Der Verlust des Überflüssigen

Karin Hollricher


Editorial

(12.04.2022) DRESDEN: Während der Evolution gingen Extremitäten nicht nur einmal verloren. Der Verlust der Gene, die eigentlich für die Entwicklung dieser Strukturen nötig sind, ist dagegen sehr selten.

Vor etwa 375 Millionen Jahren lebte Tiktaalik roseae. Dieses nur als Fossil bekannte Tier war vielleicht das erste, das sich auf dem Land bewegen konnte, weil es außen liegende, an moderne Extremitäten erinnernde Gliedmaßen hatte – und eine primitive Lunge. Welche genetischen Veränderungen zu dem Erwerb dieser Körperstrukturen führten, liegt im tiefen Dunkel der Evolution und wird vermutlich nie aufgeklärt. Was man aber an heute lebenden Tieren untersuchen kann, ist der Verlust von Körperteilen, etwa solchen, die zum Sehen oder Laufen nötig sind.

So wie die Entstehung von Vorder- und Hinterbeinen gehört auch ihr Verlust wohl zu den extremsten morphologischen Veränderungen in der Geschichte der Tetrapoden. In der Entwicklungsgeschichte gingen Gliedmaßen mehrfach verloren: beispielsweise bei Vögeln, Reptilien und Säugetieren. Geht man fünfzig Jahre zurück in eine Zeit, als man zwar DNA schon als Trägersubstanz der genetischen Information kannte, aber über Gene selbst noch nicht viel wusste und sie schon gar nicht manipulieren konnte, findet man eine ganze Reihe von Hypothesen, die den Verlust von Körperteilen, Funktionen und auch Verhaltensweisen mit dem Argument „Nutzlosigkeit“ zu erklären versuchten. Inzwischen weiß man viel über die genetische Basis der morphologischen Diversität im Tierreich. Die Fähigkeit, ganze Genome vieler Spezies zu sequenzieren, eröffnet die Möglichkeit, der genetischen Basis des Phänomens auf die Spur zu kommen.

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Die Eidechsen-Art Calyptommatus sinebrachiatus hat als Hinterbeine nur noch zwei kleine Fortsätze, Vorderbeine fehlen ihr komplett. Welche Gene für den Extremitätenverlust verantwortlich sind, ... Fotos (2): Juliana Roscito

Editorial
Beinfrei

„Der Verlust der Vorder- und Hinterbeine ist überraschenderweise nicht so einfach zu bewerkstelligen, wie man denkt“, ordnet Juliana Roscito von der Technischen Universität Dresden ein. Moderne Schlangen haben es beispielsweise dennoch geschafft, und zwar indem sie ihr HoxD12-Gen verloren. Das Gen codiert für einen Transkriptionsfaktor, der unter anderem die Identität und die Entwicklung von Extremitäten steuert. Roscito und ihre Kollegen konnten dies bestätigen: Sie identifizierten etliche Mutationen in HoxD12-Sequenzen. Aber wie ist das bei den Eidechsen?

Roscito ist Sequenzierexpertin mit starkem Hang zu Eidechsen oder doch Herpatologin mit ausgelebter Neigung zum Sequenzieren? „Herpatologin“, antwortet die 37-Jährige, die aus Sao Paulo (Brasilien) stammt. Dort kam sie erstmals mit südamerikanischen Eidechsen in Kontakt. „Ich wollte die Entwicklung von Gliedmaßen untersuchen, und das einzige Labor, das dort so eine Arbeit ermöglichte, war das eines Herpatologen.“ Inzwischen aber ist sie hauptsächlich Sequenzierexpertin.

In Dresden sequenzierte sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen die Genome zweier Eidechsen-Arten aus der Familie der Gymnophathalmidae, auch Zwergtejus genannt. Das Team wählte mit Calyptommatus sinebrachiatus ein Reptil, das keine externen Vorderbeine, dafür aber noch winzige Hinterbeine mit nur jeweils einer Zehe hat (siehe Foto). Als Vierfüßer suchten sie die Eidechse Tretioscincus oriximinensis aus. Ihre beiden Genome verglichen sie mit über vierzig Vertebraten, darunter eine andere beinlose Eidechse, die Asiatische Glasschleiche (Dopasia gracilis), sowie den „bebeinten“ Schwarzweißen Teju (Salvator merianae), dessen Genom sie schon früher sequenziert hatten (Nat. Comm. 9: 4737). Zu den Vergleichsarten zählten aber nicht nur Reptilien, sondern auch Vertreter anderer Klassen, etwa Amphibien oder Vögel. Das Ergebnis: HoxD12-Gene sind nicht die Ursache dafür, dass sowohl die Glasschleiche als auch Calyptommatus stark verkürzte beziehungsweise keine Beine mehr haben (Cell Rep. 38(3):110280).

