Earth, Microbial Dark Matter, Viral Dark Matter, ...

Was damit gemeint ist, ist klar: Biologische Strukturen und Entitäten, von denen wir zwar wissen, dass sie existieren – aber viel mehr auch nicht. Beispiele sind etwa:

  • Genomabschnitte, deren Sequenzen bislang nicht ermittelt werden konnten;
  • DNA-Sequenzen, deren Funktionen im Verborgenen liegen;
  • Proteine, deren Funktionen man nicht kennt oder deren 3D-Strukturen sich mit aktuellen Methoden nicht darstellen lässt;
  • Mikroorganismen und Viren, von denen man nur DNA-(Teil-)Sequenzen gesehen hat – ansonsten bislang aber nichts.

Editorial

All diese dunkle Materie ist in letzter Zeit stark gewachsen. Was zunächst zu dem paradox klingenden Schluss führt, dass wir methodisch zwar immer mehr können – damit aber neben einigem neuen Licht oft viel mehr Dunkel aufspüren. Wobei es natürlich gut ist, dessen Existenz endlich zu realisieren, auch wenn wir sonst so gut wie nichts darüber wissen.

Hauptgrund für die Erschließung des Großteils dieser dunklen Materie ist der rasante Fortschritt, den immer potentere Hochdurchsatztechniken samt ausgefuchster Bioinformatik den sogenannten Omiken beschert haben. In derartiger Menge und Geschwindigkeit strömen seitdem die Daten herein, dass man oftmals gerade noch erkennt, wofür sie stehen – sie aber in diesen Massen erstmal nicht weiter analysieren kann. Das betrifft beispielsweise die konkrete Bedeutung dunkler DNA- und Proteinsequenzen, viel mehr noch aber die Heerscharen potenzieller Mikroorganismen, deren dunkle Existenz man bislang einzig aus dem Auftauchen verräterischer DNA-Sequenzen in bestimmten Sammelproben ableiten kann.

Dazu ein Beispiel, das sich schon länger hinzieht und die Problematik gut illustriert. Vor über 25 Jahren identifizierten Mikrobiologen in einer Probe Torfmoor bis dato unbekannte bakterielle DNA-Sequenzen, die sie einem neuen Stamm – den Saccharibacteria – zuordneten. Verwandte Sequenzen fand man später unter anderem auch in menschlichen Mundproben. Doch schon das Isolieren dieser Bakterien erwies sich als sehr schwierig, weswegen man von ihrer Kultivierung erstmal nur träumen durfte. Lange konnte man sie daher nur theoretisch anhand von DNA-Sequenzen und den daraus vorhergesagten Proteinen studieren. Was irgendwann immerhin ermöglichte, dass man sie in Anreicherungskulturen nachverfolgen konnte.

Ein Durchbruch gelang schließlich vor knapp zehn Jahren, als man feststellte, dass Saccharibakterien nicht alleine existieren können, sondern als Epibionten auf der Zelloberfläche größerer Wirtsbakterien – meist Actinobakterien – leben. Damit wurde unter anderem auch klar, warum ihnen einige sehr gängige Gene fehlen: Ihr Wirt hat sie für sie.

Danach gelang die Kultivierung gleich einiger Spezies, wodurch man unter anderem erkannte, dass der ursprüngliche Stamm der Saccharibacteria in einen Superstamm namens Patescibacteria eingeordnet werden musste. Und mit deren Vertreter Southlakia epibionticum schafften US-Forscher jetzt einen weiteren Durchbruch: Ihnen gelang seine Transformation und genetische Manipulation – womit von nun an ein mächtiges Werkzeug zur weiteren Analyse dieses Bakterienstammes bereit steht (Cell 186: 1-15).

Den Proof-of-Concept erbrachten sie dabei bezeichnenderweise mit der Expression gleich mehrerer fluoreszierender Fremdproteine. Als ob sie diesen Teil der mikrobiellen dunklen Materie auch ganz bildlich ausleuchten wollten.

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