Logistiker für Therapeutika und DNA - Neue Wirkstoff- und Gen-Delivery-Systeme

Tobias Ludwig


Editorial

(07.10.2022) Eingepackt in Virenpartikel, Fetttröpfchen oder Metallkäfige transportieren molekulare Wirkstoff-Zusteller ihre Fracht in die Zelle und landen mit dieser zunächst in Endosomen. Aus diesen müssen sie möglichst schnell entkommen, um die Ladung wohlbehalten am eigentlichen Bestimmungsort abliefern zu können.

Sie haben Kopfschmerzen? Na, dann nehmen Sie doch eine Pille. Das ist zumindest in der Heimanwendung der übliche Weg, Medikamente zu verabreichen. Bei den meisten Arzneien wird der Wirkstoff zusammen mit einigen Hilfsstoffen in das handliche Tablettenformat gepresst. Das Problem dabei: Nicht jedes Heilmittel gelangt auf dieser Route zu seinem Zielort.

Inzwischen häufen sich in den Datenbanken der Pharmaunternehmen sogenannte Undruggable Targets, die von den Wirkstoffen nicht erreicht werden. Um auch diese zu adressieren, entwickelten Forscher ein Arsenal biologischer Therapeutika, deren Spektrum von DNA über RNA bis zu Proteinen und Peptiden reicht. Die Wirkstoffe stellen intrazelluläre „Wirkstoff-Zusteller“ beziehungsweise Delivery-Systeme vor neue Herausforderungen.

Forscher versuchen schon seit einigen Jahrzehnten, die Freisetzung von Wirkstoffen besser zu kontrollieren. Bereits Anfang der Fünfzigerjahre packte der Pharmakonzern Smith Kline & French den Wirkstoff Dexedrin in ein Vehikel, das ihn über einen Zeitraum von zwölf Stunden kontrolliert freisetzte (J. Control Release 190: 3-8).

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Illustration: MIT

Editorial
Alter Hut

Auch die Erkenntnis, dass Nukleinsäuren in Anwesenheit bestimmter Moleküle besser in Zellen aufgenommen werden, ist nicht neu – das zeigten die Biomediziner Antti Vaheri und Joseph Pagano schon 1965. Sie stellten fest, dass die RNA von Polioviren mit Unterstützung des kationischen Polymers Diethylaminoethyl-Dextran weitaus besser in ihre Zielzellen eindringen kann (Virology 27: 434-36).

Die Entwicklung von Nukleinsäure- sowie Protein-Therapeutika als Alternativen zu klassischen Wirkstoffen hat aber erst in den letzten Jahren richtig Fahrt aufgenommen. „Wir befinden uns in einer äußerst spannenden Phase der Entwicklung neuer Wirkstoffe, die auf Nukleinsäuren basieren. Man kann beinahe vom Aufbruch in eine Ära der Nukleinsäure-Therapeutika sprechen“, sagt Ulrich Lächelt. Der Assistenz-Professor forscht mit seiner Gruppe am Department für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie der Universität Wien zum intrazellulären Wirkstofftransport.

Die Gründe für den jähen Aufschwung der Technologie sind vielfältig, sagt er. „In den vergangenen Jahrzehnten wurden enorme Fortschritte in der Genomik und Transkriptomik gemacht.“ Neben methodischen Errungenschaften sei auch das Verständnis der intrazellulären Prozesse stetig gewachsen: „Wir kennen den Fluss der genetischen Informationen vor allem in Bezug auf Krankheiten mittlerweile sehr gut und haben die molekulargenetischen Werkzeuge, um in diesen Informationsfluss einzugreifen.“

Doch wie gelangen die Werkzeuge in den Körper? Gegenwärtig existieren vier Arten von Delivery-Systemen: Viren, Lipid- und Polymer-basierte Nanopartikel sowie anorganische Nanopartikel. Diese werden in der Regel durch Endozytose in die Zelle aufgenommen und landen zunächst in Endosomen, die sie vom Cytosol fernhalten. Hier ist die Reise der Zustell-Systeme allerdings noch nicht zu Ende, denn sie müssen ihre Fracht meist an einer anderen Stelle in der Zelle abliefern. Dazu müssen sie den Endosomen entkommen, bevor diese zu Lysosomen werden, die ihren Inhalt gnadenlos zerstückeln.

