Editorial

Schlaue Schleimereien

(18.08.2023) Auch wenn manches Forschungsinteresse erstmal abgedreht erscheint, stecken meist wichtige Fragen dahinter. Schneckenschleim bietet ein schönes Beispiel.
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Hin und wieder ist es nicht einfach nachzuvollziehen, warum Forscher sich so brennend für eine gewisse Sache interessieren. Sicher, wenn es darum geht, wichtige Stoffwechselwege zu entschlüsseln, die Fruchtbildung von Pflanzen zu verstehen oder die Schwachstellen von bösen Viren zu finden – dann ist wohl jedem die Motivation dahinter klar. Aber warum interessiert sich jemand bei all der offensichtlichen Fülle von wichtigen und spannenden Fragen ausgerechnet für die Zusammensetzung von Würmerkot oder die Lichtabsorptionsmuster von Fliegenflügeln?

Das Schöne ist, dass die betreffenden Forscher auch damit in den meisten Fällen durchaus wichtige Fragen im Hinterkopf haben. Nur erschließen sie sich dem Unbedarften oftmals erst dann, wenn sie die entsprechenden Ergebnisse präsentieren können. 

Nehmen wir etwa das Beispiel Schneckenschleim. Warum sollte irgendein Forscher sich ausgerechnet dafür sein Hirn verbiegen und die Hände schmutzig machen? Und vor allem: Welche großen Fragen würde er mit Erkenntnissen über Schneckenschleim wohl schon erklären helfen können?…

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Klebstoff mit und ohne Gift

Fangen wir zunächst einmal damit an, warum Schnecken überhaupt so viel Schleim produzieren. Um besser kriechen zu können, klar. Und das ist genauer besehen sogar ziemlich clever, denn die Schnecke produziert mit ihrem Schleim quasi ihren eigenen Straßenbelag, dessen Eigenschaften sie je nach Anforderung verändern kann: Mal ist er Klebstoff, wenn sie glatte Wände hinauf will; oder er wird zum glitschigen Gleitmittel, wenn es ein bisschen schneller gehen soll – wenigstens für Schneckenverhältnisse.

Das ist aber noch nicht alles. Denn überdies wehrt die Schnecke mit dem flexiblen Zucker-Eiweiß-Sekret auch viele Feinde ab – große wie kleine. Häufig ist die Mischung beispielsweise so zäh, dass mancher Vogel davon absieht, zuzupicken, um sich mit dem schleimigen Gesellen nicht den Schnabel zu verkleben. In anderen Fällen mixen die Weichtiere ein derart unappetitliches Aroma in den Schleim, dass potenzielle Fressfeinde sie lieber naserümpfend links liegen lassen. Ebenso mischen sie standardmäßig antibakterielle Substanzen in ihren Schleimfilm und beugen auf diese Weise Infektionskrankheiten vor. Eine wahre defensive Allzweckwaffe also.

Schlechte Energiebilanz

Allerdings verlangt die Natur für die Produktion solcher vielfach verwendbaren Wundermittel in der Regel einen hohen Preis. Und tatsächlich muss eine gewöhnliche Schnecke im Schnitt etwa ein Viertel ihrer Stoffwechselenergie ausschließlich in das „Schleimen“ stecken. Die Kehrseite daher: Die Tiere kommen nur noch im sprichwörtlichen Schneckentempo voran. Und je glibberiger eine Schnecke ihre Spur schmiert, desto langsamer kriecht sie – weil ihr umso weniger Energie für die tatsächliche Bewegung bleibt. Eiserne Schneckenregel daher: Jeder Zentimeter will wohl überlegt sein.

Ein überaus vernünftiges Resultat dieser „Überlegungen“ ist daher, dass Schnecken gerne in der Schleimspur eines Vorschleimers rutschen. So haben etwa britische Forscher ermittelt, dass die Gemeine Strandschnecke Littorina littorea auf einer frisch vorgeschleimten Schlitterschicht im Vergleich zur Vorkriecherin für den gleichen Weg nur etwa ein Viertel des teuren Schleims erzeugen muss (Proc. Royal Soc. B 274, S.1233).

