Editorial

Altersverwirrungen

(06.10.2023) Es lohnt sich stets, etablierte Erkenntnisse mit neuen Methoden zu überprüfen. Ganz besonders bei der zeitlichen Rekonstruktion evolutionärer Vorgänge. 
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In der Wissenschaft wird es oft besonders interessant, wenn man plötzlich mit völlig neuer Technologie Phänomene überprüfen kann, für die „klassische“ Methoden schon viele Antworten geliefert haben. Denn gar nicht selten passen die neuen Ergebnisse erstmal nicht mit den alten zusammen.

Nehmen wir als Beispiel die Verästelungen des weithin bekannten evolutionären Stammbaums. Ganz unten spaltet sich der Grundstamm in die drei Organismen-Domänen der Bakterien, der Archaeen und der Eukaryoten auf. Diese wiederum verzweigen sich von dort aus immer feiner über die Kategorien Stamm, Klasse, Ordnung, Familie und Gattung – bis hin zu den einzelnen Arten an den Spitzen der Zweige. Das Schöne an dieser Darstellungsart: Sowohl die entwicklungsgeschichtliche Abstammung als auch Verwandtschaft der Arten lassen sich gleichsam daraus ablesen.

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Geraschel im Geäst

Doch welche Daten lieferten zunächst die Basis zur Erstellung dieses „Baum des Lebens“? Lange Zeit waren es immer detailliertere Beschreibungen der Baupläne von Organismen, Geweben und Zellen – sowie auch von deren physiologischen Leistungen. Mit umfassenden Quervergleichen dieser Erkenntnisse konnte man zunehmend besser abschätzen, wer mit wem wie eng verwandt ist und wann die zugrundeliegenden Linien (Äste!) sich jeweils vom letzten gemeinsamen Vorfahren (Verzweigungsstelle) abgespalten hatten. Diese Datierungen ermöglichte insbesondere das Einpassen von Fossilfunden, die somit für eine Art zeitliche Kalibrierung des phylogenetischen Baums sorgten.

Was man damit letztlich erhält, sind jedoch immer nur Hypothesen über Verwandtschaftsverhältnisse. Ob die solcherart rekonstruierten Baum-Abschnitte die tatsächliche Evolutionsgeschichte widerspiegeln oder nicht, bleibt in allerletzter Konsequenz unbekannt.

Dennoch ließ sich auf diese Weise die mutmaßliche evolutionäre Entwicklungsgeschichte für viele Sektoren des gesamten Baums ziemlich „plausibel“ nachzeichnen. Aber bei weitem nicht für alle! Andernorts raschelte es vielmehr immer wieder laut im Geäst, wenn die limitierten Vergleichsmöglichkeiten verschiedene Verzweigungshypothesen zuließen und die Expertenschar sich in verschiedene Lager aufspaltete.

Stammbaum molekular

Dann kam die DNA! Vor fünfzig Jahren dämmerte der Fachwelt erstmals, dass man auch aus den puren DNA-Sequenzen eines Lebewesens große Teile der Geschichte seiner evolutionären Vergangenheit und Querverbindungen herauslesen kann. Folglich war plötzlich die Chance da, über die vergleichende Analyse von Sequenzabschnitten aus verschiedenen Organismen nicht nur deren Abstammungslinien und Verwandtschaftsverhältnisse zuverlässiger zu klären, sondern auch die Zeitpunkte für gewisse evolutionäre Ereignisse noch genauer zu ermitteln – also etwa für die Besiedelung neuer Lebensräume oder die Aufspaltung evolutionärer Linien. „Molekulare Evolution“ nannte man fortan diesen neuen Forschungszweig.

Da das Sequenzieren ganzer Genome fortan immer schneller klappte, die Rechenkraft der Computer rasant zunahm und auch die zugehörige Mathematik immer ausgefuchster wurde, erblühte der molekulare Zweig schnell zu üppiger Pracht. Doch genauso schnell häuften sich damit plötzlich die Probleme: Denn an mancherlei Stellen wollten die neu ermittelten molekularen Stammbäume einfach nicht mit den klassischen zusammenpassen.

Katzen-Katastrophe

Ein besonders peinliches Beispiel ereignete sich im Jahr 2007. Anhand von Sequenzvergleichen hatten Genetiker und Bioinformatiker damals vorgerechnet, dass nach zwischenzeitlichem Aussterben ("The Cat Gap") die ersten katzenartigen Raubtiere frühestens vor 8 Millionen Jahren wieder über die Behringstraße auf den amerikanischen Kontinent eingewandert seien. „The late Miocene radiation of modern felidae: A genetic assessment“ titelten sie ihr Paper (Science 311: 73-7). Doch kaum war deren Veröffentlichung erschienen, lachte sich die Zunft der Paläobiologen förmlich schlapp: Schon lange waren Fossilfunde von Nachfahren der wieder eingewanderten „amerikanischen“ Katzen bekannt und natürlich auch veröffentlicht – und die hatten mindestens 16 Millionen Jahre auf dem Buckel. Ziemlich blamabel für die Autoren samt Gutachter: Denn damit war klar, dass keiner von ihnen die „klassische“ Datenlage zum Thema gesichtet hatte.

Besonders stark manifestierte sich das Baum-Dilemma indes bei den Weichtieren (Mollusken). Jahrzehntelang mühten sich Forscherinnen und Forscher an morphologischen Datensätzen und Fossilien von Schnecken, Muscheln und Co. ab, doch ein rundum plausibler Stammbaum wollte ihnen einfach nicht entwachsen. Was wohl auch daran lag, dass Fossilien-Forschung an Weichtieren sicher zu den eher schwierigen Feldern gehört. Aber auch als schließlich zunehmend molekulare Sequenzdaten hereinkamen, weichten sie den ohnehin ziemlich morschen Stammbaum der Weichtiere eher noch weiter auf – so sehr, dass die Fachwelt zuletzt nur noch vom „Mollusken-Chaos“ sprach.

Lückenschließer

Erst vor vier Jahren sorgte die Genomsequenz eines winzigen Tiefsee-Mollusken aus der Antarktis für mehr Durchblick in dem wirren Weichtier-Geäst (Sci. Rep. 10: 101). Die neuen Daten erwiesen sich als entscheidendes Puzzleteil, mit dem es endlich möglich war, die Verwandtschaftsverhältnisse der sieben verschiedenen Weichtier-Klassen über umfassende bioinformatische Sequenzvergleiche plausibel einzuordnen. Und als Kern-Erkenntnis sprang heraus: Die ersten Mollusken tauchten deutlich früher auf Erden auf als bislang gedacht – während die Linie der heutigen Schnecken sich hingegen erst um einiges später von den anderen Weichtier-Urahnen abspaltete.

Ähnliches lernte man jetzt über die Pilze: Auch die sind nach neuesten Daten offenbar älter als gedacht. Doch dieser Fall von Alterskorrektur basiert neben bioinformatischen Sequenzvergleichen noch auf ganz anderen technologischen Neuheiten.

Auch bei Pilzen sind Fossilienstudien heikel, da man insbesondere deren einzellige Vertreter nur selten findet – und dann nur schwer von anderen Mikroorganismen unterscheiden kann. Das bis dahin älteste bestätigte Pilzfossil hatte man in 460 Millionen Jahre altem Gestein gefunden – mehrere molekulare Studien datierten den Ursprung der Pilze jedoch übereinstimmend auf 750 bis 900 Millionen Jahre zurück. Diese beträchtliche Lücke konnte jetzt mit den versteinerten Überresten eines Pilz-Myzels geschlossen werden, das in 715 bis 810 Millionen Jahre alten Erdschichten gefunden wurde (Sci. Adv. 6(4): eaax7599). Anders als sonst studierten die glücklichen Finder die organischen Überreste allerdings mit einer ganzen Batterie spektroskopischer und mikroskopischer High-End-Methoden direkt im Gestein – also ohne sie chemisch herauszulösen. Und nachdem sie sowohl Zellkerne als auch das typische Chitin nachweisen konnten, stand fest: Das waren mal Pilze!

Womit erneut gezeigt wäre, wie wichtig es ist, „klassische“ Hypothesen und Erkenntnisse immer wieder mit neuen Methoden zu überprüfen. Nicht nur bei der Rekonstruktion evolutionsgeschichtlicher Ereignisse – sondern ganz generell in der experimentellen Wissenschaft. 

Ralf Neumann

(Foto: LimoSketch)

 

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Letzte Änderungen: 04.10.2023