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Ulrich Lächelts Gruppe erforscht an der Universität Wien metall-organische Gerüstverbindungen (Frameworks, MOF) als Delivery-Systeme für Therapeutika. Foto: Universität Wien

Vor diesem Problem stehen alle Delivery-Systeme. Viren haben aber im Gegensatz zu nicht-viralen Systemen im Lauf der Evolution „gelernt“, wie sie aus den Endosomen entwischen können. Sie werden daher schon seit Jahrzehnten für das Einschleusen von Fremd-DNA genutzt.

Vermehrungsunfähige Viren

Zu den am häufigsten verwendeten Vektoren gehören Retroviren, Adenoviren sowie Adeno-assoziierte Viren (AAV), die eine hohe Transfektionseffizienz aufweisen und eine stabile Expression der eingeführten Gene ermöglichen. In der Regel werden Teile des viralen Genoms gelöscht, die Viruspartikel können sich also nicht mehr vermehren. Dennoch haben virale Delivery-Systeme auch Nachteile, zu denen etwa die Aktivierung des Immunsystems gehört. In einigen Fällen ist das gewünscht, in anderen jedoch ein ungewollter Nebeneffekt. Zudem können Off-Target-Effekte auftreten, bei denen ein Vektor entweder DNA-Veränderungen außerhalb der Zielsequenz auslöst oder in falsche Zellen eindringt. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass die Zelle entartet.

Grund genug, nach alternativen Wegen zu suchen. Wilfried Webers Gruppe an der Universität Freiburg verankerte dazu zum Beispiel das aus dem Rotlichtrezeptorsystem der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana stammende Protein PIF6 (Phytochrome-Interacting Factor 6) auf der Hülle der Adeno-assoziierten Viren (OptoAAV). Unter Rotlicht (660 Nanometer) bindet PIF6 an das Protein PhyB (Phytochrom B) des Rezeptorsystems. An PhyB hängten Webers Mitarbeiter zudem ein Ankyrin-Repeat-Protein (DARPin), das ein Oberflächenprotein der Zielzelle erkennt.

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OptoAAV infizieren die gewünschten Zellen nur, wenn sie mit Rotlicht bestrahlt werden. Illustr.: Michal Rössler/CIBSS, Universität Freiburg

Bestrahlten die Freiburger einzelne Zellen mit Rotlicht, interagierte PIF6 mit PhyB-DARPin, wodurch die manipulierten Viren zur Zielzelle gelockt wurden und diese infizierten. Beleuchteten sie die Zellen hingegen mit fernem Rotlicht (740 Nanometer) zerfiel der PIF6-PhyB-DARPin-Komplex und die Zellen wurden nicht infiziert. Der Trick mit den OptoAAV funktioniert zumindest in Zellkulturen. Theoretisch könnte man die Technologie aber auch in der In-vivo-Gentherapie anwenden (Sci. Adv. 7: 1-13).

Virus-Partikel ohne DNA

Einen anderen Weg wählte David R. Lius Team am Broad Institute of MIT and Harvard in Boston. Die Gruppe entwickelte DNA-freie, Virus-ähnliche Partikel, sogenannte engineered Virus Like Particles (eVLPs), die Proteine wie etwa Basen-Editoren oder Cas9-Ribonukleoproteine in Zielzellen verfrachten. Als Vorbild diente Lius Gruppe die Hülle von Retroviren. Für die Produktion eines Basen-Editoren-VLP (BE-VLP) exprimierten die Forschenden die für die BE-VLP benötigten Proteine in sogenannten Gesicle-293T-Producer-Zellen.

Die geernteten BE-VLP injizierten sie anschließend Mäusen mit Mutationen im Leberenzym PCSK9 – bei Menschen führen diese Mutationen zu Hypercholesterinämie. Bereits nach einer Injektion erreichte das US-Team eine über sechzigprozentige Korrektur-Rate der Mutationen, die mit den Ergebnissen anderer Delivery-Systeme vergleichbar ist. Da die Virus-ähnlichen Partikel keine DNA enthalten, ist die Gefahr gebannt, dass DNA in das Genom der Zielzelle integriert wird. Für eine breitere Anwendung müsse jedoch die Korrektur-Rate verbessert und mehr Daten über die Wirkdauer der gelieferten Ladung gesammelt werden (Cell 185: 250-65).

