Editorial

Schwer einzuordnen
und voller Rätsel

(28.11.2023) Früher als transkriptionelles Rauschen abgetan, weiß man inzwischen, dass lange nicht-codierende RNAs unentbehrlich sind. Aber was heißt eigentlich „lang“.
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Zum Kosmos der nicht-codierenden oder non-coding RNAs (ncRNAs) gehört mittlerweile ein ganzer Zoo von Transkripten. Die kleinsten ncRNAs sind miRNAs (microRNAs) und siRNAs (small interfering RNAs) mit 20 bis 25 Nukleotiden, gefolgt von den bis zu gut 30 Basen langen piRNAs (piwi-interacting RNAs). Small nuclear RNAs (snRNAs) bestehen aus 100 bis 300 Nukleotiden. Übrig bleibt ein ziemlich heterogener Pool langer nicht-codierender RNAs, die man auch unter „Sonstiges“ einsortieren könnte. Etabliert hat sich aber die Bezeichnung „lange nicht-codierende RNA“ oder lncRNA für Transkripte, die länger sind als 200 Basen und sich keinen der anderen Kategorien zuordnen lassen. „Unglücklicherweise sind lncRNAs nach dem benannt, was sie nicht sind“, stellen die Autoren eines unlängst veröffentlichten Übersichts­artikels fest (Nat Rev Mol Cell Biol, 24(6): 430-47).

Die Verfasser des Reviews sehen bei etwa 200 Basen eine Grauzone bei ncRNAs. Sie schlagen daher vor, erst ab 500 Basen von einer lncRNA zu sprechen und damit Moleküle zu erfassen, die meist von der RNA-Polymerase (Pol) II gebildet werden. Diese grenzen sie von zwei weiteren Gruppen ab: smallRNAs mit weniger als 50 Basen sowie einer bunten Gruppe, deren Länge „irgendwo dazwischen“ liegt.

„Diese Abgrenzung hinsichtlich der Länge ist natürlich immer künstlich“, stellt der Molekularbiologe Leon Schulte fest, der das RNA-Labor an der Philipps-Universität Marburg leitet. Inwiefern lncRNAs neben dieser Mindestlänge funktionelle oder mechanistische Gemeinsamkeit haben, sei eine ungeklärte Frage. „Deswegen wird diskutiert“, so Schulte, „ob man die Bezeichnung long non-coding RNAs auf Dauer so beibehalten kann, oder ob man künftig zu weiteren Subgruppen gelangt.“

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Modulierte Gendosis

Die systematische Suche nach nicht-codierenden RNAs begann, als man Genome immer kostengünstiger sequenzieren konnte. Es gibt aber auch lncRNAs, die vor dem Zeitalter des Next-Generation-Sequencing anhand ihrer Phänotypen entdeckt wurden. Das oben zitierte Review nennt auch hierzu Beispiele, etwa roX1 und roX2 aus Drosophila. In der Taufliege bestimmt die Anzahl der X-Chromosomen das Geschlecht. In männlichen Fliegen wird das X-Chromosom stärker abgelesen. Der hierfür verantwortliche Molekül­komplex Male-Specific Lethal (MSL) kommt nur in den männlichen Tieren vor. Er bindet an das X-Chromosom und erleichtert den Transkriptionsfaktoren den Zugang zum Chromatin. Neben diversen Proteinen sind auch RNAs am MSL-Komplex beteiligt.

Übrigens war auch schon die lncRNA XIST seit den frühen 1990ern bekannt – ähnlich wie in der Fliege ist diese RNA für die Dosis­kompensation am X-Chromosom von Säugetieren notwendig. Allerdings bei den Weibchen, um Chromatin zu verpacken und damit je eines der beiden X-Chromosomen weitestgehend stillzulegen. 1992 deckten Carolyn Brown und Kollegen auf, dass humanes XIST aus „mindestens acht Exons“ besteht und sie fanden ein über 17 Kilobasen langes Isolat, das sie sequenzieren konnten (Cell, 71(3): 527-42).

