Klinische Studien –
Ganz mies!

(11.01.2022) Seit Jahrzehnten ist bekannt: universitäre und Industrie-unabhängige klinische Studien sind in Deutschland mangelhaft. Was sind die Konsequenzen?
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Editorial

Auch der gar nicht mal so verrückte „Wissen­schaftsnarr“ Ulrich Dirnagl kam in Labor­journal 9/2021 zum gleich­lautenden Urteil. Anlass für Dirnagls vernichtende Bewertung war die Veröffent­lichung einer systema­tischen Analyse klinischer Studien zu COVID-19 in Deutschland. Trotz der offen­sichtlichen Notwendigkeit, wirksame Therapeutika gegen die Infektions­krankheit zu finden, wurde nur jeder hundertste in Deutschland hospitalisierte COVID-19-Patient in eine randomisierte klinische Studie eingeschlossen. Nur wenige der klinischen Studien in Deutschland wurden bis zum Stichtag im April 2021 auch tatsächlich abgeschlossen. Die Mehrzahl erreichte nicht die vorgesehenen Teilneh­merzahlen oder wurde gar abgebrochen.

Aktuelle Daten zu COVID-19-Studien in Deutschland findet man auf einer Weltkarte des Instituts für Klinische Forschung der Universität Basel (COVID-evidence.org/database). Am 15. November 2021 ist Deutschland auf der Karte hellgrün eingefärbt, was mit 122 bis 241 Studien der zweit­niedrigsten Kategorie entspricht. Ein Klick auf das Land spezifiziert: 202 Studien mit insgesamt 522.528 geplanten Teilnehmern, davon 122 internationale Studien.

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Spitzenreiter USA

Das Vereinigte Königreich fällt in die nächst­höhere Kategorie mit 261 Studien und knapp einer Million geplanten Probanden. Spitzenreiter sind die USA mit 842 Studien, davon 270 mit internationaler Beteiligung, mit über 21 Millionen geplanten Studien­teilnehmern. Jörg Meerpohl, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin der Universität Freiburg sowie Direktor von Cochrane Deutschland, konstatiert: „Es ist ernüchternd zu sehen, dass es Deutschland nicht in größerem Umfang gelungen ist, wichtige klinische Studien zu COVID-19 durch­zuführen beziehungs­weise diese wie geplant abzuschließen.“

Die betreffenden Analysen verantworten Lars Hemkens und Perrine Janiaud des Basler Instituts und ihre Kollegen. Das Paper zu deutschen Studien ist noch im Peer-Review-Verfahren. Wie die Forscher schreiben, hat das Paper zwar einige Limitationen. Dazu gehört jedoch nicht, was Oliver Cornely bemängelte: Der Leiter des Wissen­schaftlichen Zentrums für Klinische Studien in Köln hält allein die Anzahl der klinischen Prüfungen für kein vernünftiges Bewer­tungsmaß. Es sei wichtiger, zu fragen, welche Studien Ergebnisse gebracht hätten, die die Behandlung verbesserten.

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Von Platz 1 auf Platz 4

Kritik an dem Paper ändert allerdings nichts an dem seit langem bekannten Kernproblem: Die klinische Forschung in Deutschland ist ausbaufähig, nicht nur hinsichtlich COVID-19-Studien. Beispiel Onkologie: Bei der Prüfung von Krebs­therapeutika sei Deutschland in den vergangenen Jahren von Platz eins in der Welt auf Platz vier zurück­gefallen, kritisierte der Direktor des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) und Direktor der Klinik für Innere Medizin der Universität Köln, Michael Hallek, auf der „Vision Zero“-Konferenz, die im Juni in Berlin stattfand.

„Das Potenzial zur Durchführung hochrelevanter klinischer Studien, die aus der Universitäts­medizin heraus initiiert werden, ist in Deutschland grundsätzlich sehr hoch – wie auch die Nachfrage im Programm ‚Klinische Studien‘ der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG) zeigt –, aber es ist bei weitem nicht ausgeschöpft“, urteilt Britta Siegmund, Direktorin der Klinik für Gastro­enterologie und Infektiologie an der Charité Berlin und Vize­präsidentin der DFG. Das alles ist nicht neu. Seit zig Jahren erheben forschende Kliniker, DFG und Wissen­schaftsrat immer und immer wieder ihre kritischen Stimmen.

