Editorial

Plastiden-Räubergeschichten

(01.12.2023) Lange wollte keiner glauben, dass Plastiden aus Endosymbionten entstanden. Hätte man damals schon das Treiben gewisser Algen gekannt, wäre das nicht passiert.
editorial_bild

Jedes Geschäft hat seine Helden. Auch – seien wir mal ehrlich! – die an sich so selbstlose und einzig der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft. Der Stoff, aus dem deren Helden sind, ist dabei oftmals der gleiche: Jemand widerspricht mit ganz neuen Erkenntnissen der anerkannten Meinung, wird dafür über lange Zeit angegriffen, missachtet oder gar verspottet – und behält am Ende doch Recht.

Umgehend fallen einem dazu einige Namen aus der Biologie ein: Barbara McClintock etwa, die in den 1940ern begann, „springende Gene“ zu beschreiben, wegen des heftigen Gegenwinds der Fachkollegen jedoch ab 1953 nichts mehr dazu publizierte. Erst in den 1960ern und 1970ern wurden ihre damaligen Erkenntnisse wegen einer Vielzahl passender Folgeergebnisse schließlich vollends akzeptiert und gewürdigt.

Editorial

Lange und laut gelacht

Oder Stanley Prusiner, der zunächst von der gesamten Kollegenschaft verlacht wurde, als er 1982 verkündete, er habe winzige Protein-Partikel gefunden, die ansteckende Infektionskrankheiten verursachten. Prionen nannte er die Partikel, die konkret neurodegenerative Erkrankungen verursachen – etwa Rinderwahn oder die Creutzfeld-Jacob-Krankheit. Der Aufschrei in der Fachwelt war immer noch laut, als Prusiner 15 Jahre später den Nobelpreis für seine Prionen-Hypothese bekam. In der Tat sollte es noch 15 weitere Jahre dauern, bis das Lachen über Prusiners Prionen nach weiteren klaren Forschungsresultaten endgültig verstummte. 

Unglaube und Schlimmeres schlug auch Carl Woese entgegen, nachdem er erstmals die Archaeen neben den Bakterien und den zellkernhaltigen Eukaryoten als dritte Organismen-Domäne aller Lebewesen verkündete (hier ein Gespräch, das wir 2003 mit Carl Woese führten). Oder die Australier Barry Marshall und Robin Warren, die die Infektion mit dem Bakterium Helicobacter als Ursache für chronisch entzündete Magenschleimhaut bis hin zu Magengeschwüren ausmachten – auch sie wurden einst gemieden und verschmäht, später jedoch vielfach geehrt und gefeiert (siehe etwa hier).

Einverleibt und versklavt

Einer der Klassiker überhaupt für derart verkannte Erkenntnisleistungen ist jedoch die Endosymbionten-Theorie. In den 1960ern wollte die US-Biologin Lynn Margulis (damals unter dem Nachnamen Sagan) einen Aufsatz veröffentlichen, in dem sie erstmals eine Theorie präsentierte, wie bestimmte Standard-Bestandteile der Zellen von Pflanzen, Tieren und Pilzen – sogenannte Organellen – sich vor Urzeiten entwickelt haben könnten. Demnach hatten sich damals einzellige Lebewesen bestimmte Bakterien einverleibt, diese aber nicht vollends verdaut, sondern vielmehr derart zurechtgestutzt und zu Endosymbionten versklavt, dass sie unter deren Kontrolle schließlich nur noch genau eine Zellfunktion für sie ausübten. Insbesondere die Mitochondrien als „Kraftwerke“ der Zelle wie auch die Plastiden, die in grünen Pflanzen via Photosynthese die Lichtenergie in chemische Energie umwandeln, hatte Lynn Margulis als Organellen mit derartiger „Bakterien-Vergangenheit“ ausgemacht. 

Glauben wollte ihr das allerdings niemand. Laut Lynn Margulis lehnten 15 Forschungsblätter nacheinander die Publikation ihrer Theorie ab. Erst 1967 druckte das Journal of Theoretical Biology (14(3): 255-74) den Aufsatz unter dem Titel „On the Origin of Mitosing Cells“. Heute gilt er als Startschuss zur endgültigen Ausarbeitung der Endosymbionten-Theorie. (Hier ein Gespräch mit Lynn Margulis, das wir neun Jahre vor ihrem Tod 2011 führten.)

Nur Endosymbiose oder schon Organell

Seitdem wurde die Theorie mannigfach durch weitere Erkenntnisse bestätigt. Vor allem für die Plastiden sind inzwischen jede Menge Szenarien entschlüsselt, in denen auch heute noch Organismen kleinere Plastiden-haltige Einzeller schlucken, beherbergen, versklaven, zurechtstutzen oder einfach die Plastiden aus ihnen heraussaugen – oftmals nur, um wenigstens vorübergehend die Lichtenergie für sich selbst nutzen zu können. Dies geschah und geschieht offenbar so häufig, dass man dafür mittlerweile die Begriffe Acquired Photosynthesis („Erworbene Photosynthese“) und Kleptoplastie („Plastidenklau“) eingeführt hat.

