Editorial

Antagonistische Pleiotropie

(16.01.2024) Was sperrig klingt, lässt sich anhand von einigen Beispielen wie der Schleppe des Pfaus einfach erklären. Unser Stichwort des Monats.
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Die auffällige Schleppe männlicher Pfauen beeindruckt in jungen Jahren das weibliche Geschlecht und erhöht so die Fortpflanzungschancen. Im Alter beeinträchtigt die Schwere der Federkrone und ihre Unhandlichkeit jedoch die Flug- und damit die Fluchtfähigkeit der Pfauenhähne. Der Fortpflanzungsvorteil in der Jugend geht zu Lasten ihres Lebensabends.

Zweites Beispiel: Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) verursachen oxidativen Stress und schädigen Biomoleküle und Gewebe. Das begünstigt im späteren Leben chronische Krankheiten wie Arteriosklerose, Bluthochdruck und diabetische Nephropathie. Dennoch erzeugen Dual- (DUOX) und NADPH-Oxidasen (NOX) lebenslang gezielt Sauerstoffradikale als Teil physiologischer Funktionen wie der angeborenen Immunität, des Knochenumbaus und der Hormonbiosynthese (Free Radic Biol Med. doi.org/dwtbnn).

Auch auf genetischer Ebene existiert dieses Phänomen: Wird das Tumorsuppressor-Gen TP53 überexprimiert, erkranken Mäuse zwar seltener an Krebs, altern aber deutlich schneller (Nat Rev Cancer. doi.org/cjq9wn). Umgekehrt haben Menschen, deren p53 an Position 72 ein Prolin anstelle eines Arginins trägt, zwar eine höhere Lebenserwartung, sterben aber 2,5-mal häufiger an Krebs (Exp. Gerontol. doi.org/cj3jtg).

Antagonistische Pleiotropie beschreibt also gegenläufige Effekte desselben Gens oder Expressionsmusters mehrerer Gene, die der Gesundheit eines Individuums zeitversetzt entgegenwirken. Im Englischen kursiert das erstmals 1957 von dem US-amerikanischen Evolutionsbiologen George C. Williams formulierte Konzept daher auch unter dem Namen Pay Later Theory (Evolution. doi.org/b8msb4).

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Evolutionäres Dilemma

Die Folge: Antagonistische Pleiotropie macht Alterungsprozesse zu einem Sekundäreffekt evolutionären Fortschritts. Gene, die die Fitness junger Individuen erhöhen, haben eine höhere Vererbungswahrscheinlichkeit – egal, welchen Schaden sie im Alter anrichten. Nicht etwa passive Zufallsschäden treiben also Alterungsprozesse an, sondern vielmehr die auf Fortpflanzung getrimmten Entwicklungsprogramme der Organismen. Die Evolution nimmt eine langfristige Beeinträchtigung des Körpers als Preis für eine erhöhte Fruchtbarkeit in jungen Jahren in Kauf (Genome Biol. doi.org/gr2gr5).

Für das einzelne Individuum wäre eine hohe Lebenserwartung bei gleichzeitig hoher Fruchtbarkeit natürlich verlockend, für die demographische Stabilität von Populationen und Ökosystemen aber fatal. Ein zu schnelles Populationswachstum in Relation zur Regenerationszeit eines Nahrungsreservoirs brächte eine Spezies letztlich an den Rand des Aussterbens. Sind Fruchtbarkeit und Lebenserwartung dagegen invers verknüpft, werden natürliche Ressourcen nicht überstrapaziert und chaotische Populationsdynamiken vermieden. Antagonistische Pleiotropie schützt langfristige Vorteile auf Gruppenebene also davor, durch kurzfristige individuelle Selektion verlorenzugehen.

Folge für Alterserkrankungen

Vielleicht sind sogar neurodegenerative Erkrankungen des Alters eine Folge antagonistischer Pleiotropie: Krankheitserreger waren starke Triebkräfte der natürlichen Auslese während der Humanevolution – und altersassoziierte Erkrankungen vielleicht eine Folge ihrer Bekämpfung (Nat Rev Genet. doi.org/bgmhf5). Tatsächlich schützen weit verbreitete Genvarianten, die zu Hirnerkrankungen führen können, in jungen Jahren vor Krankheit: So sind Menschen mit einer erhöhten Anzahl von CAG-Tripletts im Huntingtin-Gen fruchtbarer (Clin Genet. doi.org/fw2jtq) und weniger anfällig für bestimmte Krebsarten (J Huntingtons Dis, 7(3):209-22). Gleichzeitig erhöhen die Tripletts aber die Wahrscheinlichkeit, im Alter an der Huntington-Krankheit zu leiden (Med Hypotheses. doi.org/fr6frz).

Weiteres Beispiel: Das ApoE4-Allel erhöht den Progesteronspiegel während des Menstruationszyklus (Proc Biol Sci. doi.org/k429), schützt vor Infektionen (FASEB J. doi.org/gcpbw2) und verlangsamt den Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Hepatitis-C-Virus (Liver Int. doi.org/f9dqvc). Gleichzeitig ist das Allel aber ein genetischer Risikofaktor für die Alzheimer-Krankheit (Psychiatry Clin Neurosci. doi.org/cbhxjk). Und noch eins: Die Leucin-reiche Repeat-Kinase 2 (LRRK2) moduliert Antworten des angeborenen Immunsystems gegen intrazelluläre Bakterien wie Mycobacterium tuberculosis (EMBO J. doi.org/gdkjg9). Gleichzeitig ist LRRK2 ein genetischer Risikofaktor für die Parkinson-Krankheit.

Darüber hinaus besitzen mit Neurodegeneration assoziierte Proteine wie Aβ bakterizide und viruzide Eigenschaften (Sci Rep. doi.org/gcpbjm & J Alzheimers Dis. doi.org/gjqrw3). Gegen sie gerichtete Therapien würden die Folgen antagonistischer Pleiotropie zwar umkehren, Menschen aber vielleicht wieder anfälliger für Infektionen machen.

Henrik Müller

Bild: Pixabay/librarianmari

Dieser Artikel erschien als „Stichwort des Monats“ zuerst in Laborjournal 12/2023.


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Letzte Änderungen: 16.01.2024