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„Das hat mich nicht wirklich überrascht“, gibt Roscito zu. „Körperstrukturen werden durch die Aktivität verschiedener Gene gebildet. Dahinter steckt ein sehr komplexes Entwicklungsgeschehen, das auch gewisse Redundanz zeigt. Ein Entwicklungsgen kann mehrere regulatorische Bereiche haben, wovon einer die Aktivität des Gens im Kopf, der nächste im Auge und der dritte in einem Arm steuert. Würde man das Gen komplett verlieren, wäre die gesamte Entwicklung extrem gestört – das wäre vermutlich letal. Verändert aber eine Mutation in einer der regulatorischen Regionen die Aktivität des Gens, dann ist nur die Entwicklung in dem jeweiligen Körperteil betroffen.“

Mäuse ohne Gliedmaßen

Schon vor einigen Jahren hatten Roscito und ihr Team beschrieben, dass der Verlust von Beinen bei Schlangen mit der Ansammlung von Mutationen in den regulatorischen Regionen von für die Extremitäten wichtigen Entwicklungsgenen einhergeht (Nat. Comm. 9:4737). „Solche cis-regulatorischen Elemente (CNEs), die mit dem extremitätenlosen Phänotyp assoziiert sind, identifizierten wir mit bioinformatischen Methoden“, erklärt Roscito. „Wir fanden Hunderte von regulatorischen Elementen, die in Schlangen spezifisch divergent sind. Wir sahen mit diesem Ansatz bereits bekannte Mutationen im sogenannten ZRS-Enhancer. ZRS steht für Zone of Polarizing Activity Regulatory Sequence. Die Mutationen im ZRS-Enhancer regulierten die Expression des Gens von Sonic Hedgehog (SHH-Gen) herunter. Sonic Hedgehog wiederum ist ein Morphogen und unbedingt nötig für die Entstehung von Glied­maßen. Wir fanden aber auch Mutationen von CNEs in etlichen anderen Entwicklungsgenen – viele davon sitzen interessanterweise nicht in den Promotoren der Gene, sondern proximal davon.“

Nun ist Korrelation noch kein Beweis. Um zu klären, ob Mutationen in bestimmten regulatorischen Regionen wichtig für den Phänotyp sind, müsste man diese mutierten Sequenzen gegen die homologen intakten Sequenzen von Tieren, etwa Mäusen, austauschen. Das haben Forscher für die Bindungsstellen des ZRS-Enhancers am SHH-Gen bereits durchexerziert: Die regulatorischen Sequenzen von Schlangen, die gar keine Gliedmaßen haben, verursachen in Mäusen auch einen fast vollständigen Verlust ihrer Extremitäten (Cell 167(3): 633-42.e11)

In den Genomen der beinlosen Eidechsen fanden die Dresdner Genomforscher allerdings keine starken Signale für Mutationen in CNEs. Roscito: „Darüber habe ich schon gestaunt. Wir wissen nicht, warum das so ist. Wir vermuten, dass die Zeitspanne, seit die Tiere ihre Beine und Arme verloren haben, noch nicht groß genug ist, um so viele Mutationen anzusammeln, dass wir ein deutliches Signal finden können.“

Neben den Beinen interessiert sich Roscito auch für den Verlust der Augen. „Man weiß, dass Pax6 eine Art Mastergen ist, das für die Entwicklung von Augen unbedingt vorhanden sein muss. Aber auch andere Gene sind wichtig. Wir fanden Mutationen in den CNEs etlicher Gene, die man mit dem Sehen korreliert.“

Roscito arbeitet am Dresdner Genomzentrum, das gemeinsam von der Technischen Universität und dem Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie betrieben wird. Das Zentrum war beispielsweise am Vertebraten-Genomprojekt beteiligt, das im vergangenen Jahr die Genome von 16 Arten publizierte (Nature 592: 737-46). Aus dem Zentrum kamen auch die ersten Referenzgenome von sechs Fledermaus-Arten, mit denen Forscher die außergewöhnliche Anpassung der flugfähigen Säugetiere aufdecken möchten (Nature 583: 578-84). An dieser Arbeit war auch Roscito beteiligt. Sie ist jetzt allerdings weniger im Labor, sondern vielmehr im Büro anzutreffen – denn sie wurde zur Projektkoordinatorin befördert. „Zu meinem neuen Job gehört, für technologische Projekte und Entwicklungen Kooperationspartner mit biologischen Fragestellungen zu finden. Das ist sehr spannend“, kann die Brasilianerin nur vage berichten. Allerdings hat sie nur eine befristete Stelle. Ob sie langfristig in Deutschland bleiben will, kann sie nicht abschließend beantworten. „Ich mag den Winter nicht. Anfangs war der Schnee echt super, so etwas kannte ich ja überhaupt nicht. Aber inzwischen nehme ich an: Winter liegt einfach nicht in meinen Genen.“



Weiter mit Reptilien geht es auf der nächsten Seite in unserem Stichwort des Monats „Autotomie“. Ein Forschungsteam hat unlängst den fluchtbedingten Schwanzabwurf bei Geckos und Co. untersucht und dabei Verblüffendes über die Anatomie des Eidechsen-Schwanzes aufgedeckt (Link).