Editorial

Richtungswechsel

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(07.10.2022) Wie oft startet man ein Experiment mit klaren Erwartungen – und dann kommen Dinge heraus, die der Community den Weg zu ganz anderen Entdeckungen weisen? Vorausgesetzt natürlich, man kann sich so weit von den ursprünglichen Erwartungen lösen, dass man die womöglich „größere“ Bedeutung der unerwarteten Ergebnisse erkennt und sie in die richtige Richtung interpretiert.

Solch ein „Richtungswechsel“ gelang beispielsweise Carolyn Napoli und Richard Jorgensen vor über dreißig Jahren. Eigentlich wollten sie mit Petunien klären, ob die Chalkonsynthase als Schlüsselenzym der Flavonoid-Biosynthese auch die Produktionsrate des violetten Blütenfarbstoffs Anthocyan limitiert. Also überexprimierten Napoli und Jorgensen die Chalkonsynthase – und erwarteten tiefer violette Blüten als in den Kontroll-Petunien. Doch was kam heraus? Knapp die Hälfte der Blüten war komplett weiß, der Rest weiß gefleckt (Plant Cell 2: 279-89).

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Also stellten Napoli und Jorgensen die Anthocyan-Synthese erstmal hintenan – und gingen dem Mechanismus der unerwarteten „Blütenbleiche“ auf den Grund. Und sie fanden weiterhin Überraschendes: Die weißen Blüten enthielten fünfzigfach weniger Chalkonsynthase-mRNA als die Blüten der Wildtyp-Petunien – obwohl in ersteren das Gen ja doppelt vorhanden war. Ihre Hypothese daher: Abgesehen davon, dass es selbst nicht abgelesen wird, unterdrückt das Einführen des Transgens zudem die Expression des endogenen Chalkonsynthase-Gens. Der verantwortliche Mechanismus war Napoli und Jorgensen damals zwar unklar – aber dennoch hatten sie damit die Richtung des Weges vorgegeben, auf dem Andrew Fire und Craig Mello acht Jahre später das Phänomen der RNA-Interferenz via doppelsträngiger RNA festklopfen konnten (Nature 391: 806-11).

Einen ähnlichen „Richtungswechsel“ musste kürzlich ein Team von US-Biologen mit ihren Studien über Schleim-Proteine, sogenannten Mucinen, vollziehen. Diese produzieren in den unterschiedlichsten Organismen den Schleim für die vielfältigen Funktionen in Körperflüssigkeiten, Schleimhäuten und ganzen Organen. Angesichts dieser Vielfalt schien den US-Forschern die Frage nach dem evolutionären Ursprung der Mucine durchaus interessant. Wobei sie – wie sie selber schreiben – folgendes Antwort­szenario erwarteten:

Vor Urzeiten habe ein Organismus ein erstes Mucin entwickelt – und im Laufe der Evolution seien aus diesem gemeinsamen Vorfahren nach Duplikation und/oder horizontalem Gentransfer durch nachfolgende Anpassung an den jeweiligen Verwendungszweck sämtliche Mucine der heutigen Organismen entstanden. Schließlich sei dies ja der übliche Weg für viele Familien homologer Proteine gewesen.

Was das Team nach der Analyse von 49 Säugetierarten fand, war jedoch ein ziemliches Durcheinander. Ganze fünfzehnmal waren einzelne Mucine alleine in den Säugetieren komplett neu entstanden – ohne irgendwelche verwandtschaftliche Bindungen sowohl untereinander wie auch zu anderen bekannten Mucin-Proteinen. Menschen und Mäuse haben beispielsweise völlig verschiedene Mucine im Speichel (Sci. Adv. 8(34), doi: 10.1126/sciadv.abm8757).

Auch hier ein unerwartetes Ergebnis, Richtungswechsel war also angesagt! Und am Ende stand die Erkenntnis, dass die Organismen ganz verschiedene Proteine als Vorlage nahmen, um Mucine zu entwickeln. Allerdings mussten deren Gene mindestens ein Exon mit sehr viel codiertem Prolin, Threonin und Serin enthalten. Diese Exone vervielfältigten sie mannigfach, sodass stangenförmige Proteine entstanden (wegen der Proline), die über die O-Glykosylierungsstellen von Threonin und Serin massenhaft verzweigte Zuckermoleküle binden und ihre wässrige Umgebung damit andicken können.

Die offene Frage ist nun, ob eine solche interne Exon-Vermehrung womöglich einen generellen Mechanismus darstellt, mit dem Proteine neue Funktionen entwickeln. In dieser Richtung war bisher nämlich noch niemand unterwegs.

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