Beratung für alle
Die auf der Webseite des Netzwerkes veröffentlichten anonymisierten Fallbeispiele betreffen alle Hierarchieebenen. Sie reichen von unbezahlter Arbeit nach Beendigung der Doktorarbeit, über Missbrauch von erschlichenen Informationen, Abstrafung wegen Kritik an der Institutsleitung oder am Doktorvater bis hin zu Diskriminierung wegen Schwangerschaft.
„Unser Netzwerk will nicht nur Nachwuchswissenschaftler:innen beraten, sondern alle Personen im Wissenschaftsbereich, unabhängig von ihrer Position, ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft “, berichtet Sandra Beaufaÿs, promovierte Soziologin und Expertin für geschlechterbezogene Hochschulforschung.
Empirische Analysen zeigen, dass internationale Wissenschaftler, Frauen und LGBTIQ nachweislich häufiger durch Mobbing und Machtmissbrauch gefährdet sind. Beaufaÿs möchte als Netzwerkmitglied dafür sensibilisieren, dass das wissenschaftliche Feld auch ein Machtfeld ist, in dem aggressive Kämpfe um Deutungshoheiten und Positionen stattfinden. Das Geschlecht und die sozialen Voraussetzungen spielen dabei durchaus eine Rolle. Ein Ohr speziell für Student:innen und wissenschaftliche Hilfskräfte hat Philosophie- und Germanistikstudentin Sophia Hohmann.
Besser frühzeitig melden
Betroffene können die Netzwerkmitglieder über die E-Mail Adresse kontakt(at)netzwerk-mawi.de ansprechen. Sie werden gegebenenfalls auch an andere Netzwerke und Beratungsstellen weitergeleitet, sofern diese im konkreten Fall geeigneter sind. „Juristische Unterstützung können und dürfen wir derzeit nicht bieten. Ich rate Betroffenen auf jeden Fall, sich frühzeitig Rat einzuholen, welche Schritte möglich und sinnvoll sind. Zu einem späten Zeitpunkt ist es oft schwieriger einzuschreiten“, erklärt das Netzwerkmitglied Heinz Fehrenbach. Der Professor für Experimentelle Pneumologie hat mehrere Jahre Erfahrung als Ombudsperson.
„Unser Vorteil als Netzwerk liegt darin, dass wir schon einige Erfahrung in diesem Bereich gesammelt haben. Für Betroffene kann es schwer sein, einzuschätzen, ob ihr Fall am besten beim Betriebsrat, beim Gleichstellungsbüro, bei einer Ombudsperson oder einem Rechtsanwalt, bei einer Mediationsstelle, oder bei Vorgesetzten angesiedelt ist“, erläutert das Netzwerkmitglied Jana Lasser, PostDoc am Computational Social Science Lab der TU Graz. Sie untersucht die Auswirkungen von Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft auf die psychische Gesundheit. In ihrer Zeit als Sprecherin des Max-Planck-Doktoranden-Netzwerks hat sie sich ausgiebig mit Machtmissbrauch in der Wissenschaft beschäftigt (Laborjournal berichtete 2018: „Der richtige Umgang“). „Wir können dazu beraten, wie stark ein Fall bereits eskaliert ist und wo in der betreffenden Institution Ressourcen für die Konfliktlösung vorhanden sind. Wir können Fälle auch begleiten, damit sie nicht einfach verschleppt und ausgesessen werden.“
Keine Einzelfälle
Viele Betroffene denken, sie wären Einzelfälle. „Die Fallbeispiele auf unserer Website können Betroffene veranlassen, ihren Fall zu verarbeiten oder juristisch etwas zu unternehmen“, rät Müller. „Wir hoffen, dass eine Art Schneeballeffekt entsteht und sich das Wissenschaftssystem letztlich ändern lässt. Wir prüfen im konkreten Fall, wie erfolgversprechend es für die Betroffenen sein könnte, sich zu wehren.“
Auch die Wissenschaftsorganisationen sind inzwischen auf das Thema Machtmissbrauch aufmerksam geworden. Die DFG schreibt in ihren aktuellen Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis: „Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen sind durch geeignete organisatorische Maßnahmen sowohl auf der Ebene der einzelnen wissenschaftlichen Arbeitseinheit als auch auf der Ebene der Leitung wissenschaftlicher Einrichtungen zu verhindern.“ Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die die DFG-Leitlinien nicht umsetzen, können keine Förderung durch die DFG erhalten.