Kleine Fettkugeln

Impfstoffe, die lipidbasierte Delivery-Systeme nutzen, sind seit zwei Jahren in aller Munde. Die prominentesten sind die mRNA-basierten COVID-19-Vakzinen der Firmen BioNTech/Pfizer/Acuitas sowie Moderna. Ihre winzigen, mit der mRNA für das SARS-CoV-2-Spike-Protein gefüllten Fetttröpfchen bestehen aus einzelnen Lipiden, die sich in wässrigen Lösungen selbstständig zu kleinen Kugeln zusammenschließen. Diese sogenannten Lipidnanopartikel (LNPs) enthalten in ihrem Inneren Mikrodomänen aus Lipiden und der transportierten Fracht.

Die LNPs der gegenwärtig zugelassenen Pharmazeutika, zu denen neben den beiden SARS-CoV-2-Impfstoffen auch ein siRNA-basierter Wirkstoff gehört, bestehen aus vier Hauptkomponenten: einem positiv-geladenen (kationischen) oder ionisierbaren Lipid, Cholesterin, einem Hilfs-Lipid sowie einem Polyethylenglykol-Lipid. Über die Struktur und Zusammensetzung der vier Komponenten lassen sich Vehikel mit diversen strukturellen Eigenschaften erzeugen, die auch gezielt in bestimmte Gewebe wie Lunge und Milz aufgenommen werden können – darauf deuten zumindest Tierversuche hin (Nat. Nanotechnol. 15: 313-20).

„Die derzeit verwendeten LNPs landen nach intravenöser Applikation hauptsächlich passiv in der Leber und können dort über den Low Density Lipoprotein Receptor (LDLR) in Zellen aufgenommen werden. Dass das so gut funktioniert, hängt mit einem besonderen Mechanismus zusammen“, erklärt Lächelt. Dabei bindet das Serumprotein Apolipoprotein E (Apo E) an die LNPs, die aufgrund ihres hohen Verhältnisses von Oberfläche zu Volumen gute Bindepartner sind. Durch eine gezielte Modifikation der Zusammensetzung lassen sich andere Serumproteine adressieren, die in unterschiedliche Gewebe aufgenommen werden.

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Dieses raffinierte metall-organische Framework (MOF) ist von einer zusätzlichen Vesikelmembran umhüllt, um Proteine effizienter in die gewünschten Zellen transportieren zu können. Illustr.: J Zheng Lab/Penn State

Flucht aus Endosom

„Die Aufnahme von Nanopartikeln in die Zelle ist meist nicht das Problem“, wirft Lächelt ein: „Die Freisetzung der Fracht an der richtigen Stelle ist die eigentliche Hürde.“ Zwar kenne man auch für viele weitere Zell- und Gewebetypen Rezeptoren, die die Aufnahme in die Zelle vermitteln. Die Delivery-Systeme müssten diese aber zunächst erreichen. „Und die nachgeschalteten intrazellulären Transportwege sind divers“, so Lächelt. Die meisten Wirkstoffkomplexe müssen den harschen Bedingungen in den Endosomen also entkommen, um ihre Fracht in das Zellplasma oder in den Kern zu befördern. Ob diese Flucht gelingt, hängt vom jeweiligen Delivery-System ab, wobei die genauen Mechanismen oftmals nicht im Detail geklärt sind.

Einen alternativen Weg verfolgt Catherine A. Blishs Team an der Stanford University in Kalifornien. Die Gruppe verfrachtete mRNA mithilfe sogenannter ladungsverändernder, freisetzbarer Transporter (Charge-Altering Releasable Transporters, CARTS) in Natürliche Killerzellen und trainierte diese so in-vitro auf das für B-Zell-Lymphome typische CD19-Protein (Blood Adv. 4: 4244-55).

