Soziale Giftschleudern

Tobias Ludwig


Editorial

(24.04.2024) DORTMUND: Da wollten die Strukturbiologen um Stefan Raunser eigentlich nur klären, wie ein Ribosomen-großes Bakteriengift die Zelle verlässt, und schon entdeckten sie neben einem komplett neuen Sekretionssystem auch noch eine soziale Ader in toxischen Bakterien.

Stefan Raunser leitet die Abteilung Strukturbiochemie am Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie in Dortmund. Sein Interesse an bakteriellen Toxinen begann vor etwa zwölf Jahren, als ihn Klaus Aktories von der Universität Freiburg kontaktierte. „Dessen Gruppe hatte in Photorhabdus luminescens, einem Krankheitserreger von Insekten, ein Toxin identifiziert, das sehr aktiv war und Zellen auf ungewöhnliche Weise tötete“, erinnert sich Raunser. P. luminescens lebt in Symbiose mit Fadenwürmern, die Insektenlarven befallen. Dafür dringen die Nematoden in Larven ein und spucken P. luminescens aus ihren Schlundklappen aus. Die Bakterien töten daraufhin die Larve mithilfe eines Toxins und verwandeln sie so in eine Nährstoffquelle für sich selbst und für die Fadenwürmer. Da das Toxin das Aktin-Skelett von Insektenzellen angreift, sollten die Dortmunder Aktin-Spezialisten um Raunser die Struktur des ausgefallenen Giftstoffes aufklären.

Kein ganz leichtes Unterfangen, denn die Tc-Toxine von P. luminescens setzen sich in der Regel aus TcA-, TcB- und TcC-Proteinen zusammen und sind nur dann biologisch aktiv, wenn sie vollständig sind. Dann bringen sie bis zu 2,4 Megadalton auf die Waage – also fast so viel wie das bakterielle Ribosom. Das eigentliche Toxin ist dabei nur etwa 30 Kilodalton schwer. Über ein Jahrzehnt entschlüsselte Raunsers Arbeitsgruppe die Konformation des Tc-Toxins innerhalb und außerhalb von Membranen und klärte den Mechanismus des Giftes auf (Annu. Rev. Microbiol. doi.org/gf5cn3).

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„Der Großteil des Proteinkomplexes ist dafür da, an eine Zielzelle anzudocken“, fasst Raunser zusammen. „Die Zelle nimmt den ganzen Apparat mittels Endozytose auf, von wo aus das darinsitzende Toxin durch die Endosomenmembran ins Innere der Zelle injiziert wird.“ Die Oberfläche des Tc-Toxins bestehe laut Raunser hauptsächlich aus diversen Rezeptorbindestellen. Dadurch kann der Toxinkomplex auch direkt über den Darm der Insekten aufgenommen werden. Auf beiden Wegen sorgt eine rasche Änderung des pH-Wertes – egal in welche Richtung – dafür, dass sich die gigantische „Transportbox“ in eine molekulare Spritze verwandelt und ihre toxische Ladung freigibt.

Giftiges Mysterium

Eine entscheidende Frage blieb jedoch unbeantwortet: Wie gelangt der riesige Giftkomplex überhaupt aus den Bakterien heraus? „Das war seit der Entdeckung des Toxins ein großes Rätsel“, erzählt Raunser. „In der Vergangenheit wurden für den Export der Proteinkomplexe so ziemlich alle bekannten Sekretionssysteme verantwortlich gemacht.“ Jedoch lagen alle Kollegen und Kolleginnen falsch, wie die Dortmunder Strukturbiologen in ihrer neuesten Publikation demonstrieren, für die sie sich das Tc-Toxin aus Yersinia entomophaga anschauten (Nat Microbiol. doi.org/gtd65f). Das Bakterium ist mit P. luminescens verwandt und befällt ebenfalls Insektenlarven. Die Forschenden stellten fest, dass die Sekretion des Toxinkomplexes durch eine pH-Änderung ausgelöst wird. Bei einer massenspektrometrischen Analyse fanden sie neben dem Tc-Toxin jedoch eine Vielzahl weiterer Gifte und Virulenzfaktoren, die Yersinia ausstößt. Interessanterweise sekretierte es die Proteine unspezifisch – ganz als würde das Bakterium seinen Zellinhalt wahllos preisgeben. Und mehr noch: Allen Toxinen und Virulenzfaktoren fehlte mysteriöserweise jegliche Signal- und Sekretionssequenz.