„Eine der Ursachen für Machtmissbrauch ist sicher der hohe Druck im System, auch für die Betreuenden. Das kann Vorgesetzte, die damit nicht besonders gut umgehen können, zu einem Verhalten verleiten, unter dem ihre Untergebenen zu leiden haben. Nachwuchswissenschaftler sind zudem in mehreren Weisen abhängig und ihre Arbeitssituation ist durch die kurzen Vertragslaufzeiten prekär“, erläutert Lasser. Sie kritisiert, dass es im Wissenschaftssystem fast unmöglich sei, Konflikte gütlich zu lösen, da es kein sinnvolles Feedback zur Betreuung gebe. „Die Betreuten trauen sich nicht, negatives Feedback zu geben. So können schlechte Betreuer nichts dazulernen. Zudem sind die Beschwerdewege häufig obskur, zahnlos oder unpassend. Diese Gemengelage aus hohem Druck, steilen Abhängigkeitsverhältnissen und Mangel an Werkzeugen zur Konfliktlösung ist sehr explosiv.“
Das Netzwerk braucht dich
Das Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft sucht derzeit weitere Mitglieder, gerne auch juristische Experten: „Ideell kann man uns unterstützen, indem man ein Statement zum Thema Machtmissbrauch auf unserer Website veröffentlicht. Es ist auch möglich, anonym ein Fallbeispiel einzureichen, das dann auf der Website erscheint, um die Vielfalt von Machtmissbrauch zu illustrieren“, so Hohmann. Fallbeispiele werden anonymisiert, damit kein Online-Pranger entsteht. „Vielleicht können wir ja in Zukunft verschiedene Fallsammlungen zusammenführen und auswerten“, regt Beaufaÿs an. Die Mitglieder zeigen auch Präsenz auf verschiedenen Veranstaltungen, zuletzt bei der Online-Open-Access-Konferenz „Structural Flaws In The Science System – And How To Fix Them“.
„Außerdem verfassen wir gerade ein Positionspapier, in dem wir darlegen wollen, warum es uns braucht und was unsere Standpunkte und Gedanken zum Thema Machtmissbrauch sind. Wir wollen als Netzwerk größer werden, mehr Perspektiven abdecken und uns immer wieder zu Wort melden, wenn es entsprechend aktuelle Themen gibt. Wir möchten auch nach und nach die Thematik Machtmissbrauch in Stellungnahmen und Handlungsempfehlungen aufarbeiten“, erläutert Lasser.
Rausschmiss mit Signalwirkung
Daniel Müller gibt zum Schluss zu bedenken: „Wir müssen mittelfristig von der Opferperspektive wegkommen und über die Täterinnen und Täter sprechen. Wenn man diese 10 Jahre früher aus dem Dienst entfernen könnte, wäre viel gewonnen. Wir müssen den Blick auch auf die Institutionen und deren Verantwortung für die Täterinnen und Täter lenken. Dass selbst Professoren und Max-Planck-Direktoren aus Führungspositionen entfernt werden können, hat Signalwirkung.“ Da es nicht ausreicht, nur die schwarzen Schafe zu entfernen, möchte das Netzwerk gegen Machtmissbrauch langfristig auch zu einer Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen beitragen.
Bettina Dupont
Bild: AdobeStock/TATIANA & Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft/Boenig (Logo)
Weitere Artikel zum Thema Machtmissbrauch & Forschungsintegrität
- Kein Platz für Opportunisten und Narzissten
Machtgefälle und Fehlanreize sind der Nährboden für unethisches Verhalten in der Wissenschaft. Vier Psychologen sagen: „Genug ist genug!“
- „Und nennen Sie nicht meinen Namen!“
Es ist kein gutes Zeichen, dass die meisten Informanten anonym bleiben wollen, wenn sie auf Missstände in Wissenschaft und Forschung aufmerksam machen.
- Forschungsbetrug im eigenen Labor vermeiden? — Ein paar Daumenregeln
Kürzlich fragte der Zürcher Neuropathologe und Prionen-Spezialist Adriano Aguzzi auf seiner Facebook-Seite: Können wir bitte eine aufgeschlossene, ehrliche und tabufreie Diskussion über wissenschaftlichen Betrug führen? Wie man ihn verhindern kann, und wie man damit umgehen sollte?
Letzte Änderungen: 24.02.2022