Editorial

Organe hin, Organe her

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(15.05.2023) Warum bekam Darwin wegen seiner Evolutionstheorie eigentlich so viel Stress mit kirchlichen Kreisen? Die Antwort dürfte heute weithin bekannt sein: Weil seine Erkenntnisse in fundamentalem Widerspruch zu dem Glauben standen, dass Gott alle Lebewesen schon in seinem Schöpfungsakt so geschaffen hatte, wie Darwins Zeitgenossen sie sahen. Die Quintessenz seiner Theorie war ja gerade, dass sämtliche Arten keine von Anfang bis in alle Ewigkeiten festgelegten Kreationen sind, sondern sich vielmehr durch Variation samt nachfolgender Selektion über Generationen hinweg stetig verändern – und das manchmal auch ziemlich krass. Damit war seine Evolutionstheorie natürlich unvereinbar mit einem bewusst nach Plan vorgehenden Schöpfergott.

Editorial

Dies allerdings nur als kleiner wissenschaftshistorischer Einstieg. Bleiben wir vielmehr bei Darwins Erkenntnis, dass Arten sich über evolutionäre Zeiträume hinweg kontinuierlich verändern. Damit sie das tun können, muss sich natürlich erst „in ihrem Inneren“ etwas verändern. Wie wir heute wissen, geht das logischerweise mit den Genen als fundamentale Einheiten der Vererbung los: Sie verändern ihre Sequenz, übernehmen völlig neue Funktionen oder werden abgeschaltet und aus dem Genom geschmissen – und manch andere entstehen sogar völlig neu aus zuvor belanglosem Sequenzrauschen.

Was sind die Folgen? Klar, mit den codierten Produkten geschieht annähernd das Gleiche: Sie übernehmen durch Modifikation neue oder veränderte Funktionen, verschwinden ganz oder entstehen bisweilen ebenfalls völlig neu.

Und welches sind wiederum die Konsequenzen daraus? Biochemisch-physiologische Mechanismen oder zelluläre Strukturen werden modifiziert, sind plötzlich überflüssig und verschwinden – oder werden neu installiert, um bislang fehlende Funktionen zu realisieren.

Das Ganze kann man nun weiterspinnen bis zur Ebene der Organe oder ganzer Körperstrukturen: Sie erscheinen neu, sie gehen ganz – oder sie verändern sich und übernehmen andere Funktionen. Eine Neubildung ist etwa die Bursa Fabricii, in der die Vögel ihre B-Zellen zur Reifung bringen. Abgeschafft wurden zum Beispiel so manche Augenpaare von Fischen, die einst zum Überleben in dunkle Höhlen umzogen.

Oder die Gallenblase. Deren einzige Funktion besteht darin, die von der Leber produzierten Gallensäfte zu speichern und insbesondere bei fettreicher Nahrung als Verdauungshilfe wieder in den Zwölffingerdarm abzugeben. Und bei deren evolutionärem Rückzug sind wir gerade quasi live dabei. Wir Menschen haben das Speicherorgan noch, können aber auch ganz gut ohne. Mäuse ebenso. Ratten dagegen haben die Gallenblase abgeschafft. Bei Kaninchen, Katzen, Hunden und Bären hängt sie noch neben der Leber – Elefanten, Giraffen, Hirsche und Pferde verzichten wiederum komplett auf das Hilfsorgan. Und so geht es weiter quer durch die Klasse der Säugetiere: Die einen leben noch mit Gallenblase – andere, bisweilen recht nahe Verwandte brauchen und haben keine mehr. Ein Organ beim offensichtlichen evolutionären Verschwinden.

Anders dagegen die elektrischen Organe von Fischen. Die sind keineswegs auf dem Rückzug – und ein US-Team hat jetzt auch deren Entstehungsgeschichte ergründet (Sci. Adv., doi.org/gp8prp). Demnach wurde das Gen für einen Natriumkanal dupliziert, der eigentlich auf Muskelzellen sitzt und diese zum Kontrahieren bringt. Die Expression dieses Duplikats wurde in den Muskelzellen via Mutation inaktiviert und damit gleichzeitig in bestimmten Nervenzellen angeschaltet. Diese wiederum ordneten sich als spezialisierte Electrocyten parallel und seriell an – und fertig war das elektrische Organ zur Produktion von vergleichsweise hohen Spannungen.

Wunderschön Darwin-like über alle Ebenen also: Verändertes Gen macht verändertes Protein macht veränderte Struktur – macht neues Organ.

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