CARTS sind komplexe Moleküle aus mindestens einem Lipid-Block sowie einem ladungsändernden Abschnitt, die ähnlich wie Liposomen Kugeln bilden. Der anfangs kationische Teil wird bei physiologischem pH-Wert zu einem neutralen Gebilde. Durch die Ladungsänderung zerfällt die Kugel und setzt die darin enthaltene anionische Fracht frei. Die Methode ermöglicht das Einschleusen von Material, ohne die Killerzelle zu aktivieren. Sie reduziert hierdurch das onkogene Potenzial der Natürlichen Killerzellen, das aus einer ungesteuerten Aktivierung oder Off-Target-Effekten resultieren kann. Für die potenzielle klinische Anwendung ist das ein großes Plus.

Lipid- und Polymer-basierte Nanocarrier können auch Proteine transportieren. Lächelts Gruppe belud zum Beispiel Lipid-haltige Oligoaminoamide (lipo-OAAs) mit CRISPR/Cas-Ribonukleoprotein-Komplexen aus single-guide-RNA und Cas9-Protein. Nach dem Screening einer lipo-OAA-Bibliothek identifizierten die Forschenden ein T-förmiges Oligomer, das am effektivsten in die Zielzellen aufgenommen wurde. In der Zellkultur erreichten die Wiener Pharmazeuten mit der Technik Knockout-Raten von bis zu 89 Prozent (Bioconjug. Chem. 31: 729-42).

Transport in Metallkäfig

Auch anorganische Partikel können als Delivery-Systeme dienen, die bekanntesten sind Gold-, Silikat- sowie Eisenoxid-Nanopartikel. Lächelts Gruppe beschäftigt sich unter anderem mit Metal-Organic-Frameworks (MOFs). „Dabei handelt es sich um Hybrid-Verbindungen aus Metallionen, die über organische Linker zu einem Netzwerk verbunden sind. MOFs sind häufig kristallin und hochgradig porös, was sie zu vielversprechenden Materialien für verschiedenste Anwendungen macht.“ Bisher seien laut Lächelt weltweit bereits über 90.000 solcher Strukturen hergestellt worden. Eine weitaus größere Zahl sei aber bereits durch In-silico-Berechnungen vorhergesagt. Interessant bei MOFs ist vor allem die Kombination aus den Eigenschaften von transportiertem Wirkstoff und Transporter, die sich sinnvoll ergänzen können.

Chemiker und Chemikerinnen der Universität Singapur beluden zum Beispiel ein nano-MOF mit dem experimentellen Krebs-Wirkstoff Tirapazamin, der unter Sauerstoffmangel-Bedingungen (Hypoxie), etwa in soliden Tumoren, aktiviert wird und toxische Sauerstoffradikale produziert.

Das von den Forschenden eingesetzte nano-MOF setzt bei Bestrahlung mit Rotlicht (660 Nanometer) Singulett-Sauerstoff frei, den die Zellen nicht für die Atmung nutzen können. Die nano-MOFs erzeugen hierdurch in der Zellkultur einen hypoxischen Zustand, der zum Zerfall des Delivery-Systems führt, wodurch der aktive Wirkstoff freigesetzt wird (Adv. Opt. Mater. doi: 10.1002/adom.202201043).

„Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sind MOFs, die als Radiosensitizer wirken. Sie erhöhen die Sensibilität von Tumorzellen gegenüber ionisierender Strahlung. Zeitgleich wird ein Wirkstoff in die Tumorzellen transportiert, wodurch man Tumore auf mehreren Ebenen gleichzeitig bekämpfen kann“, erklärt Lächelt. Allerdings seien nicht alle MOFs für den therapeutischen Einsatz geeignet, da bei einigen metallischen Nanopartikeln Vorsicht geboten sei.

Forschende sind beständig auf der Suche nach neuartigen Delivery-Systemen für Therapeutika. „Neue Technologien, wie das Genome-Editing durch das CRISPR/Cas9-System, wecken große Hoffnung auf vielfältige Behandlungsmöglichkeiten“, sagt Lächelt und ergänzt: „Allerdings müssen die hierzu optimal geeigneten Delivery-Systeme noch gefunden werden. Ich denke, wir können auf viele interessante Entwicklungen in den kommenden Jahren gespannt sein.“