Editorial

Stillstand mit Tempo

(01.09.2023) Sogenannte „lebende Fossilien“ haben sich in Jahrmillionen äußerlich nur wenig verändert. Dabei lassen Selektion und Evolution sie kein bisschen in Ruhe.
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„Survival of the Fittest“, „Hopeful Monsters“, „Frozen Accidents“, ... Gerade die Evolutionsbiologie hat eine Reihe kraftvoll-blumiger Begriffe hervorgebracht. Das Dilemma mit solchen Begriffen ist allerdings, dass sie sich zwar gut einprägen, zugunsten der „Blumigkeit“ aber häufig an Trennschärfe verlieren. Die Folge ist, dass man immer wieder die eine oder andere falsche Bedeutung mit hineinlegt. Und diese „Missverständnisse“ wird man oftmals umso schwerer wieder los.

Nehmen wir beispielsweise die „Living Fossils“. Charles Darwin selbst führte den Begriff in seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“ ein. Wörtlich schrieb er über „äußerst anomale Formen“ wie etwa das Schnabeltier und den Lungenfisch:

„Diese anomalen Formen kann man fast als ‚lebende Fossilien’ bezeichnen; sie haben bis heute überdauert, da sie seither ein begrenztes Gebiet bewohnten und somit einem weniger starken Wettbewerb ausgesetzt waren.“

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Synonym für evolutionären Stillstand?

Darwin meinte das damals rein operational. Eine aktuelle Spezies könne demnach als „lebendes Fossil“ bezeichnet werden, wenn sie aufgrund ihrer Eigenschaften die gemeinsame Abstammung zweier Gruppen im gleichen Maße anzeigt, wie man es von den „toten“ Fossilien lange ausgestorbener Lebewesen kennt. Mit keinem Wort hingegen deutete er an, dass in den Linien solcher „lebenden Fossilien“ womöglich über lange Zeit keine evolutionären Veränderungen mehr stattgefunden hätten – und sie deswegen heute noch genauso aussähen wie ihre Vorfahren vor Abermillionen Jahren. Dennoch gilt der Begriff „lebendes Fossil“ bis heute vielen als Synonym für genau dieses Konzept des evolutionären Stillstands.

Darwin machte das am Schnabeltier sehr klar: Dessen Weibchen legt zwar Eier, produziert aber auch Milch – woraus er schloss, dass Reptilien und Säugetiere gemeinsame Vorfahren hatten. Dass das Schnabeltier damit gleichsam ein evolutionär unverändertes Relikt aus uralten Zeiten wäre, behauptete er nirgendwo.

Gerade zuletzt untermauerten einige Studien, dass diese Auffassung ein generelles Missverständnis darstellt. Nehmen wir etwa einen weiteren „Klassiker“ unter den „lebenden Fossilien“ – die berühmten Pfeilschwanzkrebse (Limulus). Deren harte Kopf- und Körperpanzer sehen heute noch nahezu genauso aus wie diejenigen ihrer etwa 450 Millionen Jahre alten Vorfahren. Die Panzer, wohlgemerkt! Bei den Weichteilen scheint in dieser Zeit dagegen deutlich mehr passiert zu sein als bisher angenommen.

Auszeit? Keineswegs!

Kürzlich präsentierten Forscher der Harvard University beispielsweise einen 425 Millionen Jahre alten Limulus als „echtes“ Fossil (PNAS 109(39): 15702-5). Und das war so gut erhalten, dass die Autoren vor allem zu dessen Gliedmaßen Überraschendes verkünden konnten. Konkret ging es um folgendes: Die Pfeilschwanzkrebse gehören – trotz des „Krebses“ im Namen – neben den Spinnen und Skorpionen zu den Fühlerlosen (Chelicerata). Und die haben durchweg unverzweigte Gliedmaßen. Bei der Nachbargruppe der Krebstiere (Crustaceen) dagegen verzweigen sich die Gliedmaßen knapp nach der Basis in zwei segmentale Gliedmaßen-Äste. Im Gegensatz zu seinen aktuellen Nachfahren hatte der fossile Limulus allerdings verzweigte Gliedmaßen – was bedeutet, dass dessen Linie erst später auf dem Weg zum modernen Pfeilschwanzkrebs auf unverzweigte Gliedmaßen umschaltete.

Dass sich in Linien, die seit Urzeiten äußerlich unverändert erscheinen, im Detail dennoch einiges getan haben kann, offenbaren übrigens auch die den Pfeilschwanzkrebsen ganz ähnlichen Rückenschaler (Notostraca): Genomvergleiche identifizierten innerhalb der ursprünglich angenommenen 11 Arten vielmehr ganze 38, die sich zudem allesamt erst vor kurzem aufgespalten hatten (PeerJ 1: e62).

Auch hier hat sich die Evolution also offenbar keineswegs eine Auszeit genommen. Vielmehr wurden in beiden Fällen günstige und zudem sehr prominente Eigenschaften durch stetige stabilisierende Selektion erfolgreich bewahrt – während andere, weniger auffällige Eigenschaften sich parallel veränderten. Stillstand ist das wohl kaum.

Viel Mutation, aber stablisierende Selektion

Darwin selbst bekam das Missverständnis um seine „lebenden Fossilien“ indes gar nicht mehr mit. Populär wurde der Begriff erst, als man über 50 Jahre nach seinem Tod den ersten Quastenflosser (Latimeria chalumnae) aus dem Meer zog. Weil dessen Morphologie bis dahin nur aus Fossilfunden bekannt war und er daher eigentlich als ausgestorben galt, erinnerte man sich wieder an Darwins „lebendes Fossil“ – und fand den Begriff hier offenbar passender als für dessen eigene Beispiele.

Doch der Quastenflosser sollte noch für ein weiteren Aspekt des Missverständnisses um die „lebenden Fossilien“ sorgen: Da er sich hinsichtlich seiner Erscheinungsform evolutionsgeschichtlich kaum verändert hat, ging man davon aus, dass er über die Jahrmillionen auch genetisch praktisch stillstand. Damit würde der Quastenflosser jedoch gegen jegliche Prinzipien der Evolutionsgenetik verstoßen, nach denen sich Genome als Folge stetiger Mutationen kontinuierlich verändern – und erst die Selektion darüber entscheidet, welche der dadurch hervorgebrachten Varianten entweder als schädlich aus der Population eliminiert oder als vorteilhaft in ihr fixiert werden.

Dennoch galt als vorherrschende Meinung, dass der Quastenflosser deswegen so lange äußerlich gleich blieb, weil nur sehr wenige Mutationen in seinem Genom einschlugen. Dabei war die alternative Erklärungsmöglichkeit, dass eben doch „normal“ viele Varianten entstehen, diese aber sofort durch eine sehr kraftvolle stabilisierende Selektion eliminiert werden, von Anfang an genauso plausibel. Schließlich verließen die Nachkommen der nur in geringer Zahl vorkommenden Fische niemals ihren über Jahrmillionen unveränderten Lebensraum – sodass sie schon sehr lange optimal daran angepasst waren. Varianten hatten folglich schlichtweg keine Chance, sich als vorteilhaft durchzusetzen.

Horizontaler Gentransfer auch hier

Und tatsächlich sammeln Forscher seit kurzem Indizien, dass die Evolution des Quastenflossers genau so verlief. Moderne Genomanalysen zeigen, dass sein Erbgut einer ebenso schnellen molekularen Evolution unterliegt wie bei anderen Fischen auch (Bioessays 35:332-8). Aber sie zeigten noch mehr: Erst vor rund 10 Millionen Jahren erwarben dessen Vorfahren 62 neue Gene, indem sie diese durch mehrfachen horizontalen Gentransfer aus unverwandten Lebewesen in ihr Erbgut aufnahmen (Mol. Biol. Evol. 38(5): 2070-5). Zwar änderten diese offenbar nichts an der äußeren Erscheinungsform des Quastenflossers, aber dennoch lässt sich damit kaum mehr bestreiten: Für einen Organismus, dem man als „lebendes Fossil“ eigentlich jegliche evolutionäre Dynamik absprach, zeigt er eine sehr „lebendige“ Genomevolution.

Ralf Neumann

(Foto: asriran.com)

 

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Letzte Änderungen: 30.08.2023