Wirkschema zur Entstehung der Kriegerzellen von Yersinia
Die Synergie mehrerer Umweltreize erhöht den RoeA-Spiegel in einer Untergruppe von Bakterienzellen, die daraufhin als Kriegerzellen neben dem Tc-Toxin YenTc eine Vielfalt weiterer Toxine und Virulenzfaktoren exprimieren. Eine Änderung des pH-Wertes lässt die Kriegerbakterien unter Freisetzung ihrer Giftladung in eine Ansammlung von Vesikeln kollabieren. Illustr.: Verändert nach MPI Dortmund

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„Wir haben dann systematisch alle bekannten Sekretionssysteme in Y. entomophaga ausgeknockt, aber es sekretierte das Toxin munter weiter“, erklärt Raunser. Um dem Mysterium auf die Spur zu kommen, fusionierten die Dortmunder die zwei TcA-Untereinheiten YenA1 und YenA2 mit dem grün fluoreszierenden Protein (GFP). Die Überraschung der Forschenden war groß, als sie unter dem Mikroskop feststellten, dass nur ein Bruchteil der Yersinia-Population das Gift herstellte. Zudem sahen die betroffenen Bakterienzellen anders aus als der Rest; sie waren länger und weniger beweglich. Aufgrund ihrer gefährlichen Ladung tauften die Dortmunder diese Yersinien „Kriegerzellen“. „Wahrscheinlich ist es ein stochastischer Vorgang, der entscheidet, welches Bakterium zur Kriegerzelle wird. Die Temperatur spielt aber eine große Rolle und auch die Dichte der Zellpopulation“, fasst der Strukturbiologe zusammen.

Zeitbomben

Änderten die Dortmunder den pH-Wert, konnten sie eine beachtliche Metamorphose der Kriegerzellen beobachten. Während „normale“ Zellen unbeeindruckt blieben, kollabierten die Giftschleudern innerhalb weniger Minuten in eine Ansammlung von Vesikeln. Dabei gaben sie nicht nur das fluoreszenzmarkierte Tc-Toxin frei, sondern auch zahlreiche andere Zellinhalte. Als die Forschenden das freigesetzte Proteom genauer unter die Lupe nahmen, entdeckten sie das Endolysin PepB, das eine frappierende Ähnlichkeit zu einem Bestandteil des pH-abhängigen Typ‑10-Sekretionssystems (T10SS) von Serratia marcescens aufwies. „Dieses Sekretionssystem wurde von Frank Sargents Arbeitsgruppe an der University of Dundee in Schottland beschrieben. Sie identifizierte in S. marcescens ein Holin-, Endolysin- und Spanin-Proteine umfassendes System und schloss daraus, dass sich Poren in der Bakterienmembran bilden, durch die Enzyme und Toxine schlüpfen können“, fasst Raunser zusammen. Habe der Giftstoff die Zelle verlassen, würde sich die Pore wieder schließen – so zumindest Sargents Idee (J. Cell Biol. doi.org/f6r5v6). Darüber hinaus beschrieb die Arbeitsgruppe von Tobias Geiger an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) 2023 ein ähnliches Verhalten in Salmonella enterica (PLOS Pathog. doi.org/mqgt).

Aufbau des Tc-Toxins YenTc
Das Tc-Toxin YenTc besteht aus einem TcA-Pentamer (PDB: 6OGD) aus YenA1 (130 kDa), YenA2 (156 kDa) und den Endochitinasen Chi1 (74 kDa) sowie Chi2 (83 kDa), der TcB-Untereinheit YenB (167 kDa) und einer der drei TcC-Untereinheiten YenC1, YenC2 oder RHS2 (106 – 108 kDa). Alles zusammen ist mit 2,4 MDa so groß wie das prokaryotische Ribosom mit 2,5 MDa. Die Einschübe zeigen Querschnitte durch die Elektronentomographie-Strukturen (Balken = 20 Nanometer). Illustr.: Nach Abb. 4 in doi.org/gtd65f

Die Dortmunder deckten nun aber einen anderen Mechanismus auf: „Wir konnten beweisen, dass die spezialisierten Kriegerzellen komplett lysieren – was auch die unspezifische Zusammensetzung der freigesetzten Proteine und das Fehlen von Sekretionssequenzen erklärt“, sagt Raunser. Demnach handele es sich nicht um ein klassisches Sekretionssystem, so der Strukturbiologe. Auch ist es kein Yersinia-spezifisches Phänomen, wie die Dortmunder in Serratia nachwiesen. Yersinias komplettes T10SS besteht neben PepB ebenfalls aus einem Holin und einem Spanin sowie aus mehreren Transkriptionsfaktoren mit starken Ähnlichkeiten zu jenen von Serratia.

