In den Tiefen der
Tomaten

(01.03.2022) Um die Gewinnung von sekundären Pflanzen­stoffen profitabel zu machen, haben Forscher deren Synthesewege in andere Wirtsorganismen verlegt.
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Editorial

Ob lila Paprikas, gelbe Zucchini oder auch rote Gurken: Ausgefallene Gemüse­sorten gibt es zuhauf, auch im Supermarkt stößt man mitunter auf die bunten Abweichler. Entstanden sind diese meist auf natürlichem Weg durch zufällige Mutationen, einige wenige entspringen der gezielten Züchtung. Geschmacklich besteht meist kein großer Unterschied zum tristen Original, es geht oft eher um den optischen Wow-Effekt.

Betrachtet man die Tomaten, die ein Team vom Leibniz-Institut für Pflanzen­biochemie (IPB) in Halle/Saale hergestellt hat, ist der Wow-Effekt ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Anders als herkömmliche Tomaten haben die Früchte eine dunkelrote, fast schwarze Schale und ein leuchtend rotviolettes Fruchtfleisch. Doch die Neuzüchtung ist weit mehr als eine Farben­spielerei: Sie ist das Ergebnis intensiver Forschung in der Pflanzen­biotechnologie und besitzt viel Potenzial – sowohl in kommerzieller als auch in medizinischer Hinsicht.

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Ihr Schöpfer ist Sylvestre Marillonnet, der seit 2012 die Arbeitsgruppe für Synthetische Biologie am IPB leitet. Der gebürtige Franzose etabliert und optimiert Klonierungs­methoden, die das Einfügen multipler Transgene in Wirtszellen erleichtern sollen. Schon beim Biotech-Unternehmen Icon Genetics ein paar Straßen weiter, wo er zuvor 13 Jahre tätig war, hatte er erfolgreich an Verfahren getüftelt, um beispielsweise Tabak­pflanzen gentechnisch zu verändern. Marillonnet erläutert: „Bei Icon Genetics habe ich gemeinsam mit Kollegen 2008 die sogenannte Golden-Gate-Klonierung etabliert, die inzwischen zum Standard­repertoire vieler Molekular­biologen weltweit gehört. Meine Forschung hier am IPB basiert auf diesem Verfahren, das wir weiter­entwickeln und praktisch nutzbar machen wollen.“

Bei der Golden-Gate-Klonierung kommen spezielle Restriktions­enzyme vom Typ IIS zum Einsatz. Anders als herkömmliche Restriktions­enzyme schneiden diese den DNA-Strang außerhalb ihrer Erkennungs­sequenz, wodurch an jeder Schnittstelle ein anderer Überhang entsteht. Molekular­biologen können so mehrere Fragmente in einer ganz bestimmten Reihenfolge – je nach Überhang – aneinander­reihen. Ein weiterer Vorteil: Platziert man die Erkennungs­sequenz richtig, schneiden Typ-IIS-Enzyme diese gleich mit heraus. Die Enzyme erkennen so nur noch ungeschnittene, aber nicht mehr bereits assemblierte Fragmente. Das Verfahren wird viel effizienter. Mit der Golden-Gate-Methode assemblieren Molekular­biologen heute mühelos dutzende von DNA-Fragmenten in einem einzigen Reaktionsmix.

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Begehrte Sekundärmetaboliten

Auch das Hallenser Forschungsteam konnte so ein ganzes Arsenal an komplexen Expressions­kassetten herstellen. Jede Kassette enthält mehrere Gensequenzen mit allem nötigen „Zubehör“ – Promotoren, Terminatoren und anderen regulato­rischen Elementen. Die Gene selbst codieren für Enzyme aus dem Betalain-Syntheseweg der Roten Bete (Beta vulgaris). Marillonnet erklärt, was es damit auf sich hat: „Das Ziel unserer Studie war es, den kompletten Syntheseweg eines sekundären Pflanzenstoffs nachzubauen und dann in eine Wirtspflanze einzuschleusen. Betalaine sind eine Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe, die vor allem in Roter Bete vorkommen. Ihre Farbe ist sehr kräftig, deshalb eignen sie sich hervorragend zum Testen unseres Expressions­systems.“

Dass die Gruppe einen sekundären Pflanzenstoff für ihre Studie ausgewählt hat, ist kein Zufall. Viele Sekundär­metaboliten aus dem Pflanzenreich sind kommerziell attraktiv. Sie bilden die Basis für Nahrungs­ergänzungsmittel, Lebens­mittelfarben und Arzneistoffe. Viele Pflanzen produzieren jedoch nur kleine Mengen oder sind schwer zu kultivieren, was die Gewinnung unprofitabel macht. Die Lösung: Man verlagert die ganze Synthese in eine Nutzpflanze, die besser wächst und obendrein auch mehr der kostbaren Sekundär­metaboliten produziert.