Zwei Wege kennt man heute, geraubte Plastiden für sich arbeiten zu lassen:

1) Verleibe dir einen ganzen Plastid-haltigen Organismus – etwa eine Alge – ein und halte sie in dir am Leben. Das wäre eine echte Endosymbiose.

2) Fresse solch eine Alge und verdaue sie bis auf die Plastiden (oder raube sie ihr) – und versuche sie in dir funktionstüchtig zu halten. Resultat wäre ein fertiges Organell.

Auch des Kernklaus schuldig

Von einem echten Organell spricht man jedoch erst, wenn im Laufe der Zeit tatsächlich für die Plastidenfunktion relevante Gene aus dem "abgebenden" Organismus in den Zellkern der aufnehmenden Zelle transferiert worden sind. Wobei es natürlich alle möglichen Zwischenformen auf dem Weg vom anfänglichen Endosymbionten zum schlussendlichen Organell gibt.

Eine ziemlich frische „Plastiden-Räubergeschichte“ dieser Art führt etwa den einzelligen Ciliaten Myrionecta rubra (früher als Mesodinium rubrum bekannt) in der Hauptrolle. Das Wimperntierchen hat zuerst keine Plastiden – bis einzellige Mikroalgen wie etwa Geminigera cryophila aus der Gattung der Cryptophyceen seinen Weg kreuzen. Flugs verleibt sich Myrionecta deren Plastiden und auch deren Zellkern ein, verpackt sie separat und hält Plastiden und Kern weiterhin aktiv. Die Geminigera-Plastiden funktionieren in Myrionecta demnach also nur, wenn das Wimperntierchen weiterhin auch einige Gene des Geminigera-Kerns aktiv nutzen kann. Myrionecta macht sich folglich nicht nur der Kleptoplastie schuldig, sondern auch der Karyokleptie.

Räuber wird Opfer

Doch die ganze „Räuberpistole“ ist noch viel komplexer – und brutaler. Zum einen erwarben die Vorfahren von Geminigera einst selbst ihre Plastiden von endosymbiotischen Rotalgen, die ihrerseits ihre Plastiden vor noch längerer Zeit von Cyanobakterien erhielten. Okay, das ist lange verjährt! Doch was passiert noch heute, wenn der „Plastidenräuber“ Myrionecta an dem größeren einzelligen Dinoflagellaten Dinophysis acuminata vorbeiflimmert? Er wird selbst zum Opfer. Dinophysis schnappt sich Myrionecta und saugt kurzerhand die gerade erst sauber verpackten Geminigera-Plastiden aus ihm heraus. Unverpackte Plastiden aus Geminigera selbst kann Dinophysis nicht nutzen, erst muss Myrionectra quasi die Drecksarbeit für den Dinoflagellaten machen (BMC Genomics 11:366).

Doch die von Myrionecta entrissenen Geminigera-Plastiden scheinen nicht einmal die einzigen in Dinophysis zu sein. Eher füllt der Dinoflagellat damit nur seinen bereits vorhandenen Vorrat vorübergehend auf. Dafür spricht nicht nur, dass Dinophysis eigene Plastiden-Gene im Genom hat. Nein, vor kurzem spürte man in den Dinophysis-Zellen neben den frisch einverleibten Kleptoplastiden auch noch permanente Plastiden auf. Diese stammen zwar ebenfalls von anderen Mikroalgen ab, müssen folglich aber die zurechtgestutzten Überreste eines früheren „Raubzugs“ der Dinophysis-Vorfahren darstellen (Harmful Algae 9(1):25-38).

Bleibt als Fazit: Plastiden wurden und werden offenbar schneller und leichter geschluckt als seinerzeit die Theorie der Frau Margulis.

Ralf Neumann

(Illustr.: Jennifer H Wisecaver)

 

Weitere Artikel zur Endosymbiontentheorie:

 

>> Lynn Margulis: Nachruf und Interview

Man sollte Begriffe wie „visionär“ oder „revolutionär“ in der Forschung nur sehr vorsichtig verwenden, aber bei Lynn Margulis sind sie sicher angebracht. Zu wild, zu abstrus schienen seinerzeit dem wissenschaftlichen Establishment die Ideen der jungen Forscherin zum bakteriellen Ursprung von Zellorganellen wie Mitochondrien und Plastiden ...

 

>> Endosymbiose auf frischer Tat ertappt

Nur ein nettes Konzept, durchaus mit einigen Indizien – aber immer noch nicht bewiesen? In Nature veröffentlichte jetzt ein internationales Team ein weiteres starkes Indizien-Paper zugunsten der Endosymbiontentheorie ...

 

>> Grüner Ursprung

Ein Happs eines hungrigen Einzellers reichte für die Entstehung von Chloroplasten ...

 

 



Letzte Änderungen: 30.11.2023