Editorial

Spätentwickler in der Champions League

(12.10.2023) Vor 20 Jahren belächelt, muss sich die Leipziger Biotech-Szene heute nicht mehr verstecken – über Bricks & Brains, Enzyme und James Watson.
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Aus der Mustermesse (MM) wird ein Biotech-Biotop (BB) – Foto aus dem Jahr 1974, rechts im Bild der Sowjetische Pavillon

Ende September gab es in der Leipziger Bio City was zu feiern. Denn vor genau 20 Jahren öffnete das Technologie- und Gründer­zentrum mit 20.000 Quadratmetern Labor- und Bürofläche seine Tore, um sich fortan um gründungs­willige Lebens­wissenschaftler zu kümmern. Bei Schnittchen und diversen Kaltgetränken erinnerten sich so manche Wegbegleiter an die, wie man den Festreden entnehmen konnte, doch recht hemds­ärmeligen Anfänge, geprägt von einer Einfach-Mal-Machen-Mentalität. Und man erinnerte sich nicht ohne Stolz an prominente Gäste, denn kein Geringerer als Nobelpreisträger James Watson hielt auf der Eröffnungsfeier der Bio City 2003 einen Vortrag über Genetik (heute arbeitet gleich nebenan ein weiterer Nobelpreisträger: Svante Pääbo).

Von Anfang an mit dabei war auch Biochemiker Marc Struhalla, der damals an der Uni Leipzig zu Enzymen forschte. Die von ihm entwickelte Enzyme-Engineering-Technik ließ sich patentieren und somit kommerzialisieren, wie er in seiner unterhaltsamen Rede berichtete. Recht blauäugig stürzten sich Struhalla und Kollegen daraufhin mit der Firma c-LEcta ins Abenteuer Biotech. Und sollten letztlich belohnt werden. Heute hat die Firma 120 Mitarbeiter, macht mit ihren aufgemotzten Enzymen Millionen Umsätze und braucht aktuell mehr Platz.

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Neubau mit Cuisine

Zum Glück für Struhalla und andere Biotech-Firmen arbeitet die Stadt Leipzig daran, diesen Platz zu schaffen. Ab 2027 soll ein neues „Innovations­zentrum“ mit zusätzlichen 10.000 Quadratmetern inklusive einer „Founders Cuisine“ (vulgo Kantine), S2-Laboren und Co-Working Spaces frisch gegründeten oder angehenden Life-Science-Start-ups für die Anmietung bereit stehen. Dafür wurde der „Sowjetische Pavillon“ auf dem ehemaligen Messegelände abgerissen. Mehr als 60 Millionen Euro investiert die Stadt. Eine gute Entscheidung, denn wie Struhalla erzählt: „Vor 20 Jahren musste ich Menschen noch erklären, dass man auch in Leipzig gut arbeiten und leben kann. Heute sagen Gesprächspartner ‚Leipzig kenne ich, das ist eine tolle Stadt.‘“

Und auch der Chef des Verbands für Biotechnologie, Medizintechnik und Gesundheits­wirtschaft (biosaxony) André Hofmann schaut „sehr positiv“ in die Zukunft. „Für die Alte Messe West entwirft die Stadtverwaltung gerade eine große Vision, die dem Standort und der Branche auf Jahrzehnte Luft für Entwicklungen lässt. Wenn wir diese Idee stringent umgesetzt bekommen, hat Leipzig seinen Dauerplatz in der Champions League der europäischen Life-Science-Standorte gesichert.“

Bereits im letzten Jahr sprach Thomas Köhler für die Leipziger Zeitung ausführlicher mit André Hofmann über das Gründen, die Bio City und den Life-Science-Standort Leipzig:

Der Verband Biosaxony beschäftigt sich nicht nur mit Forschungstransfer, sondern auch stark damit, Unternehmen bei Zulassungs­prozessen zu begleiten und zu unterstützen.
Hofmann: Das ist tatsächlich im Moment eine unserer Hauptaktivitäten. Das ist wirklich die Herausforderung, vor der die Unternehmen stehen. Es ist nicht damit getan, ein neues Produkt zu entwickeln, man muss es zulassen und zertifizieren für den deutschen bzw. europäischen Gesundheitsmarkt. Genau bei diesen Problemen versuchen wir zu helfen, explizit bei der Regulatorik. Die „medical device regulation“ ist vor einiger Zeit neu aufgelegt worden und viele, gerade die kleineren, Medizintechnik-Unternehmen sind davon extrem herausgefordert, weil es ein komplett neues Regelwerk ist. Keiner hat damit Erfahrung, keiner weiß damit umzugehen – alles muss neu gemacht werden. Die kleineren Unternehmen haben natürlich auch noch viele andere Themen, die sie nebenbei noch abfrühstücken müssen.

