Editorial

Komplexität ist komplex

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(08.09.2023) Es gibt Begriffe, die fristen ein schwieriges Dasein in der Biologie. Einer davon ist „Komplexität“.

Die ganze Crux fängt schon damit an, wie man die Komplexität von Lebewesen definieren soll. Oder anders gefragt: Welches sind die Kriterien, nach denen sie sich im Grad ihrer Komplexität unterscheiden?

Stephanie Keep vom US-National Center for Science Education persiflierte das Dilemma einmal mit folgendem Beispiel (tinyurl.com/yckzn2zw): „Seegurken beispielsweise müssen uns doch ansehen und denken: ‚Diese armen Kreaturen. Können nicht mal ihre eigenen Eingeweide ausspucken. Was für Einfaltspinsel.“

Okay, zugegeben: Deutlich mehr Witz als Nutz! Ein ernster Kern steckt dennoch darin. Denn was macht uns Menschen tatsächlich insgesamt komplexer als Seegurken, auch wenn uns die eine oder andere von deren Qualitäten offensichtlich fehlt?

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Dazu wird Stephanie Keep an anderer Stelle konkreter: „Das Problem ist, dass wir dazu neigen, ‚komplexer‘ mit ‚besser‘ gleichzusetzen. [...] Aber was ist eigentlich Komplexität? Reden wir von Komplexität in Bezug auf die Anzahl oder die Art der Zellen? Ich vermute zwar, dass ein Tier komplexer ist als ein Bakterium, aber wenn wir von Komplexität im Sinne von schierer Anzahl, Vielfalt, Fortpflanzungsfähigkeit oder allgemeiner weltweiter Vorherrschaft sprechen, dann werden die Bakterien jedes Mal gewinnen.“

Gut, geschenkt! In einem werden Bakterien allerdings niemals gewinnen: wenn man als Kriterium für Komplexität nimmt, wie viele verschiedene Zelltypen ein diskreter Organismus bildet und funktionell integriert. Zwar immer noch etwas wachsweich, aber aktuell wohl das am breitesten akzeptierte Komplexitäts-Kriterium.

Noch schwieriger wird es mit der Komplexität aber im Zusammenhang mit Evolution. Klar hat über die ewig lange Zeitspanne der biologischen Evolution die Komplexität der Lebewesen im Mittel zugenommen. Und klar haben nach dem großen Dino-Sterben alle anderen Wirbeltiere die Lücke sofort genutzt, um in der Folgezeit größer und irgendwie auch komplexer zu werden. Aber alleine daraus zu folgern, dass die Evolution die Entwicklung immer höherer Komplexität als klares Ziel verfolgt, geht zu weit.

Schließlich ist Komplexität für ein Lebewesen „energiepolitisch“ vor allem eines: teuer. Nicht zuletzt deswegen versucht die Evolution stetig, Überflüssiges gnadenlos herauszuselektieren und damit gleichsam Komplexität zu reduzieren, sofern es dem Fortpflanzungserfolg nicht schadet. Unzählig sind die Beispiele für solch ein Komplexitäts-Eliminieren, um die energetische Kosten-Nutzen-Bilanz zu verbessern: Augen bei Dunkelhöhlen-Bewohnern, Chloroplasten bei unterirdischen Orchideen, ganze Stoffwechselwege bei Parasiten, ... Und bei uns Menschen ist aktuell die Gallenblase auf evolutionärem Rückzug – genauso wie wir gerade rund einhundert überflüssig gewordene Gene verlieren (Am. J. Human Gen. 84(2): 224-34).

Offensichtlich gibt es in der Evolution demnach vielmehr den gegenteiligen Trend: Komplexität wieder herunterzufahren – und zwar immer dann, wenn man gewisse Qualitäten nicht mehr zwingend zur Bewältigung seiner Umwelt braucht.

Das lässt einen dann doch etwas stocken bei der Bewertung von Komplexität in der Biologie. Zumal mittlerweile auch klar ist, dass über ganze Stammbäume gesehen mit zunehmender Komplexität bestimmte Qualitäten quasi universell abnehmen. Etwa die Regenerationsfähigkeit. Oder die Kapazität, neue Gene via horizontalem Gentransfer aufzunehmen – was immerhin einen zentralen Mechanismus im Rahmen der generellen Evolvierbarkeit von Organismen darstellt (Genome Biol. Evol., doi.org/gsc3dt).

Es spricht also vieles dafür, dass es schwierig bleiben wird mit dem Begriff der Komplexität in der Biologie.

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