„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt! Der weite Weg, DFG, entschuldigt Euer Säumen.“

Ulrich Dirnagl


Editorial

Ulrich Dirnagl alias Der Wissenschaftsnarr

(12.12.2022) Die letzten beiden Positionspapiere der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum wissenschaftlichen Publizieren und zu Open Science haben es in sich. Damit schwört sie sich selbst und ihre Mitglieder doch tatsächlich auf Reformen ein.

Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal ein Positionspapier oder eine Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gelesen? Vermutlich noch nie. Womit Sie in guter Gesellschaft wären.

Für die meisten Wissenschaftler ist die DFG einfach nur der wichtigste und prestigereichste Forschungsförderer. Man reicht Projektanträge bei ihr ein, und die werden abgelehnt oder eben bewilligt.

Neben ihrem Fördergeschäft jedoch äußert sich die DFG auch regelmäßig zu wissenschaftspolitischen Themen. Das hat sie vor kurzem erst wieder getan, indem sie zwei sogenannte Positionspapiere herausbrachte. Das eine hat den etwas sperrigen Titel „Wissenschaftliches Publizieren als Grundlage und Gestaltungsfeld der Wissenschaftsbewertung – Herausforderungen und Handlungsfelder“, das andere bekennt mit seiner Überschrift „Open Science als Teil der Wissenschaftskultur“ direkt Farbe.

Editorial

Vielleicht hat es mir den Kopf verdreht, dass ich an dem Papier zum Publizieren mitarbeiten durfte, aber ich denke, zumindest für die DFG handelt es sich dabei um geradezu revolutionäre Schriftstücke. Und weil Sie beide Papiere vermutlich nicht gelesen haben, erlaube ich mir Ihnen kurz darzulegen, warum der sonst so kritische Narr plötzlich so enthusiastisch ist.

Vorweg aber zur Einordnung erstmal ein paar Gedanken zur eigentümlichen und weltweit durchaus einmaligen Verfasstheit der DFG. Trotzdem sich die DFG aus Steuergeldern finanziert (70 Prozent vom Bund, 30 Prozent von den Ländern), ist sie ein eingetragener Verein! Wie jeder ordentliche Verein hat sie Mitglieder. Doch obwohl die DFG sich selbst als die „Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Deutschland“ bezeichnet, sollten Sie sich die Mühe sparen, einen Mitgliedsantrag zu stellen! Denn die derzeit 97 Mitglieder der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind Hochschulen, andere Forschungseinrichtungen, Akademien der Wissenschaften sowie wissenschaftliche Verbände.

Wie in einem Kaninchenzüchter-Verein gibt es in der DFG natürlich auch eine Menge an Organen und Posten: Mitgliederversammlung, Präsidentin, Präsidium, Vorstand, Generalsekretärin, Senat mit einer Busladung Senatoren, Hauptausschuss, Kommissionen – und nicht zu vergessen die Fachkollegien.

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3,3 Milliarden Euro jährlich wollen schließlich geordnet unter die Leute gebracht werden. Dafür hat die DFG auf administrativer Ebene eine recht schlanke und kompetente Verwaltung. Wer hat nicht schonmal bei der Sachbearbeiterin nachgefragt, wie es um den eigenen Antrag steht, oder was man tun kann, wenn er abgelehnt wurde?

Aber wo bleibt bei alledem eigentlich die „Selbstverwaltung“? Diese begründet die DFG damit, dass ja wissenschaftliche Organisationen wie etwa die Universitäten Vereinsmitglieder sind und somit an den Entscheidungen teilhaben. Zum anderen sitzen im Senat, den Kommissionen und den Fachkollegien lauter Wissenschaftler – auch wenn viele von denen mittlerweile häufiger in Gremiensitzungen als im Labor oder wenigstens beim Paper-Schreiben anzutreffen sind. Immerhin aber könnten Sie, sofern Sie promoviert und an einer anerkannten wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland tätig sind, mit Ihrer Stimme alle vier Jahre per Wahl einen Kollegen oder eine Kollegin in eines der 46 Fachkollegien entsenden.

All das ist für nationale Großförderer einmalig. Die US-National Institutes of Health sind dem amerikanischen Kongress verpflichtet, der Wellcome Trust sich selbst, die Wissenschaftsministerien fördern im direkten Staatsauftrag, ... und so weiter. Wenn wir also von der DFG reden – oder auch über sie schimpfen, weil wir wieder mal nicht gefördert wurden –, reden wir dann eigentlich nicht von uns selbst?

