Editorial

Keine Angst!

(03.11.2023) Früher galten Forscher oft als furchtlose Denker und Abenteurer. Heute müssen sie Angst haben, keine Fehler zu machen. Und das hat Konsequenzen.
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Eigentlich sollte das Recht, falsch zu liegen, tief in der Wissenschaft verankert sein. Denn wie läuft es nochmal in der hypothesenbasierten Forschung? Die Biophysikerin Sylvia McLain fasst es im englischen Guardian folgendermaßen zusammen:

„Dass die meisten wissenschaftlichen Studien sich als falsch herausstellen, ist für die Wissenschaft normal. Schließlich landen viel mehr Theorien auf deren Friedhof, als dass sie den Test der Zeit bestehen – weil immer wieder neue Daten auftauchen und sie daran angepasst oder gar verworfen werden müssen. [...] Gerade wenn man nur wenige Daten hat, ist es daher sehr wahrscheinlich, dass sich die anfängliche Theorie als falsch erweist. Das ist überhaupt nichts Neues für die Wissenschaft, denn das ist Wissenschaft.“

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Prominente Fehler

Tatsächlich ist die Wissenschaftsgeschichte voll von solchen „falschen“ Hypothesen, Modellen, Theorien und Schlussfolgerungen. Berühmtes Beispiel: der Weg zur DNA-Doppelhelix. Linus Pauling veröffentlichte 1952 ein grottenfalsches Triplehelix-Modell; und auch James Watson und Francis Crick wurden mehrfach gerade noch zurückgehalten, ebenso falsche Modelle zu veröffentlichen. Dennoch wird keiner behaupten, dass die drei schlechte Wissenschaftler waren. Und ebenso steht außer Zweifel, dass die „falschen“ Modelle auf dem Weg zum „richtigen“ letztlich essentiell waren.

Watson, Crick und Pauling hatten damals also das Recht, falsch zu liegen – und brauchten auch nur wenig Angst vor potenziellen negativen Konsequenzen zu haben. (Crick hatte seinerzeit übrigens noch nicht mal seine Dissertation abgegeben). Doch wie sieht es heute aus? Heute, wo Wettbewerb um Forschungsgelder und Publikationsdruck schärfer sind als je zuvor? Ist gerade in diesem Klima die Versuchung nicht besonders groß, die „Fehler“ der Konkurrenten übermäßig aufzublasen, ihre „falschen“ Schlussfolgerungen anzuprangern und die Mängel ihrer Arbeiten umgehend herauszuposaunen? 

Unverhältnismäßige Strafe

Der US-Strukturbiologe Gregory Petsko schreibt dazu (Genome Biol. 9, Art. Nr. 1029):

„Das Ergebnis ist ein Klima der Furcht. [...] Wissenschaftler wollen nicht von ihren Kollegen an den Pranger gestellt werden – also neigen sie dazu, naheliegende und sichere Projekte durchzuführen, und meiden die gewagten und riskanten. Denn wer tatsächlich ‚ausrutscht‘, wird häufig mit einer Härte bestraft, die in keinem Verhältnis zur wirklichen Bedeutung des ‚Verbrechens‘ steht.“

Dabei sollte die Wissenschaft doch vielmehr ein Tummelplatz furchtloser Denker und Aben­teurer sein. 

Ralf Neumann

(Illustration: „Forscher Ernst“ wird gezeichnet von Rafael Florés. Alle seine weiteren Labor-Abenteuer gibt es hier.)

 

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Letzte Änderungen: 02.11.2023