Editorial

Kraft Rechnerkraft

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(09.11.2022) Gute Forschung gibt es nur, wenn man gute Fragen stellt. Allerdings nutzen einem die schönsten Fragen nichts, wenn man keine Methoden hat, mit denen man die entscheidenden experimentellen Pfade beschreiten kann.

Blenden wir beispielsweise hundert Jahre zurück. Die Lichtmikroskopie war seit etwa dreißig Jahren endgültig etabliert und hatte das Formulieren vieler guter Fragen überhaupt erst möglich gemacht. Eine davon lautete: Wie viele Chromosomen haben unsere Zellen? Massenweise färbten Forscher daraufhin Dünnschnitte und schauten durchs Mikroskop, bis die Augen brannten, um in dem Wirrwarr aufgedröselter DNA-Fäden mehr schlecht als recht Chromosomen voneinander abzugrenzen. Doch erst als Joe Hin Tjio und Albert Levan 1956 Zellen durch Colchicin in der Metaphase einfroren und die somit in stark kondensiertem Zustand synchronisierten Chromosomen nach hypotoner Vorbehandlung spreiteten, konnten sie die Zahl unseres diploiden Chromosomensatzes zuverlässig auf 46 bestimmen.

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Klingt banal, war aber damals tatsächlich ein methodischer Durchbruch, der auch andere Fragen testbar machte – und seinerseits wiederum das Formulieren ganz neuer Fragen ermöglichte.

Prinzipiell Analoges eröffnete in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten vor allem eines: Die rasante Entwicklung der Rechnerkraft samt der Möglichkeiten, die sich der Computational Biology dadurch boten. Dies allerdings auf ungleich breiterer Ebene, wie sämtliche „Omiken“ bis heute eindrucksvoll belegen. Klar, haben sich auch die zugrundeliegenden molekularbiologischen und biochemischen Methoden weiterentwickelt – vor allem hinsichtlich ihrer Automatisierung. Und klar, haben sie damit ihrerseits einiges an Neuem ermöglicht. Aber all dies wäre wohl erstmal in einer Art „L‘art pour l‘art“ steckengeblieben, wenn die dadurch immer schneller und gewaltiger hereinstürzenden Datenmengen nicht stets mit entsprechender Rechnerkraft samt zugehöriger Software-Tools hätten gebändigt werden können.

Seit einiger Zeit kommt zu dieser weiterhin zunehmenden Rechnerkraft noch die künstliche Intelligenz (KI) hinzu. Und damit kombiniert beantworten die Rechner jetzt auch vermehrt vorab gestellte Fragen – statt vorwiegend riesige Datenfluten zu organisieren und analysierbar zu machen.

Wie das prinzipiell funktioniert, illustrierte gerade ein Team aus den USA und Australien anhand der Frage, wie Urzellen den Übergang von ursprünglich sauerstoffarmer zu sauerstoffreicher Atmosphäre bewältigt haben könnten (eLife 11: e79790). Die Autoren postulierten zunächst, dass die Ribonukleotid-Reduktase (RNR) eine Schlüsselrolle bei diesem Übergang gespielt haben dürfte – und zwar aus folgenden Gründen:

  • Sie kommt als uralte Proteinfamilie immer noch in allen heutigen Organismen inklusive vieler Viren vor.
  • Mit ihrer Funktion der Umwandlung von Ribose in Desoxyribose dürfte sie den Umstieg von RNA- zu DNA-basiertem Leben entscheidend mitveranlasst haben.
  • Schon das Cofaktor-Muster über die gesamte aktuelle Enzymfamilie deutet darauf hin, dass deren Vorläufer sich vor Jahrmilliarden molekular an die sauerstoffreiche Erdatmosphäre angepasst haben.

Also fütterten die Autoren ihre Rechner mit den Sequenzen von knapp 7.000 RNR-Genen und ließen sie mit entsprechender Software einen Stammbaum erstellen. Ganze sieben Monate brauchten diese für die Rechnerei – und am Ende stand ein Stammbaum, dessen Ur-Mitglieder tatsächlich eine hypothetische Sequenz-Evolution zeigten, die klar auf eine molekulare Anpassung an eine sauerstoffreichere Umgebung hinweist.

Ein Ergebnis, das die reine Rechnerkraft erst seit kurzem liefern kann. Allerdings liefert es nur ein plausibles RNR-Szenario. Um zu klären, ob es sich vor Jahrmilliarden tatsächlich so abspielte, bräuchte es den nächsten methodischen Sprung: eine Zeitmaschine.

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