Editorial

Fehlerhafte Referenz

(24.08.2023) 1863 entdeckte ein junger russischer Forscher in Rudolf Virchows Labor Makrophagen. So steht es in manchen Publikationen, aber stimmt das auch?
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Rudolf Virchow gab den Auftrag, der zur Entdeckung der Makrophagen führte

Auf der Suche nach Informationen landet man häufig als erster Anlaufstelle bei Wikipedia. „Angefüttert“ vom LJ-Artikel „Umgepolte Tumorfresser“ über das angehende Dresdner Start-up Makrophagen 2.0 las die Autorin kürzlich sehr interessiert den entsprechenden Wikipedia-Eintrag zu den „Riesen­fresszellen“. Im Abschnitt Entdeckungs­geschichte heißt es, dass ein gewisser Kranid Slavjanski, „auf Rudolf Virchows Vorschlag“, erstmals in Lungen­bläschen von Kaninchen Zellen entdeckte, die weißen Blutkörperchen ähnelten und einen zuvor zugegebenen Farbstoff in sich trugen. Zugetragen haben soll sich das Ganze im Jahre 1863. Ein schönes Thema also für einen historischen Rückblick zum 160-jährigen Jubiläum der Entdeckung. Die Autorin recherchiert weiter.

Auch auf der Website www.biologie-seite.de findet sich dieselbe Geschichte, offenbar von Wikipedia übernommen. In diversen Dissertationen kommen Varianten des Wikipedia-Eintrags vor und sogar die Mikroskopische Gesellschaft Wien schreibt in einer online verfügbaren Handreichung zu einem Präparationsabend: „Kranid Slavjanski, ein Schüler Rudolf Virchows, erkennt 1863 in ‚Experimentelle Beiträge zur Pneumono­koniosis-Lehre‘ […] erstmals Alveolar­makrophagen nach Phagozytose von Zinnober. Außerdem deutet er richtigerweise Makrophagen als eingewanderte Blutleukozyten.“

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Würzburger Referenz

Als Referenz gibt sowohl die Wikpedia als auch die Mikroskopische Gesellschaft Wien die Würzburger Medicinische Zeitschrift, Bd. IV, 1863 an. Ok, denkt sich die Autorin, schauen wir mal nach. Zum Glück befindet sich eine online einsehbare Ausgabe in der Bayrischen Staatsbibliothek. Seite um Seite blättert die Autorin um, den Beitrag von Kranid Slavjanski findet sie allerdings nicht. Thematisch am nächsten kommt noch der Bericht über „das Epithel der Lungenbläschen der Säugethiere“ eines Wissenschaftlers mit dem unaussprechlichen Namen Dr. N. Chrzonszczewsky aus dem russischen Kasan, „vorgetragen in der Sitzung der physikalisch-medicinischen Gesellschaft in Würzburg am 4. Juli 1863“. Im ganzen Band gibt es keine Erwähnung eines Kranid oder Kronid (im Russischen mit o geschrieben, aber oft als a ausgesprochen) Slavjanski oder Slavjansky oder Slavjanskyi.

Wer ist eigentlich dieser russische Forscher im Berliner Labor von Rudolf Virchow? Vorausgesetzt es handelt sich um eben jenen Kranid Slavjanski lässt uns die russische Wikipedia wissen: Er war der Sohn eines Künstlers und lebte von 1847 bis 1898. Das Jahr 1863 ist in diesem Eintrag ebenfalls angeführt, in diesem Jahr hat der junge Slavjanski das Gymnasium abgeschlossen – mit einer Silbermedaille. Er war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt. Sehr unwahrscheinlich, dass er da schon wissenschaftliche Untersuchungen in Deutschland durchführte. Weiter lesen wir, dass er an der Kaiserlichen Medizinischen und Chirurgischen Akademie in St. Petersburg Medizin studierte und „ins Ausland geschickt wurde und in vielen physiologischen Laboratorien arbeitete“. Das passt wiederum zum Slavjanski in Virchows Labor. Karriere machte der russische Forscher übrigens nicht mit Immunzellen, sondern als Forscher in der Reproduktions­medizin. Kein Wunder also, dass die russische Wikipedia seinen Makrophagen-Beitrag nicht erwähnt.

Oder doch Virchow?

Ziemlich sicher wurden Makrophagen also nicht 1863 von Kranid Slavjanski entdeckt. Weitere Nachforschungen der Autorin fördern jedoch zwei andere Veröffentlichungen zutage, die das Jahr 1863, Makrophagen und Rudolf Virchow miteinander in Verbindung bringen. „Bereits Virchow hat 1863 erkannt, dass verschiedenste Tumoren eine große Anzahl Makrophagen enthalten“, schreiben etwa Johannes Roth und Jörg Ritter von der Uniklinik Münster im Kapitel „Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen“ des Buchs Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Außerdem bringt Virchow Tumore in Verbindung mit Entzündungen („Aetiologie der neoplastischen Geschwülste“; In: Die krankhaften Geschwülste. Springer, Berlin, Heidelberg).

