Mehr als nur die Summe
(17.11.2020) Die Funktion von Biomolekülen hängt von ihrer Struktur ab. Diese lässt sich mit Röntgenkristallografie, NMR und Kryo-Elektronenmikroskopie lösen.
Strukturbiologen leben in einer spannenden Zeit. Denn heute stehen ihnen Methoden zur Verfügung, mit denen sie den Aufbau und die Funktionsweise zellulärer Moleküle in einer Geschwindigkeit und Genauigkeit untersuchen können, von der sie vor wenigen Jahren noch nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Quasi live kann man das gerade am SARS-CoV-2-Virus mitverfolgen. In der Proteindatenbank (PDB) findet man Strukturbilder des Virus und seiner Bestandteile, die mit Röntgenkristallografie (X-Ray), Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) und Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) rekonstruiert wurden.
Diese drei Methoden sind die Arbeitspferde der Strukturbiologen, um Form, Größe, atomaren Aufbau und Mechanismen von Proteinen und Komplexen aufzuklären. Obwohl viele Anwender nur eine dieser Methoden favorisieren, hört man in der Strukturbiologen-Szene immer mehr Stimmen, die die Komplementarität dieser drei Techniken betonen. Ein Paradebeispiel für ihr erfolgreiches Zusammenspiel ist die Aufklärung von Struktur und Mechanismus des Spleißosoms. Dieser molekulare Komplex schneidet im Zellkern Introns aus prä-mRNA-Molekülen heraus und verbindet die verbleibenden Exons miteinander.
Forscherleben für das Spleißosom
Wie man die Struktur dieses Multi-Protein-RNA-Komplexes nach und nach enthüllte, kann Reinhard Lührmann erzählen. Er gilt als der weltweit vielleicht beste „Spleißosom-Versteher“ und verbrachte fast sein ganzes Forscherleben mit diesem Komplex. Lührmann arbeitete viele Jahre am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und hat dort noch immer eine Emeritus-Gruppe. „Das Spleißosom besteht aus über hundert Proteinen und fünf kleinen snRNA-Molekülen. Etwa 50 Proteine bilden mit den snRNAs Partikel namens U1- und U2-snRNP sowie U4/U6.U5-tri-snRNP. Überraschenderweise existieren Spleißosomen nicht als vorgefertigte Maschinen, sondern werden an jedem Intron aus den einzelnen Bausteinen neu zusammengesetzt, wobei sie sukzessive eine Vielzahl verschiedener struktureller und funktioneller Stadien durchlaufen. Dabei ändert sich die biochemische Zusammensetzung des Spleißosoms kontinuierlich, was eine enorme Herausforderung für die Strukturbiologie ist. Wenn man die Struktur des Spleißosoms verstehen will, reicht es nicht, einen einzigen spleißosomalen Komplex zu analysieren – man muss alle Zwischenzustände des Spleißosoms strukturell aufklären, die es während der Phasen des Assemblies, der katalytischen Aktivierung, der katalytischen Phase und des Disassemblies durchläuft.“ Dafür waren Röntgenkristallografie, NMR und Kryo-EM gemeinsam im Einsatz.
Nachdem die ersten Proteine sequenziert waren, begann man in den Neunzigerjahren mit Kristallografie und NMR, die Struktur einzelner Proteindomänen aufzuklären – später auch von größeren Proteinen sowie Protein-RNA-Komplexen. Die snRNPs stellten die Forscher allerdings auf eine harte Probe. Sie sind mit etlichen Hundert Dalton viel zu groß, um sie im NMR zu analysieren. Und bis auf eine Ausnahme, das U1snRNP, gelang es auch niemandem, sie zu kristallisieren.
Auflösungs-Revolution
Kryo-EM war damals auch nicht erfolgreich, weil man die Zwischenzustände mit prä-mRNAs in vitro assemblieren lassen musste. Daraus aber konnte man nicht genug Material für die Mikroskopie isolieren. Lührmann: „Erst in den Nullerjahren gelang es uns mit Holger Stark, die 3D-Struktur mehrerer spleißosomaler Snapshots und des tri-snRNPs bei niedriger Auflösung in den Grundzügen zu beschreiben. Mit der Entwicklung von direkten Detektoren, die die zuvor genutzten Kameras ablösten, und mit Unterstützung von sehr effizienten Maximum-Likelihood-Bildverarbeitungsprogrammen setzte dann in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts eine Revolution in der Auflösung ein.“
Innerhalb von nur fünf Jahren wurden hochaufgelöste 3D-Strukturen aller snRNPs und der wichtigsten spleißosomalen Zwischenzustände des menschlichen und des Hefe-Spleißosoms publiziert – im Wesentlichen von drei Arbeitsgruppen in Peking, Cambridge und Göttingen.
„Damit ist ein lange gehegter Traum von mir, dem Spleißosom bei der Arbeit zuschauen zu können, erfüllt worden“, sagt Lührmann. „Während unsere früheren biochemischen Untersuchungen die kompositionelle Dynamik des Spleißosoms deutlich gemacht hatten, haben die Kryo-EM-Strukturen der diversen spleißosomalen Komplexe jetzt offenbart, wie dramatisch die Dynamik der Strukturumlagerungen des Spleißosoms beim Übergang von einem Zustand zum nächsten sein kann. So können mehrere große Strukturelemente des Spleißosoms sukzessive Translokations-Bewegungen von mehr als 20 Nanometern durchlaufen. Ein Prinzip, das von anderen molekularen Maschinen wie beispielsweise dem Ribosom nicht bekannt ist.“
Pro und Contra
Jede der genannten Methoden hat ihre Vor- und Nachteile, ihre glühenden Verfechter und ebenso rigorosen Kritiker. Manche Forscher aber machen sich für die Kombination der Methoden stark. Alles in allem scheint es, dass die Kombination aus Röntgenstrukturanalyse, Kryo-EM und NMR mehr wert sein könnte als ihre bloße Summe. Denn jede dieser Methoden beschreibt ein Molekül aus einer anderen Perspektive, mit unterschiedlichen Details und Genauigkeit. Das sollte man sich zunutze machen.
Karin Hollricher
Bild: Gruppe Sazanov
Dieser hier gekürzte Artikel erschien in ausführlicher Form zuerst in Laborjournal 11/2020. In diesem Heft erfahren Sie noch viel mehr zum Thema „Strukturanalyse von Biomolekülen“.