Das kommt sehr darauf an. Sollten Sie arrivierter Wissenschaftler sein, im Idealfall Lehrstuhlinhaberin oder Institutsdirektor, dann gilt dies tatsächlich. Denn dann sind potenziell Sie es, der in den Gremien, Kommissionen und Kollegien sitzt und (Richtungs-) Entscheidungen fällt. Als gewöhnlicher Wissenschaftler – insbesondere wenn Sie noch nicht durch eine Habilitation geadelt wurden oder gar abseits des Mainstreams forschen – dürfen Sie zwar die arrivierten Wissenschaftler wählen, die von den Hochschulen und wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Wahl vorgeschlagen werden. Ebenso dürfen Sie, sofern Sie ein bestimmtes Maß an Reputation erreicht haben und sonst nicht irgendwie unangenehm aufgefallen sind, als Fachgutachter Förderanträge für die DFG begutachten. Die letztendlichen Förderentscheidungen treffen aber die „Vierzehnender“!

All dies führt dazu, dass die DFG ein ultrakonservativer Organismus ist. Die im System Erfolgreichen geben die Richtung vor und sorgen dafür, dass ihnen genehme und interessant erscheinende Forschung gefördert wird. Und dass sie selbst und ihre Adepten dabei natürlich nicht zu kurz kommen.

Aber ist das nicht auch gut so? Gerade die Erfolgreichen haben doch an sich selbst bewiesen, was gute Forschung ist und wie man sie macht. Da sollte doch schon nichts anbrennen.

Die Schattenseite eines solchen Systems ist aber, dass eine derart verfasste Organisation notwendigerweise dem Mainstream verpflichtet ist und damit zugleich eine unglaubliche Trägheit entwickelt, die sie reformunfähig macht: Warum sollten ausgerechnet diejenigen, die es im System zu etwas gebracht haben, irgend etwas daran ändern wollen? Dazu kommt eine Intransparenz in der Begutachtungspraxis, der bereits Juristen bescheinigt haben, dass sie rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt, da Entscheidungen nicht ausreichend begründet werden und keine Widerspruchsmöglichkeiten für Abgewiesene bestehen.

Und dies bringt mich nun endlich zu den beiden eingangs erwähnten Positionspapieren. Denn vor diesem Hintergrund zeigt sich die DFG in ihnen überraschend system- und damit selbstkritisch – und entwickelt darin eine Programmatik des Systemwandels. Kurz gesagt: Vom Kern her geht es der DFG darum, die Wissenschaft transparenter und offener („Open Science“) zu machen wie auch die Bewertung von Forschern und deren Produkten – also Papers, Anträge et cetera – zu reformieren. Klar – UNESCO, EU und die League of European Research Universities (LERU) sind mit Manifesten und Deklarationen vorangegangen, und manche Länder wie die Niederlande oder Frankreich setzen hierzu bereits nationale Pläne um. Dennoch möchte man mit Schiller der DFG freudig zurufen: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt! Der weite Weg entschuldigt Euer Säumen.“

Besonders interessant ist das Positionspapier zum wissenschaftlichen Publizieren. Wieso sollte sich die DFG hierzu äußern, das ist doch nun wirklich Sache jeden Wissenschaftlers? Beim Studium des Papiers wird jedoch schnell klar, dass es in Wirklichkeit um viel mehr, eigentlich um alles geht. Das Papier ist ein veritables trojanisches Pferd!

Wissenschaftliches Publizieren dient der Bekanntmachung von Ergebnissen, deren Qualitätssicherung und Dokumentation sowie der Sicherung von Urheberschaft. In Letzterem wiederum versteckt sich aber die Zuschreibung von Reputation. Und Reputation ist im wissenschaftlichen System entscheidend fürs Fortkommen. Das Stipendium, die Stellenzusage, die Professur, der Antragserfolg und so weiter – alles hängt davon ab.

Das DFG-Papier bietet nun eine gründliche Propädeutik, Historie und Kritik davon, wie die Zuschreibung von Reputation über Publikationen sich in den letzten Jahrzehnten zu einem System entwickelt hat, in dem es bei der Beurteilung von Forschern zunehmend weniger auf die Inhalte von deren Forschung sowie den wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Impact von deren Ergebnissen ankommt als vielmehr auf die Reputation des Journals, in dem diese veröffentlicht wurden. Oftmals gar nur auf karge, damit zusammenhängende bibliometrische Zahlen wie dem Journal-Impact-Faktor (JIF), dem h-Index oder der schieren Anzahl von Publikationen.