Stefan Raunser
Seit zehn Jahren Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie in Dortmund: Stefan Raunser. Foto: MPI Dortmund
Kriegerschalter

Doch welcher molekulare Schalter macht aus einer normalen Bakterienzelle eine Kriegerin? Nach einer Antwort mussten die Dortmunder nicht lange suchen. Nur wenige Basenpaare vor den T10SS-Genen entdeckten sie im Yersinia-Genom den Transkriptionsfaktor RoeA, der die Forschenden an die Situation in Serratia erinnerte. Dort steuert der Transkriptionsfaktor ChiR die Expression des T10SS. Kurzum versahen sie RoeA mit einem Promoter, der nur in Anwesenheit von Arabinose eine Expression des Proteins erlaubt. Fehlte der Zucker, wurde das Tc-Toxin weder produziert noch freigesetzt. Schalteten die Forschenden in Gegenwart von Arabinose die T10SS-Gene aus, produzierten die Bakterien zwar Unmengen Giftstoffe, konnten sie aber nicht loswerden. Außerdem legte Raunsers Gruppe das Holin-Gen holA still und demonstrierte, dass der so modifizierte Stamm ebenfalls nicht lysierte.

Yersinias Sekretionssystem folgt also einer bestimmten Aktivierungskaskade: Zunächst erhöhen Fluktuationen in der Temperatur, in der Dichte der Zellpopulation oder in anderen Faktoren die Expression von RoeA, das seinerseits die Synthese der T10SS-Bestandteile aktiviert. Darüber hinaus sorgt RoeA für die Produktion des Tc-Toxins sowie weiterer Giftstoffe und löst ebenso die Vergrößerung der Kriegerzellen aus. Welche Proteine aber dafür direkt verantwortlich sind, ist noch unklar.

Das vielleicht Erstaunlichste an all dem: Mal abgesehen von seinem lytischen Sekretionsmechanismus zeigt Yersinia entomophaga ein äußerst bakterienuntypisches Verhalten. Seine Kriegerzellen opfern sich selbst, um anderen Bakterien einen Weg in die Wirtszellen zu ebnen. Dass Bakterien ein solches eusoziales Verhalten zeigen können, hielten viele Fachleute bis vor kurzem für ein Märchen. „Die meisten älteren Mikrobiologen und Mikrobiologinnen sagen, das gäbe es nicht. Bakterien opfern sich nicht zugunsten der Gemeinschaft“, erzählt Raunser. Dabei ist die Idee gar nicht so abwegig, findet er. Auch im menschlichen Körper gibt es schließlich Zellen – etwa Leukozyten und Killerzellen –, die sich zum Wohle des Gesamtorganismus opfern. Analog dazu ist auch eine Arbeitsteilung und Opferbereitschaft in Bakterienpopulationen vorstellbar. „Selbst in bakteriellen Plaques bilden die äußeren Bakterien einen Schutzschild und zeigen einen anderen Metabolismus als die Bakterien im Inneren.“

Damit könnten die Erkenntnisse über das ungewöhnliche Verhalten von Y. entomophaga auch die Behandlung bakterieller Infektionen verbessern. „Wenn man das noch bei anderen Bakterien findet, könnte man gezielt Antibiotika entwickeln, die die Kriegerzellen angreifen oder deren Bildung verhindern“, spekuliert der Strukturbiologe. Welche Rolle das neu entdeckte Sekretionssystem in vergangenen Pandemien gespielt haben könnte, zeigt der Fund der Dortmunder, dass das T10SS auch im Tc-Toxin-Operon eines Yersinia-pestis-Stamms aus der Zeit des Schwarzen Todes von 1346 bis 1352 nachweisbar ist – der mit 25 Millionen Opfern tödlichsten Pestpandemie Europas. „Ich bin jedoch kein Mikrobiologe“, wirft Raunser lachend ein. Daher wird sich seine Arbeitsgruppe in Zukunft weiter auf die Struktur und den Mechanismus molekularer Prozesse fokussieren. Zunächst wollen die Dortmunder weiter aufklären, wie das Tc-Toxin in die Zielzelle gelangt. Auch möchten sie die Eignung des Proteinkomplexes als Nano-Spritze erproben, die eine beliebige Fracht durch Membranen hindurch liefern könnte. Erste Ergebnisse dazu können sie bereits vorweisen (Nat. Commun. doi.org/gsvqmw).