Wie jetzt? Rudolf Virchow hat die Makrophagen als Erster entdeckt? Was aber ist dann mit der erwähnten Publikation „Experimentelle Beiträge zur Pneumono­koniosis-Lehre“? Die gibt es tatsächlich, sie erschien aber erst sechs Jahre später, im Jahr 1869. Da wäre Slavjanski also 22 Jahre alt gewesen. Möglicherweise spielte sich das Ganze so ab: Aufgrund seiner Beobachtungen, unter anderem an Tumoren, betraute Rudolf Virchow seinen jungen russischen Gaststudenten Kranid Slavjanski mit der Aufgabe, diese und andere seltsame Zellen genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Studien führte Slavjanski allerdings nicht an „Geschwülsten“ durch, sondern an Kaninchenlungen.

Staub in der Lunge

Kurz zur Erläuterung: Bei der Pneumono­koniosis oder Pneumokoniose handelt es sich um einer Erkrankung der Lungen, ausgelöst durch das Einatmen von Stäuben, wie etwa Kohlestaub. Daher auch der umgangs­sprachliche Name: Staublunge. Heute weiß man, dass Ruß- und andere anorganische Partikel, die nichts in der Lunge zu suchen haben, von speziellen Alveolar­makrophagen (auch Staubzellen genannt) aufgenommen und somit unschädlich gemacht werden. Neben diesen Lungen-spezifischen Fresszellen hat fast jedes Organsystem eigene Makrophagen: Kupffer-Zellen in der Leber, Mikroglia im Zentral­nerven­system, Langerhans-Zellen in der Haut und Fettgewebs­makrophagen im … nun ja, Fettgewebe.

Slavjanskis Aufgabe bestand nun darin, „einen Zweifel zu heben“, wie er in seiner 1869er-Publikation schreibt. Denn es war bekannt, dass „Kohlen­partikelchen“ in Lungen­alveolen und Lungen­parenchym eindringen. Oft sind diese Partikel aber nicht von natürlich vorkommenden Pigmenten in den Lungenzellen zu unterscheiden. Deshalb wollte Slavjanski „auf Aufforderung des Herrn Prof. Dr. Virchow, Experimente mit anderen Pigmenten anstellen“. Seine Wahl fiel auf Zinnober, ein Quecksilber­sulfid. Für die Versuche öffnete er die Luftröhre von Kaninchen und Meerschweinchen und injizierte die angerührte Zinnober-Lösung in die Respirationswege. Slavjanski bemerkt dazu: „Die Kaninchen vertrugen diese Operation sehr leicht und sehr selten bekamen sie Anfälle von Husten“. Nach einer Woche oder bis zu zwei Monaten schaute er sich die Lungen der Tiere an und entdeckte einige zinnoberrote Fleckchen, Mohnkorn- bis Stecknadelkopf-groß, auf der Lungenoberfläche.

Verlorene Freiheit

Unter dem Mikroskop sah Slavjanski „eine grosse Anzahl von Zellen, welche den Character weisser Blutkörperchen hatten und stellenweise Zinnober enthielten“. Die Epithelzellen der Bronchialschleimhaut, die Mucosa und die Bronchialknorpel enthielten keine Zinnoberkörnchen. Slavjanski fasst seine Beobachtungen zusammen: „Beim Durchdringen der feinsten Partikel in die Luftwege verlieren erstere bald ihre Freiheit und erscheinen in denjenigen zelligen Elementen eingeschlossen, welche den Character von Schleim­körperchen und weissen Blutzellen tragen.“ Er hat hier also bereits erkannt, dass die Partikel von den Zellen … phagozytiert werden. Oder wie er schreibt „verzehrt“.

Ebenso äußert er die Vermutung, dass diese Zellen nicht im Lungengewebe selbst gebildet werden, sondern „aus den Gefässen herauswandernd“ ihr Ziel erreichen. „In Folge des Reizes, welchen die kleinen Partikel in den Lungen-Alveolen ausüben, entsteht eine Neubildung von Zellen, welche ganz identisch mit den weissen Blutkörperchen sind, dabei erscheinen die Alveolar­epithelien unverändert, folglich dienen sie nicht als Matrix für die Neubildung; dasselbe kann man auch von dem Interalveolar­gewebe sagen.“

Der Herr aus Kasan

Am Ende seiner Ausführungen bedankt sich Slavjanski artig bei Virchow, „welcher mir die Frage zur Ausarbeitung vorschlug und mir freundlichst gestattete, vorstehende Untersuchungen auf seinem pathologisch-anatomischen Institute auszuführen“.

Interessanterweise erwähnt Slavjanski in seiner Publikation, die im Übrigen im Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin erschienen ist (48, 326–332), auch den Herrn mit dem unaussprechlichen Namen aus Kasan. Und zwar mit seiner Färbemethode für Lungen­epithelzellen. Dabei zitiert er auch dessen Publikation in der Würzburger Medicinischen Zeitschrift, Bd. IV, 1863. Möglicherweise ist diese Referenz in Slavjanskis 1869er-Artikel auf diese Weise fälschlicherweise in Umlauf geraten.

Für ein Jubiläum zur Makrophagen-Entdeckung müssen wir uns also noch sechs Jahre gedulden. Oder wir nehmen als Ausgangspunkt ein anderes Datum: 1883. In diesem Jahr, so schreibt es unter anderem das Nobelpreis-Komitee, präsentierte Elie Metchnikoff auf einer Konferenz an der Universität Odessa erstmals seine Forschungs­ergebnisse, bei denen unter anderem Dornen von Zitruspflanzen und Seesterne eine Hauptrolle spielten, zu Phagozyten und Phagozytose. Hurra und herzlichen Glückwunsch!

Kathleen Gransalke

Bild: gemeinfrei


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