Retractions sind gut und wichtig

(03.12.2021) Ein Paper zurückziehen zu müssen, gilt als Schande. Dabei erfüllt die Mehrheit der Re­tractions doch den hohen Wert der wissenschaftlichen Selbstkorrektur.
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Editorial

Stellen Sie sich vor: Sie stoßen auf einen Artikel, der laut Titel für Ihr Forschungsprojekt interessant sein könnte – aber sehen sogleich, dass er zurückgezogen wurde. Einen Klick weiter landen Sie bei der Retraction Notice – und lesen lediglich die dünnen Worte: „This article has been withdrawn.“

„Kryptischer geht’s nicht mehr“, denken Sie. Und zurück bleiben Fragen. Wer hat den Artikel zurückgezogen? Waren es die Autoren, der Editor – oder alle zusammen? Und warum wurde das Paper zurückgezogen? Gab es Messfehler? War etwas nicht reproduzierbar – und wenn ja, was genau? Traten Inkonsistenzen in den Daten zutage, sodass die Schlussfolgerungen nicht mehr haltbar waren? Oder schlimmer: Hat da jemand schlampig gearbeitet? Womöglich sogar bewusst Daten gefälscht?

„Wenn die so wenig dazu schreiben, wird es wohl Fälschung sein“, denken Sie. „Die wollen die Autoren halt nicht an den Pranger stellen.“ Und schon haben Sie den Autoren womöglich Unrecht getan.

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Hässliche Narbe in der Publikationsliste

Wundern muss das bei derart „zurückhaltender“ Informationspolitik allerdings nicht. Zumal das Beispiel keinen Einzelfall darstellt. Kürzlich erst präsentierte etwa ein vietnamesischer Autor eine Analyse von zweitausend Retraction Notices aus den Jahren 1975 bis 2019 (Learn. Publ. 33: 119-130). Eines seiner Ergebnisse: Über die Hälfte spezifizierte nicht, wer die Retraction initiiert hatte, fast jede zehnte war gar ohne jegliche Notice erschienen. Und wenn die Gründe für die Rücknahme erklärt wurden, dann oft nur ansatzweise und kaum nachvollziehbar.

Diese fehlende Transparenz ist sicher ein Hauptgrund dafür, dass Retractions einen derart schlechten Ruf haben. Mit der Folge, dass Journals sie am liebsten vermeiden oder wenigstens ganz weit hinten verstecken möchten. Dabei haben sie diesen Teufelskreislauf durch ihren meist sehr widerwilligen Umgang mit jeder Form von Paper-Rücknahme doch selbst mit ins Laufen gebracht. 

Die schlimme Konsequenz ist, dass die vielen ehrlichen Forscher, die redliche Mängel in ihren eigenen Artikeln aufspüren und sie via Retraction den Kollegen anzeigen wollen, im gleichen Atemzug Angst vor Stigmatisierung haben müssen. Weil es ihnen vor diesem Hintergrund vorkommen muss, als schlüge ihnen ein zurückgezogenes Paper eine hässliche Narbe in die Publikationsliste. Es dürften nicht wenige sein, die sich aus diesem Grund lieber so lange wie möglich still verhalten.

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Lob statt Stigma

Da nützt es auch nicht viel, dass sie mit jeder Rücknahme eines zweifelhaften Papers eigentlich einen der höchsten Werte unserer Wissenschaftskultur hochhalten würden: die Selbstkorrektur. Und dafür gehörten sie eigentlich gelobt statt stigmatisiert.

Ralf Neumann

(Illustr.: Nelson Provazi)

 

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