Das Papier kommt nach diesem theoretischen Teil zu wesentlich eindeutigeren Schlüssen und Handlungsanweisungen, als diese bisher von der DFG zu hören waren. Und die DFG kehrte auch gleich vor der eigenen Haustüre, beispielsweise änderte sie das Formular für den Lebenslauf sowie den Leitfaden für Projektanträge. Damit fördert sie unmittelbar eine inhaltlich-qualitativ fundierte wie auch eine den jeweiligen Lebens- und Karriereabschnitt stärker berücksichtigende Bewertung wissenschaftlicher Leistung. So können Antragsteller jetzt etwa das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Publikationsformen gleichwertig in Förderanträgen und Lebensläufen abbilden – also zum Beispiel auch Artikel auf Preprint-Servern, reine Datensätze oder Softwarepakete. Der Journal-Impact-Faktor und ähnliche ungeeignete Metriken werden gleich ganz verbannt. Womit die DFG letztlich einlöst, wozu sie sich mit der Unterzeichnung der San Francisco Declaration on Research Assessment (DORA) verpflichtet hatte.

Im kurz darauf veröffentlichten und noch druckfrischen Positionspapier „Open Science als Teil der Wissenschaftskultur“ bekennt sich die DFG meiner Ansicht nach tatsächlich klar zu Open Science. Dabei hebt sie insbesondere hervor: die Verbesserung von Forschungsprozessen, erhöhte Transparenz, gleichberechtigten Zugang zu wissenschaftlicher Information, Stärkung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und die Erleichterung von Innovationen durch die offene Wissenschaft. Weil sich das Dokument aber über weite Strecken mit „Herausforderungen“ befasst und zu einer „differenzierten Betrachtung“ aufruft, wurde die Positionierung der DFG bereits vielfach als halbherzig kritisiert und als Lippenbekenntnis abgetan.

In der Tat finden sich in dem Papier eine Vielzahl von Statements wie etwa:

  • dass „Reformziele in Kulturwandelprozessen der Wissenschaft nicht als Selbstzweck behandelt werden sollten“,
  • dass Open Science kein „Heilsversprechen oder Ideologie“ sein dürfe,
  • dass „Open Science per se kein Garant für Forschung von höherer Qualität“ sei,
  • dass die „völlige und unregulierte Transparenz aller Prozesse und Daten“ potenziell schädlich sei,
  • oder dass, „wo Open Science ausschließlich als Vorgabe politischer Zielsetzungen erscheint, sich Effekte ergeben könnten, die zu wissenschaftsinadäquaten Entwicklungen führen können“.

Doch Hand aufs Herz: Es ist doch wohl selbstverständlich, dass dort, wo etwas zum puren Selbstzweck, zur Ideologie, zum unregulierten Prozess oder zur reinen politischen Vorgabe mutiert, kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist! Durch die Einstreuung solcher Plattitüden musste man wohl vielmehr die Zweifler und Bremser ruhigstellen, die es in der wissenschaftlichen Community und damit auch in der DFG immer noch gibt.

Im Übrigen gibt es tatsächlich eine Reihe von – um im DFG-Sprech zu bleiben – „Herausforderungen“. Dazu zählen etwa die Qualitätskontrolle (gilt für „Closed Science“ allerdings genauso!), mögliche infrastrukturelle Abhängigkeiten und Effekte der Kommerzialisierung von Open Science (man denke an die horrenden Open-Access-Publishing-Gebühren) – oder die Tatsache, dass zu vielen Aspekten der offenen Wissenschaft bislang Infrastrukturen und Kompetenzen fehlen, die von den Institutionen vorgehalten und von den Fördergebern finanziert werden müssten. All das steht indes auch in dem Papier.

Was aber ist nun der Nährwert solcher Positionspapiere? Wo sie doch die meisten von uns, die wir durch die DFG selbstverwaltet werden, gar nicht lesen? Ich denke, dass man deren Wirkung nicht unterschätzen darf. Zum einen, weil sich die DFG damit selbst zur Reform verpflichtet – tatsächlich wurden erste Schritte bereits eingeleitet. Zum anderen, weil die Mitglieder der DFG damit auf die Ziele ihres Vereins eingeschworen werden. Schließlich ist man Vereinsmitglied. Und der Verweis auf Statements der DFG kann in universitären Gremien wahre Wunder bewirken.

Etablierten Wissenschaftlern scheint es wie dem Mädchen Goldlöckchen im gleichnamigen Märchen zu gehen. Im Haus der drei Bären ist Goldlöckchen der Brei stets „nicht zu heiß, nicht zu kalt, sondern genau richtig“. Sobald man es in der akademischen Welt geschafft hat, arbeitet man gefühlt im besten aller Systeme – und will auf keinen Fall mehr etwas daran verändern. Deshalb müssen wir dankbar sein, dass es in der Geschäftsstelle der DFG eine namenlose Menge kreativer und fortschrittlicher Köpfe gibt, die deutlich mehr machen als Förderanträge bearbeiten und Begutachtungen organisieren. Behutsam antagonisieren sie die Inertia der etablierten Wissenschaftler in den DFG-Gremien – und haben damit einen wesentlichen Anteil daran, die DFG und damit auch das akademische System in Deutschland zu reformieren.


Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj