Verlorenes Augenmaß im Tierschutz

Henrik Müller


Editorial

(24.04.2024) Eine Göttinger Veterinärmedizinerin entscheidet sich für das Leben ihrer Versuchstiere und verstößt damit gegen das Tierschutzgesetz. Ihre Arbeitsstätte, das Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, zieht harte Konsequenzen: rechtlich einwandfrei, aber auch verhältnismäßig?

Würde Hannelore Ehrenreich in der gleichen Situation wieder so entscheiden – trotz aller Konsequenzen? Zwar hatte sie ihre Arbeitsgruppe selbst in das ethische Dilemma manövriert. Aber ab einem bestimmten Punkt konnte sie sich nur noch für das kleinere Übel entscheiden. An Erfahrung im Wissenschaftsbetrieb mangelte es ihr jedenfalls nicht: bis 1991 Postdoktorandin bei Anthony S. Fauci an den National Institutes of Health (NIH) in Maryland, seit 1994 Leiterin der Klinischen Neurowissenschaften am Göttinger Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin und dessen Nachfolgeinstitut, dem MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften (MPI-NAT), seit 1995 Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Universitätsmedizin Göttingen, seit 2016 Mitglied der Leopoldina und 2021 erste Trägerin des Jean-Delay-Preises, der höchsten Auszeichnung in der Psychiatrie. Kurzum: Nach vierzig Jahren Wissenschaftsleben ist sie alles andere als ein Forschungsleichtgewicht. Ihre Kooperationspartner beschreiben sie als „Vollblutwissenschaftlerin“, die mehr Drittmittel einwirbt als die meisten MPI-Direktoren und das Ansehen des Göttinger MPI-NAT seit vielen Jahren stärkt.

Labormaus in Händen
Abbildung: Playground

Editorial
Recht oder Moral?

Ihre fatale Entscheidung machte Ehrenreich am 17. Januar 2023 aktenkundig. An diesem Tag teilte sie dem Tierschutzdienst des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) mit, dass die Weiterführung ihres im April 2022 gestellten Tierversuchsantrags „aufgrund erheblicher Verständnisprobleme auf allen Seiten“ nicht mehr zielführend sei. Sie zog den Antrag zurück – obwohl ihre Verhaltensstudien an Mäusen bereits seit Wochen liefen. Ihres Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz war sich Ehrenreich bewusst. Dennoch entschied sie sich für das Leben ihrer Tiere. Ein Widerspruch?

Hannelore Ehrenreich
Trotz regelmäßiger Einwerbung von Drittmitteln in Millionenhöhe blieb Hannelore Ehrenreich ein MPI-Direktorenposten stets versagt. Foto: I. Böttcher-Gajewski/MPI-NAT

Als Tierärztin und Humanmedizinerin forschte Ehrenreich stets translational: „Ich habe immer versucht, mithilfe von Tiermodellen Heilungsansätze für kranke Menschen zu finden“, sagt sie gegenüber Laborjournal. Ihre erste Tierversuchsgenehmigung erhielt sie 1992 nach ihrer Rückkehr aus den USA. Dutzende weitere folgten. Über die letzten zwanzig Jahre arbeitete sie am Göttinger MPI-NAT mit 1.000 bis 2.000 Mäusen pro Jahr. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie ein Tier gequält“, beteuert sie, „sondern immer mit großer Demut und Dankbarkeit mit ihnen gearbeitet. Alle Tierversuchsanträge habe ich immer korrekt gestellt.“ Am ebenfalls in Göttingen ansässigen Deutschen Primatenzentrum (DPZ) fungiert sie seit 2014 sogar als externe Ombudsfrau für Tierschutz.

Editorial
Alles Routine?

Ehrenreichs Forschungserfolg verkündete die MPI-NAT-Pressestelle zuletzt im April 2022: „1.735 Wissenschaftler*innen hatten sich in diesem Jahr für die hochkompetitiven ERC Advanced Grants beworben, nur 253 konnten sich im harten Wettbewerb durchsetzen“ – unter ihnen Ehrenreich mit einem mit 2,5 Millionen Euro geförderten Hypoxie-Projekt. Ab September 2022 wollte sie fünf Jahre lang erforschen, wie physiologischer Sauerstoffmangel den Wachstumsfaktor Erythropoietin (EPO) freisetzt, um unheilbare kognitive Störungen wie Autismus und Demenzen zu behandeln. Im Mausmodell hatte ihre Arbeitsgruppe bereits herausgefunden, dass rekombinantes EPO (rEPO) Pyramidenneuronen und Oligodendrozyten auch außerhalb bekannter Neurogenesegebiete reifen lässt. Aber würde durch Sauerstoffarmut induziertes EPO das Verhalten und die Fähigkeiten von Mäusen ebenfalls beeinflussen?

Zeitgleich mit der Pressemitteilung reichte Ehrenreich Anfang April 2022 ihren Tierversuchsantrag beim LAVES ein. Methodisch beinhaltete er nichts Ungewöhnliches: Heterozygote T-Box-Hirntranskriptionsfaktor-1 (Tbr1)-Mäuse, die einen Autismus-ähnlichen Phänotyp aufweisen, sollten im Alter von vier Wochen an zwölf Prozent Sauerstoff gewöhnt werden oder rEPO intraperitoneal injiziert bekommen. Über die folgenden acht Monate sollten die Tiere Verhaltenstests unterzogen werden, um ihr Erkundungs- und Sozialverhalten sowie ihre Gedächtnisleistung zu quantifizieren. Nach einer abschließenden Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) sollten die Mäuse durch transkardiale Perfusion schmerzlos getötet werden, um Gewebe für die Histologie zu gewinnen.

Ehrenreichs Tierversuchsantrag ging nicht über gering belastende Routinetests der Verhaltensforschung hinaus. Gegen identische Versuche an anderen Mauskohorten hatte das LAVES in der Vergangenheit keine Einwände erhoben. Nach Eigenangaben hat es „innerhalb von 40 Arbeitstagen […] dem Antragsteller eine Entscheidung über den Antrag mitzuteilen“. Auch nach Ehrenreichs Erfahrung dauerten Antragsbewilligungen nie länger als vier Monate. Kurzum: Alles schien Routine. Entsprechend rechnete die Neurowissenschaftlerin mit einer Antragsbewilligung binnen weniger Wochen bis Monate – und begann wie üblich mit der Züchtung von 288 Tbr1-Mäusen. Spätestens im Herbst 2022 sollten die Verhaltensexperimente mit dann vorliegender Genehmigung beginnen können.

Ehemaliges MPI für experimentelle Medizin in Göttingen
Am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen forschte Hannelore Ehrenreich über drei Jahrzehnte. Zum 1. Januar 2022 fusionierte ihr Institut mit dem Göttinger MPI für biophysikalische Chemie zum MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften (MPI-NAT). Foto: MPG

Automatismus versagt

Nicht dieses Mal. Trotz 80-seitigem Antragsschreiben hielt das LAVES die Projektidee für nicht nachvollziehbar. Der Antrag sei nicht in einer Form vorgelegt, „die dem zeitlichen Beratungsaufwand in der Behörde gerecht wird“. Auf Vorschlag des LAVES hin teilte Ehrenreich den Tierversuchsantrag, der ursprünglich neben Tbr1-Mäusen weitere Mausmodelle umfasste, in mehrere Teilanträge auf und beantwortete in den Folgemonaten alle paar Wochen neue Nachfragen der Tierschutzbehörde. Anfang 2023, also neun Monate nach dem Ursprungsantrag, summierte sich die Gesamtkorrespondenz auf 290 Seiten an Frage- und Antwortschreiben, wissenschaftlichen Belegen und Statistik-Gutachten – ohne Erfolg. Gegenüber Laborjournal kommentiert das LAVES: „Fristverlängerungen sind möglich und üblich“. Ob Bearbeitungszeiten von fast einem Jahr mit mehreren Runden von Rückschreiben die Regel sind, beantwortete die Behörde nicht.

Für Ehrenreich änderten dreißig Jahre tierexperimenteller Erfahrung, Publikationen in hochrangigen Peer-Review-Journalen und der wissenschaftliche Ritterschlag durch den Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats nichts: Seit September 2022 standen 2,5 Millionen Euro EU-Drittmittel zur Verfügung – sofern sie sich an den Zeitplan der Förderrichtlinien hielt. Fünfzehn Postdoktoranden, Doktoranden, BTAs, MTAs, Radiologie-Assistentinnen und Tierpflegerinnen standen in den Startlöchern. Alle Tbr1-Mäuse waren gezüchtet. Nur die – nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte – Formalie der Tierversuchsgenehmigung lag nicht vor.

Fatale Entscheidung (?)

Die Arbeitsgruppe Ehrenreich beschloss, nicht länger zu warten – und begann im Oktober 2022 mit der Hypoxie-Behandlung und der anschließenden Langzeitbeobachtung. Unter Missachtung des Tierschutzgesetzes (TSchG) rettete sie zunächst 160 Tbr1-Mäusen das Leben, die sonst als „Überschusstiere“ getötet worden wären (mehr dazu in den Kästen auf Seiten 14 und 15). „§1 TSchutzG ‚Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen‘ steht für mich ethisch über der Genehmigung nach §8“, erklärt Ehrenreich gegenüber Laborjournal. „Mein Fehler war, dass ich den Automatismus der Zucht nicht unterbunden habe, weil ich nicht ahnte, was passieren würde.“ Rechtlich korrekt wäre es gewesen, die Tierversuchsgenehmigung abzuwarten und in einigen Monaten eine neue Mauskohorte zu züchten. Dem Tierschutzprinzip der 3R – Replace, Reduce, Refine – hätte das widersprochen.

Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis all das auffiel. Im Juni 2023 stieß eine Mitarbeiterin des MPI-NAT auf Anzeichen für eine fehlende Tierversuchsgenehmigung und informierte Holger Stark, den Geschäftsführenden Direktor des mit 13 Abteilungen und über 25 Forschungsgruppen größten Instituts der Max-Planck-Gesellschaft. Stark reagierte sofort und untersagte die Tierversuche vorsorglich.

Die Beteiligten beschreiben die folgenden Tage unterschiedlich. Ein von Ehrenreich nach einer schriftlichen Stellungnahme erbetenes Vier-Augen-Gespräch entpuppte sich für sie als Tribunal, bei dem sie neben Holger Stark von dem Emeritus-Direktor Herbert Jäckle, dem Emeritus-Direktor und späteren kommissarischen Leiter ihrer Arbeitsgruppe Gregor Eichele und der Referentin der Geschäftsführung Svea Viola Dettmer verhört und angeschrien wurde und kaum Gelegenheit hatte, sich zu erklären. Weder habe sie ein Gesprächsprotokoll erhalten noch habe sie Zeugen zum Gespräch mitbringen können. Auch fand keine Anhörung durch den Betriebsrat oder das MPI-Direktorenkollegium – das später für ihre Entlassung stimmte – statt, so Ehrenreich.

Stark und Dettmer schildern die Aussprache dagegen als ruhiges und sachliches Gespräch am runden Tisch. „Die Vorwürfe von Frau Ehrenreich entbehren jeder Grundlage“, sagt Stark. „Die Herren Eichele und Jäckle waren anwesend, weil sie sich mit Tierversuchen auskennen, und ich in meiner Karriere keinen einzigen Tierversuch gemacht habe. In der Gesprächsrunde fiel nicht ein einziges lautes Wort; sie war in keiner Weise feindselig.“ Fakt ist: Noch am selben Abend informierte Stark den MPI-Richtlinien guter wissenschaftlicher Praxis folgend das LAVES. Ehrenreich nahm am Folgetag, dem 20. Juni 2023, mit der Behörde Kontakt auf, um eine „vorläufige Genehmigung“ zu erhalten. Rechtlich ist das jedoch nicht möglich.

1.000-Euro-Vergehen

Eine Anlasskontrolle des LAVES am 21. Juni 2023 fand 122 lebende Tbr1-Mäuse vor; 105 Tiere waren laut Laborbüchern bereits allen Verhaltensversuchen unterzogen und getötet worden. Da keine Genehmigung nach §8 TierSchG vorlag, ordnete das LAVES die sofortige Einstellung der Tierversuche an und drohte bei Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 1.000 Euro an. Weder verhängte es ein Bußgeld nach §18 TSchG von bis zu 25.000 Euro noch untersagte es Ehrenreich nach §20 TSchG, künftig Tierversuche durchzuführen. Da jedoch Wirbeltiere getötet worden waren, lag der Verdacht einer Straftat gemäß §17 TierSchG vor, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden kann. Das LAVES informierte die Staatsanwaltschaft Göttingen.

Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Ehrenreich vor dem Landgericht Göttingen endete am 1. September 2023 gegen Zahlung einer Auflage in Höhe von 15.000 Euro gemäß §153a Strafprozessordnung (StPO). Die Auflage ist laut anwaltlicher Auskunft weder als Strafe zu verstehen noch mit einem Schuldspruch verbunden. Auch ihre Höhe sei kein Schuldmaß, sondern richte sich ausschließlich nach den Einkommensverhältnissen. In der Regel ist der §153a StPO für sogenannte Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl und Internetbetrug gedacht. Zum Vergleich: Das Strafverfahren gegen den Primatenforscher und Direktor des MPI für biologische Kybernetik in Tübingen, Nikos Logothetis, wurde 2018 ebenfalls nach §153a StPO eingestellt. Auch damals galt trotz Geldauflage die Unschuldsvermutung, da in der Sache letztlich nicht entschieden wurde. Nach Angaben des Pressesprechers der Staatsanwaltschaft Göttingen setzt §153a zwar einen Tatverdacht voraus; eine Anklageerhebung könne aber unterbleiben, „wenn die Auflage geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“. Für Ehrenreich bedeutet das: Ein Verstoß gegen die Genehmigungspflicht gemäß §8 TSchG ist unstrittig, die etwaige Schuld aber gering.

Klage, Richterspruch, Strafe

Für das LAVES und die Staatsanwaltschaft Göttingen war die Angelegenheit damit erledigt. Nicht so für das MPI: Nach einem Votum des 12-köpfigen Direktorenkollegiums kündigte der Geschäftsführende Direktor Stark am 11. Juli 2023 den bis 2026 laufenden Arbeitsvertrag von Hannelore Ehrenreich fristlos. Dahingehend wissenswert: Zum 1. Januar 2022 waren die Göttinger MPI für biophysikalische Chemie und für experimentelle Medizin zum MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften fusioniert worden. Die beiden Direktoren des bisherigen MPI für experimentelle Medizin – Ehrenreichs Wirkungsstätte – stimmten gegen ihre fristlose Kündigung, wurden aber von den zehn anderen Direktoren überstimmt.

Die Folge für Ehrenreich: Stark entzog der 68-Jährigen ihre Vorgesetztenrolle und untersagte ihr jeglichen dienstlichen Kontakt zu ihrer 22-köpfigen Arbeitsgruppe. Gegenüber Laborjournal verurteilt er ihre Missachtung der gesetzlichen Tierversuchsstandards aufs Schärfste: „Das Frustrationspotenzial, das das derzeitige Antragsverfahren der Tierschutzbehörde mit sich bringt, kann ich nachvollziehen“, sagt Stark. „Aber an unserem Institut dulden wir keinen Rechtsbruch, und zwar ohne Ansehen der Person.“

Wissenschaftscafé

Bei einer außerordentlichen Kündigung einer Arbeitsgruppenleitung sind laut Stark auch die Arbeitsverträge derjenigen Angestellten gefährdet, die bis dahin über Drittmittel finanziert wurden. „Alle Drittmittel der Arbeitsgruppe Ehrenreich hat das Institut regelkonform zurückgegeben. Seitdem finanzieren wir deren ehemalige Mitarbeiter über Hausmittel unter der kommissarischen Leitung des mit Tierexperimenten vertrauten Emeritus-Direktors Georg Eichele“, sagt er. „Die Weiterbeschäftigungen habe ich sofort veranlasst. Etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Alle Betroffenen können ihre Projekte bis Mitte 2025 ungefährdet abschließen. Ein Betreuungsproblem ist nie entstanden“.

Ehrenreich widerspricht. Der Molekularbiologe Eichele erforscht den Transport von Exosomen und die Wanderbewegungen von Plankton. Mit diesem Wissen könne er ihre ehemaligen Masterstudenten, Promovierenden und Postdoktorandinnen unmöglich qualifiziert betreuen, so die Neuropsychiaterin. Das übernehme weiterhin sie – wegen Hausverbots am MPI per Video-Meeting, zu Hause und in einem Café in der Göttinger Innenstadt. Stark erwidert: „Ihre Betreuungsaktivität auf privater Ebene […] halte ich für selbstverständlich, da sie mit Auswahl der Promovierenden Verantwortung gemäß ihrer Prüfungsberechtigung im Promotionsprogramm eines Göttinger Graduiertenzentrums übernommen hat. Wir haben dort einen eigenen Raum organisiert, in dem sie sich mit ihren ehemaligen Mitarbeitern treffen kann.“

Holger Stark
Holger Stark, seit 2007 Direktor der Abteilung Strukturelle Dynamik am Göttinger MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, leitet derzeit auch dessen Geschäfte. Foto: MPI-NAT
Außergerichtlicher Vergleich

Gegen ihre fristlose Entlassung reichte Ehrenreich beim Arbeitsgericht Göttingen Kündigungsschutzklage ein. Ihre Begründung: Die Reaktion der MPI-Leitung unterscheide sich eklatant von der Einschätzung des LAVES. Zu einer Kammerverhandlung kam es jedoch nicht, da sich beide Parteien im Januar 2024 außergerichtlich einigten. Aufgrund einer damit verbundenen Schweigeklausel dürfen Institutsvertreter und Ehrenreich seit dem 19. Februar 2024 weder über den Inhalt des Vergleichs noch näher über die Kündigungsgründe sprechen. Laut Karin Weissenborn, Professorin für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und langjährige Kooperationspartnerin Ehrenreichs, erhoffte sich diese von der schnellen Einigung „ein rasches Ende eines ansonsten mehrjährigen Gerichtsverfahrens, das es der 68-Jährigen unmöglich gemacht hätte, ihre Forschungstätigkeit fortzusetzen. Schließlich liefe ihr ERC Advanced Grant“. Das MPI hingegen akzeptierte den Vergleich laut Stark, „da Medienbesuch für die öffentliche Kammerverhandlung angekündigt war und durch den Vergleich sichergestellt war, dass für alle Parteien kein Schaden durch Diskussionen in der Öffentlichkeit entstehen kann. Gleichzeitig war sichergestellt, dass Frau Ehrenreich am MPI-NAT keine Tierversuche mehr durchführen kann“.

Der Pressesprecher des Arbeitsgerichts Göttingen fühlte sich nicht an die Schweigepflichterklärung gebunden, sondern dem Informationsanspruch der Öffentlichkeit verpflichtet. Laut ihm beinhaltet die Einigung, dass „das Arbeitsverhältnis einvernehmlich mit Ablauf des 31. Januar 2024 endet“ und „das Max-Planck-Institut aus der außerordentlichen Kündigung [zum 11. Juli 2023] keine Rechte mehr herleitet“. Aufgrund des Vergleichs prüfte das Arbeitsgericht nicht, ob ein Verstoß gegen den Arbeitsvertrag oder gegen Tierschutzvorschriften vorlag. Ehrenreich erhielt eine Lohnnachzahlung von Juli 2023 bis Januar 2024.

MPG-Logo
Ist die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Erklärungsnot? Illustr.: Nach MPG
Frage der Verhältnismäßigkeit

Hat die Leitung des MPI überreagiert? Dessen Pressestelle bleibt bei ihrer Sicht der Personalmaßnahme: „Sie ist allein durch die behördlich bestätigten Gesetzesverstöße, sprich das wiederholte Durchführen nicht genehmigter Tierversuche, entstanden.“ Auch Stark bekräftigt gegenüber Laborjournal: „Leuten, die mehrmals gegen Strafgesetze verstoßen, bieten wir keine Plattform.“ Tatsächlich war gegen Hannelore Ehrenreich bereits 2019 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Tierschutzdeliktes im Jahr 2012 anhängig. Es wurde laut anwaltlicher Auskunft im Dezember 2019 mangels Anfangsverdachts eingestellt, da Ehrenreich „über eine Genehmigung zur Durchführung von Tierversuchen verfügte“. Weitere Strafverfahren sind bei der Staatsanwaltschaft Göttingen für die letzten Jahre nicht erfasst.

Leere Gewinnseite

Ehrenreichs Kooperationspartnerin Weissenborn urteilt: „Ein solches Vorgehen einer Institutsleitung erwarte ich bei einem Kapitalverbrechen, nicht aber bei einem Regelverstoß, den selbst das LAVES als Ordnungswidrigkeit einstuft. Die MPI-Leitung hingegen hat fristlos gekündigt. Das empfinde ich als unverhältnismäßig.“ Michael Hollmann, bis 2023 Inhaber des Lehrstuhls für Biochemie an der Ruhr-Universität Bochum und häufiger Ko-Autor Ehrenreichs, ergänzt: „Dies wird im kollektiven Gedächtnis der Drittmittelgeber negativ mit der Max-Planck-Gesellschaft verbunden bleiben. Mit ihrer übereilten Bewertung des Sachverhalts hat die Geschäftsführung des MPI-NAT einen Schaden angerichtet, der noch nicht abschließend beurteilt werden kann.“ Tatsächlich erklärt ein Fördermittelgeber der MPG, der anonym bleiben möchte, gegenüber Laborjournal: „Ich habe gespendet im Vertrauen auf die Fähigkeiten von Frau Ehrenreich, ihre bisherige Forschung und ihr Renommee. Was die Geschäftsführung dieses Instituts in Göttingen motiviert, ist schwer nachvollziehbar.“

Nach den Verhaltensregeln der MPG für gute wissenschaftliche Praxis ist bei Betroffenheit einer Mitdirektorin das Vizepräsidium der MPG zu involvieren, um der Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme vor einer externen Fachkommission zu geben, die dann das etwaige Fehlverhalten bewertet. Im Fall von Hannelore Ehrenreich ist dies nicht geschehen – schließlich ist sie keine MPI-Direktorin. Wäre ein solches Vorgehen angesichts ihres außergewöhnlichen Status nicht dennoch angemessen gewesen?

Unglücklicherweise wechselte im Juni 2023 – also zeitgleich mit dem Einschreiten des LAVES – der MPG-Vorsitz. Das Amt der Vizepräsidentin der Biologisch-Medizinischen Sektion der MPG übernahm die Freiburger Molekularbiologin Asifa Akhtar. Als neuer MPG-Präsident trat Patrick Cramer an – bis dahin Geschäftsführender Direktor des MPI-NAT in Göttingen. Obwohl er Ehrenreich über viele Jahre als ständigen Gast des MPI-Direktoriums kannte, fiel ihre Entlassung in die sicherlich turbulente Zeit der Inauguration des MPG-Präsidenten und der MPG-Vizepräsidentin.

Was bleibt, sind ein schaler Nachgeschmack und offene Fragen: Muss bei einer fristlosen Kündigung einer renommierten Arbeitsgruppenleiterin nicht mehr hinter allem stecken? Warum sonst sollte sich ein MPI den Bärendienst eines finanziellen Schadens in Millionenhöhe leisten? Welches Signal sendet die Max-Planck-Gesellschaft an den wissenschaftlichen Nachwuchs, wenn sie selbst mit verdienten Führungskräften derart hart umgeht? Ein inspirierendes und motivierendes Forschungsumfeld entsteht so sicher nicht. Gewinner gibt es in Göttingen keine.

Aufgrund einer Verschwiegenheitsklausel als Teil einer außergerichtlichen Einigung dürfen Hannelore Ehrenreich und Holger Stark seit dem 19. Februar 2024 nicht mehr über die Gründe der fristlosen Kündigung sprechen. Die diesbezüglichen Aussagen im Text stammen aus Gesprächen im Jahr 2023 beziehungsweise mit Karin Weissenborn und Michael Hollmann.



Gewollte Frustration?

Henrik Müller


Nach Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) starben 2022 in deutschen Tierversuchslaboren 1,77 Millionen Tiere als sogenannter „Überschuss“ – weil es für sie aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihres Genotyps keine Verwendung gab. Insgesamt umfasst die BfR-Statistik 4.207.231 Versuchstiere.

