Editorial

Modell-Probleme

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(12.12.2022) Wird die Methodik immer mächtiger, geraten selbst manche seit Langem etablierten Erkenntnisse in Gefahr. Unter dem Druck immer größerer Datenmengen aufgrund von neuen Technologien steht am Ende oft die Einsicht: Das Ganze stellt sich doch deutlich komplexer dar, als wir bisher dachten.

Besonders anfällig für solch ein „Komplexitäts-Verblassen“ sind insbesondere auch so einige gute, alte mathematische Modelle aus der Biologie. Und eigentlich ist das auch ziemlich logisch. Schließlich entwickelt man quantitative Modelle vor allem, um eine Vielzahl einzelner Beobachtungen in ein allgemeingültiges mathematisches Muster gießen zu können – um mit diesem dann für weitere passende Einzelfälle bestimmte Parameter quantitativ berechnen zu können. Dazu jedoch muss man so gut wie immer vereinfachen. Etwa gewisse Einflussgrößen auf das Gesamtsystem ignorieren, eben weil zu viele Parameter die Komplexität für ein generalisierendes quantitatives Modell am Ende zu groß werden lassen.

Editorial

Klar, gerade dadurch haben sich viele Modelle lange konstruktiv bewährt – und adäquat geliefert. Andererseits war dadurch bereits inhärent mit eingebaut, dass sie spätestens dann zu einfach werden, wenn größere Komplexität sowohl experimentell wie auch mathematisch beherrschbar würde.

Doch damit nicht genug: Zur gesamten Crux gehört weiterhin dazu, dass das Parameterproblem biologischer Modelle noch einen anderen Aspekt hat. Der Mathematiker John von Neumann drückte es spöttisch einmal so aus: „Mit vier Parametern kann ich einen Elefanten passend machen, und mit fünf kann ich ihn mit dem Rüssel wackeln lassen.“ Damit meinte er, dass ein Modell mit zu vielen Parametern schwer zu falsifizieren ist. Demnach würde es zunehmend auf nahezu alle Daten passen – sodass dessen spezifische Erklärungskraft am Ende hauptsächlich auf dem Zufall der besonderen Parameterwerte beruht.

Das Dilemma dürfte damit klar sein: Wenn ich einen biologischen Prozess in immer größerer Komplexität erfassen kann, liefert die Anwendung quantitativer Modelle immer unschärfere Ergebnisse, da sie in aller Regel nur mit einer begrenzten Parameterzahl zuverlässig funktionieren.

Vor Kurzem erst demonstrierte ein Ökologen-Trio der University of California in Santa Barbara dieses Dilemma beispielsweise am Lotka-Volterra-Modell (Ecology 103(7): e3693). Mit diesem lässt sich prognostizieren, wie sich die Populationsdynamik einer Räuber-Beute-Beziehung entwickelt – also, wie sich die Populationsgrößen von Räuber und Beute in Abhängigkeit von deren Wechselwirkung verändert. Explizit werden in dem Modell nur ein Räuber und ein Beutetier (oder eine Futterpflanze) betrachtet, alle anderen Interaktionen mit ihrer Umwelt werden darin als gleichbleibend angenommen. Eine klare Vereinfachung zugunsten schärferer Aussagefähigkeit.

Die Kalifornier hingegen nahmen sich zwei räuberische Süßwasserprotisten Paramecium bursaria und Colpidium sp. vor, die prinzipiell um dieselbe Bakterienbeute konkurrieren. Allerdings hat Paramecium im Laufe der Evolution zusätzlich die Fähigkeit zur Photosynthese erworben, kann also auch autotroph leben. Besonders interessant war folglich, wie sich die ganze Dreiecks-Beziehung unter verschiedenen Beleuchtungsstärken quantitativ verhält. Womit noch ein weiterer nicht-gleichbleibender Parameter mit ins Spiel kommt. Hinsichtlich der Populationsdynamik kam schließlich heraus: Im Licht dominierte Paramecium, während im Dunkeln Colpidium den Konkurrenten überflügelte.

Dass die Autoren bei derartiger Komplexität mit der Anwendung des „Parameter-armen“ Lotka-Volterra-Modells scheiterten, wundert nicht. Was zur Folge hatte, dass sie ein neues mathematisches Modell entwickelten, das deren empirische Ergebnisse adäquat widerspiegeln konnte.

Die Frage, die allerdings noch bleibt: Kann dieses Modell eventuell auch Elefanten mit dem Rüssel wackeln lassen?

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