Der Eiterpublizist

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(10.11.2021) Zwei junge Geistesverwandte schließen für wenige Jahre Freundschaft. Der eine wird weltberühmt, der andere ist heute kaum noch bekannt.

„Species granulata cellularum puris non pendet ex granulis minimis, in illarum superficie insidentibus, uti J. Vogel docet, sed potius ex granulis, in cellularum contento fluido suspensis, quae perpetuo motu moleculari agitantur.“

So lautet ein Kernsatz in der Dissertation unseres Gesuchten aus dem Jahr 1844 über die Eiterbildung bei Bauchfellentzündungen. Übersetzen könnte man ihn folgendermaßen: „Die Art der reinen Körnchenzellen hängt nicht von den kleinsten auf ihrer Oberfläche sitzenden Körnchen ab, wie J. Vogel lehrt, sondern von Körnchen im Inneren der Zellen, die, in einer Flüssigkeit suspendiert, durch molekulare Bewegung ständig bewegt werden.“

Es war dieser Satz, der einen damals 23-Jährigen einige Straßen weiter in Berlin derart beschäftigte, dass er unseren frisch Promovierten umgehend aufsuchte. Elf Jahre später sollte dieser junge Besucher mit nur vier lateinischen Worten einen absoluten Grundsatz der Biologie formulieren – und damit nicht nur sein eigenes Fach, sondern die Medizin insgesamt auf ein naturwissenschaftliches Fundament stellen. Zu einer Zeit also, in der viele Ärzte immer noch an die antike Lehre vom Gleichgewicht der Körpersäfte glaubten – und Krankheiten mit Aderlass, Einläufen oder Brechmitteln kurierten, ohne etwas über die Ursachen zu wissen.

Editorial

In einem späteren Aufsatz schreibt dieser große Kopf, der übrigens vor einigen Wochen 200 Jahre alt geworden wäre, dass von dem ersten Besuch an eine tiefe Geistesverwandtschaft zwischen den beiden Jungforschern geherrscht hätte:

„Unsere Beziehungen gestalteten sich bei der großen Übereinstimmung in allen Grundanschauungen der Wissenschaft und des Lebens schnell sehr freundschaftlich, und ein fast täglicher Umgang, ein unausgesetzter Austausch der Meinungen und Erfahrungen brachte uns bald auf den Gedanken gemeinschaftlicher Thätigkeit zur Begründung und Entwicklung einer naturwissenschaftlich durchgeführten Medicin.“

Obwohl von seinen Zeitgenossen als mild und ruhig im Umgang beschrieben, packte unseren Gesuchten gerade bei diesem Anliegen offenbar leicht der Zorn. In einem Brief, den er Ende 1845 in seiner Vaterstadt Neu-Strelitz an seinen Freund verfasste, ereiferte er sich etwa folgendermaßen:

„Es ist durchaus nothwendig, daß wir uns zusammenthun und einen energischen Feldzug gegen die Esoteren und sonstiges Volk, was jetzt die Wissenschaft mit ihrem läppischen Gewäsch überschwemmt, unternehmen. Wenn man das Zeug Alles liest, was jetzt zusammengeschmiert wird, es ist zum Rasendwerden! Früher ergingen sich dergleichen Subjecte in der Therapie und Materia medica oder in sublimen Gedanken über das Wesen der Krankheiten, und das mag ihnen gegönnt sein. Wenn sich dergleichen Volk aber an die pathologische Anatomie, Mikroskopie u.s.w. heranwagt, das ist nicht zu ertragen. Hiergegen muß man sich doch einmal ernstlich erheben. Wenn das so fortgeht, wird die allgemeine Pathologie und mikroskopische Anatomie gerade [eine] solche Rumpelkammer von Träumereien und Thorheiten, wie die Materia medica. Es ist die höchste Zeit, daß diesem Unfug durch genaue zusammenhängende Untersuchungen, sowie durch eine schonungslose, mit bodenloser Grobheit durchgeführte Kritik gesteuert werde.“

Als konstruktives Produkt dieses Anliegens gründeten die beiden im Jahr darauf ein neues Fachorgan, das bis zum heutigen Tag den Namen des berühmten Freundes unseres Gesuchten trägt. Dieser selbst steuerte den ersten Artikel in der Premierenausgabe bei, in dem er seine weiteren Erkenntnisse zur Entwicklung des Eiters präsentierte. Die hierin vorgestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen, insbesondere zu den zellulären Ursprüngen der Eiterbildung, hielt sein Mitherausgeber später für dessen fruchtbarste und bedeutendste wissenschaftliche Leistung.

Unser Gesuchter war zu dieser Zeit Assistent in einer gynäkologischen Praxis, von wo er als Arzt in ein Cholera-Lazarett wechselte. Zwei Jahre nach Gründung der gemeinsamen Zeitschrift habilitierte er sich und wurde für kurze Zeit Hilfsarzt in der Abteilung „Innere Kranke“ am Berliner Universitätsklinikum in der Ziegelstraße. Am 1. Oktober 1849 wurde er als sogenannter Prosektor schließlich Nachfolger seines Freundes an der Charité, der den Posten aus politischen Gründen verlor und einem Ruf an eine knapp 400 Kilometer weiter südwestlich gelegene Universität folgte.

Das wissenschaftliche Treiben unseres Gesuchten, der sich laut anderen Zeitgenossen inzwischen zum unzugänglichen Eigenbrödler entwickelt hatte, wurde von da ab seltsam unstet. Zwar drehte es sich in den meisten Fällen weiterhin um die spezifischen Absonderungen und Zellveränderungen im Rahmen von Entzündungsprozessen – allerdings brachte er nur noch wenige Projekte wirklich zuende. Die Anforderungen seines letzten Postens hatten ihn offenbar überfordert, wie einer seiner wenigen anderen Freunde später argwöhnte.

Im Frühjahr 1852 erlag er der Tuberkulose. Er wurde nur knapp 33 Jahre alt.

Wie heißt er?





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Der „Eiterpublizist“ ist der früh verstorbene Pathologe Benno Reinhardt, der 1847 zusammen mit seinem Freund Rudolf Virchow die heutige Zeitschrift „Virchows Archiv“ gründete.