Selbstorganisation in
Natur und Zelle
(18.01.2022) Lebende Systeme tragen keinen festen Bauplan in sich; ihre Strukturen formen sich immer wieder neu. So wie Termitenhügel in der Savanne.
„Eine ganz universale Komponente für Selbstorganisation ist die Selbstamplifikation“, erklärt Philippe Bastiaens. Das Prinzip erläutert der Direktor der Abteilung Systemische Zellbiologie am Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie in Dortmund am Beispiel eines entstehenden Termitenbaus: Die Termitenhügel entstehen in gewissen Abständen zueinander, jedoch ohne dass es einen vorgefertigten Bauplan oder eine Anführerin unter den Termiten gibt. „Die Termiten laufen herum, heben ein Sandkorn auf und lassen es woanders wieder fallen – das ist Zufall“, so Bastiaens. Das ist vergleichbar mit der Diffusion eines Gases oder einer Flüssigkeit.
Allerdings hinterlassen die Tiere auf dem Sandkorn, das sie ablegen, ein Pheromonsignal. Umgekehrt erhöht dieses Pheromon in der Umgebung die Wahrscheinlichkeit, dass eine Termite ein Sandkorn fallen lässt. Landen durch zufällige Fluktuationen an einer Stelle mehr Sandkörner, ist das Pheromonsignal stärker. Weitere Termiten werden dort bevorzugt Sand ablegen. Dieses Selbstorganisieren mithilfe eines „Zeichens“ – hier das Pheromon auf den Sandkörnern – nennt man Stigmergie.
Sandkorn auf Sandkorn
„Die Sandhaufen verstärken so ihren eigenen Bau“, bringt es Bastiaens auf den Punkt und spricht vom Prinzip der Autokatalyse. Ein wachsender Hügel beeinflusst aber auch seine Umgebung, denn dort wird loser Sand fortgeschafft und steht nicht mehr zur Verfügung. „Das ist, als würde in der Nachbarschaft ein Inhibitor aktiviert“, so Bastiaens weiter. Hügel können also nicht beliebig wachsen, sondern halten Abstände zueinander ein, als gäbe es eine Bauverordnung, die das vorschreibt.
In einem Review aus dem Jahr 2010 greift Bastiaens zusammen mit Leif Dehmelt das Beispiel der Termiten auf und bezieht sich auf ein Modell des Termitenforschers Pierre-Paul Grassé aus dem Jahr 1959, das in späteren Arbeiten durch experimentelle Daten untermauert wurde (Nat Rev Mol Cell Biol, 11(6): 440-52). Selbstverständlich ist damit nicht der gesamte Termitenstaat erklärt, und die Hügel sind nur der oberirdische Teil des Baus. Es gibt verschiedene Termitenarten, die auch unterschiedliches Baumaterial einsetzen.
Doch dient ein Modell ja dazu, einen Teilaspekt möglichst einfach beschreiben und verstehen zu können, bestenfalls mit überprüfbaren Vorhersagen. Solche Vereinfachungen nimmt Bastiaens auch in seinen Laborexperimenten vor, um die Selbstorganisation in Zellen zu erforschen. Für eine letztes Jahr in Nature Communications veröffentlichte Studie bastelte sein Team synthetische Zellen mit Mikrotubuli, die auf Lichtreize hin ihre Form verändern (12(1): 1548). Die Autoren sprechen von einem „synthetischen morphogenetischen Membransystem“ (SynMMS). Sie haben Centrosomen und Tubulin gemeinsam mit GTP als Energielieferant in Liposomen verpackt – zusammen mit einigen weiteren Komponenten, um den Auf- oder Abbau der Mikrotubuli zu steuern.
Dynamisches Zellskelett
Mikrotubuli können wachsen oder schrumpfen. Doch selbst ein Mikrotubulus von konstanter Länge ist nicht statisch. „Das ist wie bei einem Stau auf der Autobahn“, nennt Bastiaens eine Analogie. Denn auch die zwei Kilometer lange Schlange während der Rush-Hour ist ja eine dynamische Struktur, die ständig hinten Autos aufnimmt und vorn Autos abgibt. Ebenso wird bei den Mikrotubuli ständig neues Tubulin an- und abgebaut. Es stellt sich also kein starrer Endzustand ein, sondern man spricht von einem Steady State oder Fließgleichgewicht. Dabei ist das Protein Stathmin ein wichtiger Vermittler. Es bindet freischwimmende Tubulin-Einheiten, die damit nicht mehr für den Aufbau der Mikrotubuli zur Verfügung stehen. Ab einer gewissen Konzentration an Stathmin schrumpfen die Mikrotubuli also, weil sie mehr Tubulin verlieren als neu anbauen.