Doch auch dieses „Nachschleimen“ dient nicht nur dem Energiesparen allein. Denn Schnecken glitschen nahezu ausschließlich im Schleim ihrer eigenen Artgenossen. Der Grund dafür ist ziemlich einleuchtend: Auf diese Weise finden sie mit großer Sicherheit den richtigen Fortpflanzungspartner. Schließlich kann es sich keine Schnecke leisten, wertvolle Reserven umsonst zu vergeuden, indem sie am Ende einem artfremden Wesen hinterher schlittern. Und sind sie somit auf der richtigen Spur, dürften sie ihre gewünschten Partner aufgrund des Energievorteils auch schnell einholen.

Jeder Schnecke ihren eigenen Schleim

Wie die Schnecken die Schleimspuren direkter Artgenossen zweifelsfrei von denjenigen lediglich verwandter Gattungen unterscheiden können, dürfte auch ziemlich klar sein: Jede Art mischt ganz spezifische Erkennungsstoffe in ihren Schleim.

Artspezifische Erkennungsstoffe? Damit hat uns der Schneckenschleim endgültig zu einer der ganz großen Fragen der Biologie gebracht, die da lautet: Welches sind die Treiber dafür, dass eine Art sich in zwei neue aufspaltet – und dass die beiden entstehenden Spezies während des längerwierigen Artbildungsprozesses auch strikt getrennt voneinander bleiben? Denn genau dabei spielt die spezifische Erkennung der eigenen Art, wie hier beim Schneckenschleim, oftmals eine ganz besondere Rolle. Diese ist nämlich zwingende Voraussetzung für die sogenannte assortative Paarung (assortative mating), bei der sich unter Konkurrenzdruck in einer Population mit zwei Subpopulationen stets genau diejenigen Partner bevorzugen, die jeweils identische Merkmale besitzen. Auf diese Weise wird die Rückvermischung zweier Subpopulationen einer Art minimiert, die durch unterschiedliche Anpassungsvorgänge gerade in Auftrennung begriffen sind – und der ganze Aufspaltungsprozess in zwei unabhängige Arten kann selbst in den gleichen oder stark überlappenden Lebensräumen weiterlaufen. Eine solche Bildung von zwei neuen Arten direkt im Gebiet der Ursprungsart bezeichnen die Experten als sympatrische Speziation – im Unterschied zur Artaufspaltung nach geographischer Trennung zweier Populationen einer Art (allopatrische Speziation).

Artaufspaltung via Aromavariation

Farbe, Geruchsstoffe, akustische Signale – alles, was zur klaren Erkennung der eigenen Art dient, kann demnach auch als Triebfeder für assortative Paarung und damit für Artbildung dienen. Und bei Schnecken erfüllen deren aromatisierte Schleimspuren eben auch diesen Zweck, wie schwedische Forscher jüngst in Evolution beschrieben (Band 62, S. 3178). Die Schweden hatten sich zwei verschieden große Varianten der Felsenstrandschnecke Littorina saxatilis vorgenommen, die im gleichen Lebensraum umherkriechen – und die zudem im Gegensatz zu vielen anderen Schnecken keine Zwitter sind. Am Ende ihrer Untersuchungen konnten sie tatsächlich festhalten, dass die Schneckenmänner den Schleimspuren der weiblichen Individuen ihres eigenen „Typs“ jeweils derart verwechslungsfrei folgten, dass Paarungen zwischen den beiden Subpopulationen – und damit die genetische Rückvermischung – um über 80 Prozent reduziert waren.

Sehr wahrscheinlich also, dass hier die subpopuläre Aromavariation des Schneckenschleims den endgültigen Abschluss der Artaufspaltung mitbewirken wird. Ganz abgesehen davon, dass nunmehr klar sein dürfte, auf welche Weise die Hinwendung zu vermeintlich unergiebigen Forschungsobjekten schließlich doch wertvolle Hinweise zur Lösung großer Fragen geben kann.

Ralf Neumann

(Foto: Karla Schutz)

 

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Letzte Änderungen: 01.08.2023