Editorial

Modell-Ärger

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(07.02.2023) Hefe, Fliege, Ackerschmalwand und Co. – allesamt sind sie Forschers liebgewonnene Modellorganismen. Aus guten Gründen: Optimierte Zucht und Handhabung, beste Charakterisierung, größtmögliche Vergleichbarkeit der Ergebnisse und einiges andere mehr.

Dennoch gibt es etwas, über das sich „Modell-Forscher“ immer wieder ärgern müssen. Denn leider verfällt gerade die Biomedizin allzu oft der zweifelhaften anthropozentrischen Maxime, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Mit der Folge, dass man immer wieder frisch gewonnene Erkenntnisse über die Biologie des Menschen als „vollkommen neu“ bejubelt – und dabei völlig ignoriert, dass man das prinzipielle Phänomen schon lange von anderen Organismen kennt.

So reagierten etwa 1998 viele Pflanzenforscher bei der Vergabe des Medizin-Nobelpreises für die Entdeckung von Stickoxid als zentrales Signalmolekül im Herz-Kreislauf-System ziemlich verschnupft, als es im zweiten Satz der offiziellen Begründung hieß: „Die Signalübertragung durch ein Gas, das von einer Zelle produziert wird und dann die Zellmembran durchdringt, um die Funktion einer anderen Zelle zu regulieren, stellt ein völlig neues Prinzip der Signalübermittlung in biologischen Systemen dar.“ Völlig zu Recht fragten sie, ob denn das Nobelpreiskomitee noch nie etwas von Ethylen gehört hätte. Schließlich kennt man das Gas schon seit der ersten Hälte des letzten Jahrhunderts als vom „biologischen System Pflanze“ selbst produziertes Signalmolekül.

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Oder anderes Beispiel. Vor einigen Jahren stellten US-Forscher auf einer Tagung einen „völlig neuen Typ der Zellteilung“ vor, den sie in Kulturen humaner Zellen beobachtet hatten und „Klerokinese“ nannten. Diese sorgt dafür, dass Zellen, die aufgrund einer vorzeitig abgebrochenen Zellteilung zwei Zellkerne beherbergen, im nächsten Teilungszyklus trotzdem gesunde Tochterzellen mit jeweils nur einem Kern hervorbringen. Im Prinzip also eine Reparatur-Teilung, durch die die Bildung von Zellen mit aneuploidem Chromosomensatz verhindert wird.

Eine spannende Erkenntnis allemal. Nur, war Klerokinese wirklich „völlig neu“? Der englische Zellbiologe Robert Insall erhob umgehend Einspruch. In einem Kommentar bei Nature Medicine schrieb er:

„Das gesamte Phänomen wurde bereits in den Siebzigerjahren in Dictyostelium beschrieben. Man bezeichnet diese Art Zellteilung als ‚Typ-III-Zytokinese’ oder traktionsvermittelte Zellspaltung (‚Cytofission‘). Ein Unterschied zwischen diesem Teilungsprozess in Dictyostelium und demjenigen, den die Autoren jetzt ‚Klerokinese’ nennen, ist nicht zu erkennen.“

Der Einspruch kam damals zur rechten Zeit. In der nachfolgenden Publikation korrigierten die Autoren ihre Klerokinese zu „Cytofission“ – und wiesen darauf hin, dass diese zuerst in der Amöbe Dictyostelium beschrieben wurde (PNAS 110(32): 13026-31).

Seinen Kommentar hatte Insall am Ende indes etwas ärgerlich abgeschlossen:

„Wir, die wir an Modellorganismen wie Dictyostelium arbeiten, hören oft von Gutachtern, dass unsere Arbeiten nicht interessant seien, weil sie ‚nicht auf menschliche Zellen anwendbar’ sind. Das ist enorm frustrierend – und in vielerlei Hinsicht falsch! Die hier vorliegende Arbeit illustriert jedenfalls, dass ‚nicht anwendbar’ oft einfach nur heißt, dass noch niemand mit den entsprechenden Fähigkeiten danach gesucht hat.“

Allerdings scheint die Lektion mittlerweile weitgehend gelernt. Was beispielsweise gerade die Gruppe von Jean Pieters vom Biozentrum Basel demonstrierte. Sie fand, dass ein Protein namens Coronin-1 quasi als Sensor über die korrekte Menge an T-Zellen wacht – und registrierte umgehend, dass Coronin bereits als Regulator der Zellpopulation bei der Bildung des vielzelligen Stadiums von Dictyostelium-Zellen bekannt war (Sci. Signal., doi.org/gq7mv3).

Fazit also: Immer erst die gängigen Modellorganismen checken, bevor man eine Entdeckung im System Mensch als „neu“ bebejubelt. Man könnte sich sonst leicht blamieren.

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