Tausende von Basenpaaren, und noch dazu Exons und Introns? „Viele lncRNAs unterscheiden sich gar nicht so sehr von mRNA – bis auf die Tatsache, dass sie keinen ORF enthalten“, ordnet Schulte diese Beobachtungen ein. „Sie können ähnlich groß sein, sind häufig poly­adenyliert und werden oft auch gespleißt.“

Keine Zufallsprodukte

Im Gegensatz zu vielen kleinen ncRNAs beobachtet man bei lncRNAs regelmäßig, dass sie entweder innerhalb enger Zeitfenster aktiv sind oder nur in ganz bestimmten Geweben vorkommen. „Wir sehen eine sehr hohe Zelltyp­spezifität und glauben, dass lncRNAs für Differenzierungswege wichtige Rollen spielen“, erläutert Schulte. Auch die Splice-Varianten sind vermutlich keine Zufallsprodukte. „Sehr wahrscheinlich gibt es da auch zelltyp­spezifische Isoformen mit eigenen Funktionen.“

Schultes Arbeitsgruppe sucht nach lncRNAs, die Immunprozesse mitregulieren. „In der Vergangenheit haben wir viele lncRNAs detektiert, die bei Infektionskrankheiten und Entzündungen differenziell reguliert sind“, erklärt er. „Zumindest nach den Ergebnissen aus unseren Datensätzen können wir über die lncRNA-Transkripte sogar zwischen einzelnen Krankheiten unterscheiden“, freut sich Schulte.

Während miRNAs ihre Ziele durch homologe Basen­paarungen finden, scheint es bei lncRNAs alle möglichen Interaktionen mit anderen Biomolekülen zu geben. Wie die Partnermoleküle zusammenfinden, hängt vom Einzelfall ab und ist für die meisten lncRNAs noch nicht abschließend geklärt, weiß Schulte. lncRNAs können dabei sowohl im Cytoplasma als auch im Zellkern agieren. „Auch wir haben eine lncRNA identifiziert, die DNA bindet und während einer COVID-19-Erkrankung in Immunzellen herunter­geregelt wird“, verweist Schulte auf eine Arbeit aus dem vergangenen Jahr (PNAS, 119(36): e2120680119).

Mit RNA-Interferenz oder Gapmers

Um die Funktion von lncRNAs zu studieren, muss man sie herunter­regulieren oder ausknocken. Das gelinge laut Schulte bei cytoplasmatischen lncRNAs via RNA-Interferenz. Dazu schleust man eine passende siRNA (small interfering RNA) in die Zelle ein. Für Ziele im Zellkern hätten sich Locked Nucleic Acid Gapmers bewährt. Bei dieser Technik markiert man eine ausgewählte lncRNA mit einer Antisense-Sonde für den Abbau durch RNase H.

Statt des Knockdowns kann man auch die Gene der lncRNAs ausschalten. Bei lncRNAs, deren Sequenzen sich über viele tausend Basenpaare erstrecken und mit anderen Genen überlappen, ist das jedoch problematisch. Der Knockout könnte ungewollt auch andere Transkripte eliminieren. „Um das zu vermeiden, haben wir eine Methode entwickelt, bei der wir nur die Transkriptions-Startstelle im Promotor des lncRNA-Gens deletieren“, geht Schulte auf diese Problematik ein (PLoS One, 13(2): e0193066). Häufig sei es aber gar nicht nötig, wirklich einen Schnitt auf Genom­ebene durchzuführen: „Mittlerweile verwenden wir hauptsächlich eine katalytisch inaktive Variante des CRISPR-Enzyms, die wir auf den Promotor setzen; das nennen wir CRISPR-Interference.“ Bislang, so Schulte, habe sich seine Arbeitsgruppe vor allem auf die inter­genischen lncRNAs konzentriert, die lincRNAs. Diese überlappen nicht mit protein­codierenden Sequenzen.

Ob sich die ncRNA-Schublade „lang und nicht-codierend“ auf Dauer bewähren wird, muss die Zukunft zeigen. Zumindest ist die Definition zum aktuellen Stand der Forschung hilfreich – und die Wissenschaftsgemeinde weiß, was gemeint ist.

Mario Rembold

Bild: Tobias Wüstenfeld

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 11/2023.


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Letzte Änderungen: 28.11.2023