Natürlich wurden viele Vorschläge zur Behebung der gravierendsten Hindernisse entwickelt. Und hier und da wurde man sogar aktiv. So finanziert die DFG inzwischen dauerhaft ein Förderprogramm „Klinische Studien“, in dessen Rahmen sie interventionelle klinische Studien bis Phase 2, aber auch Beobachtungs- und Machbarkeitsstudien unterstützt.

Inkonsequent und unvollständig

„Natürlich wäre mehr Geld für die klinische Forschung prima, doch damit alleine ist es leider nicht getan. Denn die Probleme sind vielfältig“, so Cochrane-Deutschland-Direktor Meerpohl. „Es fängt schon bei der Planung und Registrierung an – und hört bei der unvollständigen oder nicht existenten Veröffent­lichung von Daten auf.“ So muss eine Studie zum einen nicht unbedingt registriert werden und kann zum anderen – wenn doch – in einem von mehreren Registern gemeldet werden. Wenn man Studien aber nicht einfach findet, können sowohl wissen­schaftliche Lücken wie auch Redundanz entstehen.

Klinische Forschung erweckt für Mediziner und Molekular­biologinnen auch nicht den Eindruck, besonders attraktiv zu sein. Meerpohl: „Hinter den angesehenen experi­mentellen Doktor­arbeiten in der Medizin verbergen sich in der Regel Laborarbeiten, selten klinische Studien. In Gesprächen mit internationalen Kollegen merke ich, dass die klinische Forschung in anderen Ländern ein höheres Ansehen hat und attraktiver ist als in Deutschland.“ Es gibt ja auch keine entspre­chenden Qualifikationen wie Facharzt oder Weiter­bildungen für klinische Epide­miologie. „Also fehlt vielfach auch die Methoden­kompetenz“, so Meerpohl.

Ganz besonders beklagt wird die hiesige über­bordende Regulationswut. Oliver Cornely, beschreibt das anhand eines Beispiels: „Sie möchten bei 75-Jährigen in einer randomisierten Studie prüfen, ob der mRNA-Impfstoff von BioNTech oder der von Moderna die bessere Immunantwort hervorruft. Die Aufklärungs­unterlagen umfassen 42 Seiten. Keine Kürzung möglich, wenn man allen Vorschriften genügen will.“ Auch vfa-Präsident Han Steutel bestätigt: „Für unsere Unternehmen spielt Geschwindigkeit eine große Rolle – und ausgerechnet sie ist Deutschlands größtes Manko. In der Zeit, die man hierzulande braucht, um alle Genehmigungen einzuholen und die Verträge mit den Kliniken zu verhandeln, werden oft in anderen Ländern bereits alle nötigen Teilneh­merinnen und Teilnehmer für die Studie rekrutiert und behandelt.“

Heiße Luft?

Manches wird sich 2022 mit Inkraft­treten der neuen EU-Verordnung für Genehmigungs­verfahren zu klinischen Prüfungen verbessern, die dann auch in Deutschland greifen. Und auch auf Seiten der Bundes­regierung sind tatsächlich Veränderungen am Start. So fördert das Bundes­ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Aufbau des Forschungs­netzwerks Universitäts­medizin mit 240 Millionen Euro bis zum Jahr 2024, „um die Forschung­saktivitäten der deutschen Universitäts­medizin zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie zu stärken”, wie es auf der Website des Netzwerks heißt. Allerdings fragt man sich, warum die Politik erst jetzt und nur für COVID-19-Forschung Strukturen ändert und Geld lockermacht.

Dringend nötig wäre es vielmehr, endlich die vielfach vorgedachten Reformen in den klinischen Strukturen, der wissen­schaftlichen Ausbildung, dem Datenschutz und der Verwaltung umzusetzen, damit die klinische Forschung auch in Deutschland (wieder) florieren kann.

Karin Hollricher

Bild: Juliet Merz

Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite.

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 12/2021.


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Letzte Änderungen: 11.01.2022