Sie ermöglichen also Biotech-Start-ups, sich auf ihre wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren, indem sie ihnen das regulatorische, finanzielle und juristische abnehmen.
Hofmann: Ja, das ist eine Entlastung. Was ich mir wünschen würde, so weit sind wir noch nicht, aber das ist das Ziel, dass wir es schaffen, die „time to market“ zu reduzieren. Eine Produkt­entwicklung, also von der ersten wilden Idee eines Wissenschaftlers im Labor bis zu „Ich habe das Produkt im Markt“, dauert im Life-Science-Bereich im Schnitt 22 Jahre. Zum Vergleich: in der IT sind es vier bis fünf Jahre. (…) Die Gründung liegt vom Zeitverlauf her ziemlich in der Mitte. Das heißt, wenn ich 22 Jahre Entwicklungszeit habe, habe ich elf Jahre in der Universität mit einer relativ komfortablen Förderquote von 100 Prozent. Ich habe ein Labor, um das ich mich nicht kümmern muss, und irgendjemand macht meine Buchhaltung und Abrechnung.

Dann verlasse ich die Universität ...
Hofmann: Genau … und der Wind geht scharf. In den zweiten elf Jahren gibt es relativ wenige Unterstützungs­plattformen. Ja, der Freistaat Sachsen macht viel im Sinne von Förderungen und die Stadt Leipzig macht unglaublich viel an Förderungen, die bestenfalls 50 Prozent abdecken. Die anderen 50 Prozent muss ich selbst irgendwo herbekommen. Die erste Herausforderung ist also: wo nehme ich das Geld her? Risikokapital gibt es in Sachsen kaum, mit dem TGFS [Technologie­gründerfonds Sachsen] kann das eine oder andere erreicht werden. Es gibt aber relativ wenig weitere Unterstützung.
US-amerikanische Märkte sind sehr stark Risikokapital finanziert, das ist fast eine 100-Prozent-Finanzierung. Bei uns ist das eher eine Mischkalkulation. Hier versuchen wir zu helfen. Zum einen, indem wir mehrere Unterstützungs­plattformen aufbauen, um den Unternehmen ein bisschen die Hand zu reichen und sie durch diese Phase zu führen. Zum anderen arbeiten wir daran, einen eigenen Risikokapitalfonds aufzubauen. Einfach um dem TGFS, der die erforderlichen Summen im Life-Science-Bereich nicht abdecken kann, etwas zur Seite zu stellen, das sich ausschließlich auf Life Science fokussiert. Wir wollen diese Lücke schließen.

Sprechen wir über die Bio City, die 2023 ihr 20-jähriges Jubiläum feiert.
Hofmann: Das macht uns eine wahnsinnige Freude am Standort Leipzig. Es ist jetzt fast genau zehn Jahre her, als ich bei Bio City angefangen habe. Damals haben wir uns vorwiegend um Dresden bemüht und Leipzig so ein bisschen mitgemacht. Jetzt hat sich das komplett gedreht. Von den 12 Biosaxony-Mitarbeitern sind zehn in Leipzig, eine in Freiberg im Homeoffice und eine in Dresden. Weil hier einfach mehr passiert. Wir haben im Moment drei Erweiterungs­projekte, die Bio City ist voll vermietet, wir sind an der absoluten Lastgrenze.

Wir können also davon ausgehen, dass sich Leipzig als Technologie-Standort etabliert und nicht wieder abgehängt wird?
Hofmann: Das ist richtig. Der Punkt ist, dass Sachsen in der Biotechnologie ein absoluter Spät­entwickler ist. München etwa hat 15 Jahre vorher mit Biotechnologie angefangen. Der Freistaat Sachsen hingegen hat erst im Jahr 2000 begonnen, das Thema für sich zu erkennen. Er hat dann aber intelligent agiert und 200 Millionen Euro in die Hand genommen und gesagt, wir investieren das in zwei Dinge: Bricks and Brains, wie wir das nennen. Bricks – das sind die Innovations­zentren in Dresden und Leipzig und in jedes dieser Zentren kamen sechs neue Professoren – also Brains –, die etwas in der Biotechnologie machen. Das mit den Bricks hat in Leipzig sehr gut geklappt, Dresden ist da nicht so gut aufgestellt. In der Wissenschaft hat, glaube ich, Dresden den besseren Drive. Wir haben in Leipzig zwar das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI), aber aus dem Biotechnologisch-Biomedizinischen Zentrum (BBZ) ist nicht so viel herausgekommen, wie wünschenswert wäre.
Wir sind spät gestartet, damals haben uns alle belächelt. Es gab sogar mal einen Artikel: „Jetzt kommen die Sachsen auch noch“. Mittlerweile lächelt keiner mehr über uns. Im Gegenteil, wir bekommen interessante Bewerbungen aus anderen Bundesländern, die hier etwas bewegen wollen – weil hier noch etwas zu bewegen ist. Das macht mir insgeheim Freude.

Thomas Köhler & Kathleen Gransalke

Bild: Bundesarchiv (Jürgen Sindermann)


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Letzte Änderungen: 12.10.2023