Neue Namen für alte Viren
(17.08.2020) Für die Benennung von Lebewesen existieren strenge Richtlinien. Viele Virologen wünschen sich, dass das bald auch für Viren gilt.
Die Entwicklung der binären Nomenklatur zur Klassifizierung von Lebewesen ist wohl die nachhaltigste Errungenschaft des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707–1778). Jeder neu entdeckte Organismus erhält seitdem einen unverwechselbaren Namen aus zwei kursiv geschriebenen Begriffen, die sich an der lateinischen Grammatik orientieren. Der erste stellt den groß geschriebenen Gattungsnamen dar, der zweite – das klein geschriebene Epitheton – beschreibt eine Eigenschaft, die für die Art charakteristisch ist. Ausnahmen sind Huldigungen an Entdecker oder berühmte Persönlichkeiten, die sich im Epitheton niederschlagen. Wobei die Grenzen fließend sein können, wie die Motte Neopalpa donaldtrumpi zeigt, deren blonde „Haarpracht“ ihren Entdecker an den umstrittenen Führer einer westlichen Weltmacht erinnert hat.
Chaos im Reich der Viren
Viren sind keine Lebewesen und fallen damit nicht unter die Regeln der binären Nomenklatur. Zu den wenigen Vorgaben für die Benennung von Virenspezies gehört, dass sie mit möglichst wenigen Wörtern auskommen sollen. Oft greifen Viren-Taxonomen dafür auf Gattungs- oder Familiennamen des Wirts, Fundort oder Symptom-Beschreibung einer durch „ihre“ Virenspezies verursachten Krankheit zurück. Zahlen und Kombinationen von Großbuchstaben sind ebenfalls häufig.
Im Extremfall entstehen dann lange und unhandliche Namen wie Tomato yellow leaf curl Indonesia virus. Solange insgesamt nur wenige Virusspezies bekannt sind, mag das kein Problem sein. Aufgrund des technischen Fortschritts werden aber immer mehr Virusgenome sequenziert, so dass auch die Zahl von Neubenennungen zunimmt. Dies hat das Internationale Komitee für die Taxonomie der Viren (ICTV) mit Sitz in London zum Anlass genommen, einen Vorstoß zur Vereinheitlichung der Nomenklatur von Virusspezies zu machen. Damit stehen sie übrigens nicht alleine da, denn auch unter Mikrobiologen hat die Flut an sequenzierten Genomen zu Diskussionen um die Benennung von nicht-kultivierbaren Mikroorganismen geführt (siehe LJ Online-Artikel „Ordnung ins Namenschaos“ vom 06.07.2020).
Anpassung an die belebte Welt
In einer im Dezember 2019 erschienenen Publikation haben die Mitglieder des Präsidiums des ICTV ihre Ideen für ein neues taxonomisches Regelwerk vorgestellt (Arch Virol, 165(2): 519–525). Am Ende erbaten sie bis zum 30. Juni 2020 Rückmeldungen ihrer Leser, um bei der nächsten Komitee-Sitzung im Oktober verbindliche Regeln festlegen zu können, über die dann wiederum alle Mitglieder des ICTV abstimmen sollen. Ausdrücklich beziehen sich die Vorschläge nur auf die Namensgebung von Virusspezies, in der einzelne, miteinander verwandte Viren zusammengefasst werden und die damit lediglich eine abstrakte taxonomische Kategorie darstellen. Das neue Klassifizierungssystem soll international verständlich sein, einer binären Nomenklatur entsprechen und die Umbenennung bereits beschriebener Spezies möglichst einfach machen. So sollen Gattungsnamen, die bereits heute einheitlich auf „-virus“ enden, weitgehend übernommen werden und dann für jede Spezies mit einem spezifischen Epitheton ergänzt werden.
Für Letzteres werden drei Vorschläge diskutiert: Der erste setzt – analog zur Taxonomie von Lebewesen – auf lateinische oder zumindest latinisierte Begriffe, da diese universell verständlich seien. Latinisierte Epitheta könnten außerdem leicht übertragen werden, falls eine Spezies nachträglich in eine neue Gattung verschoben werden muss. Dies wäre ungleich komplizierter, wenn das Epitheton gemäß dem zweiten Vorschlag aus einer Nummerierung oder einer aufeinander aufbauenden Folge an Großbuchstaben bestehen würde. Der dritte Vorschlag gewährleistet maximale Flexibilität, indem er jede Art von Buchstaben- und Zahlenkombination erlaubt. So ließen sich wahrscheinlich die meisten heute gebräuchlichen Spezies-Namen in Epitheta umwandeln – allerdings auf die Gefahr hin, dass dadurch inhaltsfreie und kaum auszusprechende Bezeichnungen entstehen.
Taxonomie in Zeiten von Corona
Die Vorschläge stoßen in der Gemeinschaft der Virologen allerdings nicht auf ungeteilte Begeisterung. Vor allem der Vorschlag, lateinische Begriffe zu verwenden, sorgt für Kritik. Immerhin sei Latein zu Linnés Zeiten noch unbestrittene Wissenschaftssprache gewesen, während heute kaum noch ein Forscher ausreichend gut Latein beherrsche.
Außerdem seien viele Virologen durch die COVID-19-Pandemie mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert und haben den Aufruf des ICTV zum Teil nicht rechtzeitig gelesen, wie etwa Katherine Spindler, Schatzmeisterin der American Society for Virology von der University of Michigan in Ann Arbor in einem Nature-Kommentar zum Thema zitiert wird. Unterstützung bekommt sie durch die Australasian Virology Society, die das Jahr der Corona-Pandemie nicht für geeignet hält, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen, die immerhin rund 5.560 derzeit bekannte Virusspezies betreffen würde. Der ICTV hält jedoch an seinem Plan fest, denn man habe ihn, so der Präsident Andrew Davison von der University of Glasgow, bereits seit fast zwei Jahren auf der Tagesordnung.
Weniger kritisch sehen die meisten Virologen dagegen den Vorschlag einer Gruppe von Wissenschaftlern um Andrew Rambaut von der University of Edinburgh, die Klassifizierung von Abstammungslinien des SARS-CoV-2-Virus den Bedürfnissen in einer Pandemie anzupassen (Nat Microbiol, DOI: 10.1038/s41564-020-0770-5). So erwarten die Autoren bis zum Ende der Krankheitswelle mehrere 100.000 sequenzierte Erreger-Genome. Um besser verfolgen zu können, welche Linien für die Ausbreitung der Krankheit entscheidend sind, empfehlen Rambaut et al. eine Katalogisierung in aktive, seit mehr als einem Monat nicht mehr beobachtete und inaktive Viruslinien.
Wie auch immer die Diskussion unter den Virologen ausgeht – fest steht, dass in der heutigen Zeit auch Taxonomen ganz neuen Herausforderungen ausgesetzt sind.
Larissa Tetsch
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