Leichter gesagt als getan. Im Labor testeten Marillonnet und Co. zunächst, ob die Enzyme aus dem Syntheseweg überhaupt ausreichen, um Betalain zu produzieren. Ähnliche Studien mit Tomaten scheiterten nämlich an einer zu geringen Syntheserate. Um das zu vermeiden, exprimierte Marillonnets Team neben den drei Haupt­enzymen auch das Enzym α-Arogenat­dehydrogenase (ADHα). Die ADHα selbst ist nicht an der Betalain-Synthese beteiligt, sondern synthetisiert die Aminosäure Tyrosin, den Ausgangsstoff für die eigentliche Betalain-Herstellung. Das zusätzliche Enzym verfehlte seine Wirkung nicht: Als die Gruppe Blätter der Tabakpflanze Nicotiana benthamiana mit den vier einzelnen Konstrukten infiltrierte, sahen sie wie erhofft eine starke rote Färbung im gewonnenen Extrakt. Ohne ADHα war die Farbstoff­menge beinahe fünfzig Prozent geringer.

Dann wurde es spannend: Wie viel Betalain konnten die Tabakpflanzen herstellen, wenn die vier Genkassetten auf ein und demselben Plasmid waren statt auf vier einzelnen? „Die Menge an Farbstoff war ähnlich wie im Vorversuch“, zeigt sich der Molekular­biologe rückblickend erleichtert. „Am besten funktionierte es, wenn wir neben den vier Genkassetten noch einen TAL-Effektor mit in die Pflanze eingebracht hatten.“

TAL-Effektoren (TALE) sind bakterielle Transkriptions­faktoren mit einer besonderen Eigenschaft: Sie benötigen lediglich ein Motiv aus 18 Nukleotiden, um zuverlässig zu binden. Wie stark die Bindung letztlich ist, hängt maßgeblich von den Basen um dieses Motiv herum ab. Das hat gleich mehrere Vorteile: Es gibt fertige Datenbanken mit dutzenden TALE-Motiven, die alle möglichen Bindungs­stärken abdecken. Das Team kann also für jedes Enzym des Synthesewegs die Expression einzeln justieren und benötigt nur einen gewebe­spezifischen Promotor für das TALE-Gen. Ohne TALE bräuchten Marillonnet et al. hingegen vier verschiedene Promotoren, die alle im selben Gewebe zur gleichen Zeit aktiv sein müssen – in vielen Fällen schwer bis gar nicht zu finden. Nimmt man stattdessen den gleichen Promotor mehrmals, werden die Plasmide häufig instabil und tendieren zu ungewollten Rekombinationen.

Ein erfolgreicher Plan B

Mit dem etablierten TALE-System verließ das Team die Tabak­blätter und machte sich daran, die Betalain-Synthese in Tomaten anzuwerfen. Dafür packten sie das Plasmid mit den vier Enzymen plus TALE-Gensequenz in einen Agrobacterium-Stamm und inkubierten die Keimblätter junger Pflanzen der Sorte „MicroTom“ mit den trans­formierten Bakterien. Dank eines gewebe­spezifischen Promotors vor dem TALE-Gen sollte die Betalain-Synthese nur in den Früchten der Pflanze erfolgen. Zum Leidwesen der Forscher waren die Tomaten allerdings genauso hellrot wie die Früchte der Kontroll­pflanzen. Offenbar funktionierte, anders als in den vorigen Versuchen, das TALE-System hier nicht richtig. Wie so oft in der Wissenschaft musste ein Plan B her.