Das Tierschutzgesetz (TSchG) regelt in §17: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet“. Die wenigsten Forschungseinrichtungen verfügen jedoch über die Möglichkeit, alle „Überschusstiere“ bis zu ihrem natürlichen Tod zu halten. Sind also wirtschaftliche Gründe „vernünftige Gründe“? Nein, urteilte das Bundesverwaltungsgericht im Juni 2019 für die Tötung überzähliger männlicher Küken (BVerwG 3 C 28.16).

Ist somit auch die Tötung von „Überschusstieren“ eine Straftat nach §17 TSchG?

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main stellte Ende 2023 klar, dass die Wissenschaftsfreiheit die Tötung überzähliger Tiere rechtfertigen kann, wenn keine Kapazitäten zur artgerechten Unterbringung vorhanden sind (Az. 7 Zs 11/22 U).

Rechtssicherheit schafft jedoch auch das nicht. Forschungstreibende und Tierschutzbehörden sind weiterhin gezwungen, in einer Grauzone zu agieren. Auch der im Februar 2024 veröffentlichte Referentenentwurf zur Novellierung des TSchG definiert den „vernünftigen Grund“ nicht genauer, erhöht aber den Strafrahmen in §17 TSchG auf bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug. Welche Signalwirkung bezwecken hohe Geld- und Gefängnisstrafen für Vergehen, die der Gesetzgeber nicht klar definiert?



„Der Vollzug des Tierschutzrechts ist dringend reformbedürftig.“

Kommentar von Klaus Ferdinand Gärditz


Klaus Ferdinand Gärditz
Klaus Ferdinand Gärditz ist Rechtswissenschaftler und Lehrstuhlinhaber an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn. Foto: J. Liebers

Der praktische Vollzug des Tierschutzrechts ist in Deutschland flächendeckend mehr oder weniger notleidend. Die systematische Nichteinhaltung der unionsrechtlichen Entscheidungsfristen ist eine Vertragsverletzung, gegen die man sich ein beherztes Einschreiten der Europäischen Kommission wünschen würde. Kommt eine inhaltlich inkohärente Entscheidungspraxis der Genehmigungsbehörden hinzu, kann dies Forschende in akute Not bringen. Das rechtfertigt zwar keine Rechtsverstöße, relativiert aber deren Gewicht.

Viel spricht dafür, dass die MPG in der Causa Ehrenreich das Augenmaß verloren und überreagiert hat. Die breitbeinige Rhetorik der Gesetzestreue scheint eher als Mäntelchen, mit der die Leitungsebene die eigene Ängstlichkeit verhüllt, für eine vermeintliche Duldung von Straftaten im eigenen Hause verantwortlich gemacht zu werden. Verdachtskündigungen sind zwar rechtlich nicht ausgeschlossen. Angesichts des verwinkelten Vollzugs des TierSchG gehören aber Fehler zum Betriebsrisiko einer experimentellen Forschungseinrichtung. Der eingeräumte Rechtsverstoß hat daher kaum das Gewicht, das Vertrauen des Arbeitgebers hinreichend zu erschüttern.

Als eine überwiegend staatlich finanzierte Forschungsgesellschaft, durch die Bund und Länder ihren Förderauftrag für die Wissenschaften erfüllen, hat die MPG ihrerseits die Wissenschaftsfreiheit ihrer Beschäftigten zu achten. Sie muss die Rechtsfolgen, wie auf Regelverletzungen reagiert wird, auch nach den Folgen für die Forschung dosieren. Das ist hier in einem panikartigen Sanktionierungsfuror ersichtlich nicht geschehen. Eine unmittelbar grundrechtsgebundene staatliche Hochschule könnte mit einer Beamtin nicht vergleichbar umspringen. Beschämend ist auch die Rücksichtslosigkeit gegenüber Mitarbeitenden, deren Karrieren mangels spezifischer Betreuung von Forschungsprojekten in voraussetzungsvollen Gebieten der Life Sciences gefährdet werden.

Der Vollzug des Tierschutzrechts ist dringend reformbedürftig. Gegenüber dem unübersichtlichen Komplex in Privatrechtsform organisierter Wissenschaftseinrichtungen sollte aber auch der wissenschaftsadäquate Umgang mit eigenen Bediensteten stärker zu einem Kriterium gemacht werden, staatliche Haushaltsmittel zu verteilen.