Wird Stathmin aber durch eine Kinase phosphoryliert, so gibt es die gebundenen Tubulin-Moleküle frei, und das Gleichgewicht verschiebt sich in Richtung Mikrotubuli-Aufbau. In der lebenden Zelle wird Stathmin vor allem durch einen Komplex an der Zellmembran phosphoryliert, an dem Rac und PAK1 beteiligt sind. Dieser Komplex an der intrazellulären Seite bildet sich auf extrazelluläre Signale hin. Für seine künstlichen Zellen hat das Forschungsteam um Bastiaens dieses System an der Zellmembran modifiziert, sodass ein Licht-Stimulus Stathmin phosphoryliert.
Mikrotubuli in der Nähe der Membran finden also mehr Tubulin, das sie anbauen können. Stößt ein Mikrotubulus nun an die Membran und deformiert sie, so wirkt diese „Mulde“ in der Membran wie eine Falle für benachbarte Mikrotubuli, die zufällig dort hineingeraten. Sie sitzen damit auch näher am phosphorylierten Stathmin, das die Tubulin-Einheiten freigibt. Dort, wo die Membran einmal nach außen gebeult wird, verstärkt sich der Prozess also – ganz ähnlich, wie sich ein entstehender Termitenhügel selbst verstärkt.
Selbstorganisation unter Anleitung
Die Kinase an der inneren Zellmembran wird von außen aktiviert. In der lebenden Zelle kommt dieses Signal vielleicht nur aus einer Richtung; im Experiment konnte die Gruppe entsprechend über fokussiertes Licht eine Region der Membran gezielt auswählen und damit die Kinase aktivieren. In der Folge entsteht ein Gradient phosphorylierten Stathmins: Die Konzentration ist im Lichtfokus am höchsten und nimmt mit der Entfernung ab. In der Entwicklungsbiologie bezeichnet man solch ein chemisch diffundierendes Signal als Morphogen. Über das Morphogen kann somit auch eine Richtung oder Polarität erzeugt werden; demnach können Morphogene die Selbstorganisation also lenken. Es handelt sich um eine „guided self-organization“.
Im Termiten-Modell übernimmt die Königin diese Rolle des „Guides“: Sie produziert ein Pheromon, das den Staat beisammenhält und damit auch steuert, dass die Arbeiterinnen in der Reichweite ihres Signals Hügel errichten – und nicht beliebig weit von ihr entfernt. Entsprechend haben Bastiaens und Kollegen den Licht-Stimulus als „Guide“ eingesetzt. Ohne solch ein lenkendes Signal entstehen symmetrisch in alle Richtungen auslaufende Mikrotubuli, die die Zelle gleichmäßig verformen und wie einen Morgenstern aussehen lassen; daher nennt man diese Formen auch „Aster“. Ein lokales Lichtsignal hingegen gibt den wachsenden Mikrotubuli-Enden eine Vorzugsrichtung, wobei das Centrosom auf der Seite gegenüber zum Liegen kommt. Die Zelle erhält eine Polarität.
Cytoplasma mit Memory-Funktion
Umgekehrt hingegen ließ sich eine einmal polare Zelle nicht mehr in die Aster-Form zurückführen. „Das ist wie ein Gedächtnis der Zelle; eine Information, die in ihrer Form gespeichert ist“, so Bastiaens’ Interpretation. Er spricht von einer „Pluripotenz“, die die Astern noch haben, die der polaren Variante aber verlorengegangen ist. In dieser stark reduzierten Modellzelle passiert dieser Schritt ganz ohne Genregulation.
Bastiaens ist sich sicher, dass solche cytoplasmatischen Memory-Effekte auch bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs eine Rolle spielen; er benutzt daher gern den Begriff „intelligentes Cytoplasma“. Seine Gruppe möchte auch verstehen, wie man Krebszellen durch die richtigen Signale, also eine „anleitende Königin“, wieder in den gesunden Zustand zurückführen kann. Hierzu hielt Bastiaens vor einigen Jahren einen Vortrag im Caesarium Bonn, der auf YouTube abrufbar ist (Link hier).
Mario Rembold
Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe von Laborjournal. In der ausführlichen Version erläutert Mario Rembold weitere Beispiele für Selbstorganisation, bei denen Tröpfchen und Milchdrüsen-Organoide eine Rolle spielen.
Bild: Pixabay/hbieser
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