Der war glücklicherweise nicht nur schnell gefunden, sondern auch erfolgreich. Marillonnet: „Als wir sahen, dass wir keine TALE-Tomaten herstellen konnten, haben wir das System umgebaut. Wir stellten jedem der vier Enzyme den gleichen frucht­spezifischen E8-Promotor voran, dafür ist das TALE-Gen komplett rausgeflogen. Unsere Befürchtungen, die Genkassette würde dadurch zu instabil, haben sich zum Glück nicht bestätigt.“ Auch die jetzt identischen Expres­sionslevel aller Enzyme waren offenbar kein Problem: Im Gegenteil, die Tomaten produzierten große Mengen an Betalain – sogar mehr als das Vorbild, die Rote Bete selbst.

Wie robust die Synthese ablief, demonstrierte das Forschungsteam anschließend, indem es die „MicroTom“-Pflanzen mit zwei kommerziell bedeut­sameren Sorten, „Moneymaker“ und „M82“, kreuzte. Beide Sorten hatten auch nach mehreren Generationen ähnliche Betalain-Level in all ihren Früchten. Interessant dabei: Das Team schaffte es nicht, „Moneymaker“ und „M82“ direkt zu transformieren. Marillonnet hat eine Vermutung, woran das liegt: „Wir schaffen es zwar ‚MicroTom’ mit der intakten Genkassette zu transformieren. Allerdings sehen wir auch hier einige Pflanzen, in denen Teile der Genkassette deletiert sind. Das heißt, unser Plasmid mit den vier E8-Promotoren ist in der Tat instabil, aber wir bekommen trotzdem genügend positive Klone. Einmal im Pflanzen­genom integriert, ist das Konstrukt dann auch stabil. Bei ‚Moneymaker’ und ‚M82’ brauchen wir aber anscheinend mehr intakte Genkassetten, um überhaupt positive Pflanzen zu erhalten – warum auch immer.“

Doch wie erhöht man die Stabilität der Genkassette im Vektor? Marillonnets Lösung sind Plasmide, die sich langsamer vermehren. Solche Low-Copy-Plasmide werden von Bakterien weniger oft repliziert. Das beugt ungewollten Rekombinationen der DNA vor, denn die treten vor allem während der Replikation auf. Marillonnet und Co. haben geeignete Low-Copy-Plasmide hergestellt, ihre Sequenzen sind beim Webportal „Addgene“ frei zugänglich.

Wie fällt das Fazit des Forschers aus? Ist Marillonnet zufrieden, trotz der Probleme mit dem TALE? „Wir waren definitiv erfolgreich. Es ist uns nicht nur gelungen, erstmalig eine Genkassette zu transformieren und zu exprimieren, die viermal den gleichen Promotor enthält. Wir konnten auch die Synthese von Betalain in Tomaten mit ADHα entscheidend verbessern und so einen Sekundär­metaboliten in großen Mengen zuverlässig herstellen. Das ist toll und ein wichtiger Fortschritt, der sich hoffentlich auf viele andere Sekundär­metaboliten übertragen lässt.“

Und was wird aus den Tomaten? Im Supermarkt werden die Neukreationen wohl nicht landen. Als Färbemittel haben sie jedoch Potenzial. Die transgenen Tomaten produzieren nämlich, anders als Rote Bete, fast ausschließlich ein bestimmtes Betalain, das rotviolette Betanin. Ihr Saft färbt Lebensmittel dadurch mit einem kräftigen Farbakzent, der an das leuchtende Rotviolett von Fuchsien erinnert. Als Antioxidans wirkt Betanin zudem positiv auf die Gesundheit. Also beste Voraus­setzungen für einen kommerziellen Durchbruch? Der Molekular­biologe lächelt nur und gibt zu bedenken: „Die große Frage ist, ob die Verbraucher Saft von gentechnisch veränderten Tomaten akzeptieren würden. Gerade in Europa dürften Unternehmen deshalb eher zurückhaltend sein.“

Die Zukunft wird zeigen, ob die Zweifel berechtigt sind. Es wäre schade um die schönen Früchte.

Michael Bell

Grützner R. et al. (2021): Engineering betalain biosynthesis in tomato for high level betanin production in fruits. Front Plant Sci, 12:682443

Bild: Marillonnet Lab

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 1-2/2022.


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Letzte Änderungen: 01.03.2022