Editorial

Plädoyer für eine Schwurbel-resistente Lehre

(08.08.2023) Die Corona-Pandemie strotzte vor irreführenden Aussagen und Pseudowissenschaft. Es ist Zeit, sich auf die Wissenschaftlichkeit zurückzubesinnen.
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Die COVID-19-Krise hat die Virologie von einem dünn besiedelten Außenbezirk der Lebens­wissenschaften in das Epizentrum der globalen Aufmerksamkeit katapultiert. Dass es irgendwann – nach SARS anno 2003 und MERS 2013 – zu einem weiteren Ausbruch eines Coronavirus kommen wird, hatten viele ja erwartet. Überraschend aber waren die Wucht und Dauer der Pandemie, getragen von der Ansteckung durch Symptomlose, hohe Infektions- und Mutationsraten sowie andere, immer neue Volten, die dieser Seuchen­erreger schlägt.

Überraschend war allerdings auch, wie viel Unsinn erzählt wurde, leider oft von Menschen, die irgendwann einmal eine Lebenswissenschaft – meist Medizin, Tiermedizin oder Biologie – studiert hatten. An sich war das Szenario ja „von der Stange“: Wir hatten es mit dem Eindringen eines hoch­ansteckenden Pathogens in eine immun-naive Population – nämlich uns – zu tun. Was das bedeutet, kennt man von SARS-CoV-1, HIV, Zika-, Ebolavirus und zahlreichen Tierseuchen­erregern wie zum Beispiel aktuell H5N1. Gleichzeitig gibt es diverse Nachweisverfahren, um Infizierte zu erkennen und die Ausbreitung zu verhindern – und das Prinzip der Impfung ist jetzt auch kein Geheimwissen. Es sollte also auch für Fachleute ohne 100-prozentige passgenaue Expertise möglich sein, die Basics des Geschehens korrekt einzuordnen.

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Während es zu Beginn 2020 tatsächlich auch noch weitgehend Konsensus war, dass das neue Virus ernst zu nehmen ist und was man in dieser Notsituation tun sollte, schwollen über Sommer und Herbst des Jahres Stimmen an, die für einen angemessenen Umgang mit dem Virus eher weniger zuträglich waren. Das Spektrum reichte dabei von lückenhaftem Grundlagen­wissen, persönlichen Befindlichkeiten, die zur fachlichen Einschätzung gepimpt wurden, über Falsch­behauptungen bis hin zu gemein­gefährlichem Quatsch. Letzteres hört auf das schöne Wort „Schwurbel“, und die Grundregel dabei ist: Je abenteuerlicher und selbstbewusster die Behauptungen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Urheber nicht auf dem entsprechenden Fachgebiet ausgewiesen ist – oder gar kein Fachgebiet hat, da seit der lange zurück­liegenden Dissertation keine ernsthafte Forschung mehr betrieben wurde. Das konstante Säurebad des Peer-Review – sowohl als Objekt als auch als Reviewer – ist aber essentiell, um Daten und Wissen auf dem aktuellen Stand einordnen zu können und die Antenne für Unsinn gut geputzt zu halten.

In diesem Beitrag möchte ich einige Dinge kommentieren, die während des wilden Ritts durch die Pandemie aufgefallen sind und die ich wenigstens aus dem Bereich der Lebens­wissenschaften bitte nicht mehr hören oder lesen möchte. Dieser fromme Wunsch kann vielleicht in Erfüllung gehen, wenn wir uns in Ergänzung zu den Fakten, die wir an den Unis lehren, wie zum Beispiel tollen molekularen Mechanismen, auch wieder darauf besinnen, wie unser Wissen eigentlich zustande kommt. Wir sollten den Student:innen beibringen, wie sie Wissenschaft von Quatsch abgrenzen können, auch wenn er einen wissenschaftlichen Anstrich bekommen hat. Das Laborjournal hat mir nach Ausfüllen eines handgeschriebenen DIN-A4-Antrags mit drei Durchschlägen maximal 17.000 Zeichen genehmigt; das will ich ausnutzen für einen bunten Mix aus Beobachtungen und deren Einordnung, und eine gar nicht neue Idee, wie man die Situation verbessern könnte.

Fangen wir also mit 2020 an, als die diagnostische RT-PCR, die unzählige Leben gerettet hat, rasch unter Beschuss geriet. So wurde von einem bunten Konsortium aus fachfremden Wissenschaftlern und niedergelassenen Ärzten bis hin zu einem „Digital Artist“ in einem als Peer Review bezeichneten Online-Pamphlet unter anderem behauptet, dass dieser Test nichts aussagen würde, da er nur „Virusschnipsel“ findet. Eine solche Formulierung führt aber grob in die Irre, denn wenn Teile des Virusgenoms vorhanden sind, dann hat auch eine Infektion stattgefunden. Man muss nicht das gesamte Genom von über 30.000 Basen nachweisen, denn auch die Schnipsel waren vorher noch nicht da.

Ein weiterer Punkt betrifft die Verwendung des Wortes „Infektion“. Tatsächlich wird der Begriff oft synonym für „Krankheit“ verwendet, bedeutet aber eigentlich etwas anderes, nämlich die Aufnahme und Vermehrung eines Krankheits­erregers. So etwas kann durchaus auch glimpflich ausgehen: Man kann ja infiziert sein, ohne krank zu werden. Wenn jemand also behauptet, die RT-PCR könne keine „Infektion“ nachweisen, dann wird dieses Missverständnis ausgenutzt. Es wurde damit ein etablierter Test in Misskredit gebracht, der dazu dient, Virusträger rechtzeitig zu erkennen und zu isolieren, bevor sie andere anstecken. Die etwas härtere Spielart der „PCR-Leugnung“ besteht übrigens darin zu behaupten, es gäbe gar keine Viren und die ganzen sequenzierten Full-length-Genome – also mehr als 15 Millionen alleine für SARS-CoV-2 bei GISAID – wären nur am Computer zusammen­gebastelte Genschnipsel. Da sind sie wieder, die „Schnipsel“, Grundlage einer besonders absurden Form der Schwurbelei, übrigens betrieben von einem promovierten Lebens­wissenschaftler.

Ein oft vorgebrachter Kritikpunkt ist, dass die Wissenschaft sowieso ständig ihre Meinung ändert. Man hörte das von Politiker:innen, kennt es aber seit jeher auch von Freunden der Pseudo­wissenschaft. Letztere sind sich seit Jahrzehnten 100 Prozent sicher, dass ihr großartiges &!$§$ – hier ein beliebiges Schwurbelthema einsetzen – irgendwann von der etablierten Wissenschaft bewiesen wird, wenn diese nur endlich auch mal so weit ist. Wir alle wissen – hoffentlich – jedoch, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Geforscht wird nur an den Rändern des Wissens, also da, wo die Datenlage noch zu schwach ist, um etwas abschließend zu beurteilen. Man muss weder untersuchen, ob es Viren überhaupt gibt, noch ob der Mond aus Käse besteht. Das ist alles abgeklärt und daran zu forschen, wäre Geld- und Ressourcen­verschwendung – und auch furchtbar langweilig. Viel spannender ist es doch, zum Beispiel zu untersuchen, wie so ein Virus mit seiner minimalen genetischen Ausstattung – Circovirus SFBeef hat 859 Basenpaare und ein Gen – es schafft, den Wirtsorganismus in eine Partikel­schleuder umzuprogrammieren. Da weiß man sehr vieles noch nicht und wird sicher noch oft seine „Meinung“ revidieren müssen.

Weiter geht’s mit falschen Therapie­versprechen und Impfgegnerschaft. Da wurden Vitaminpillen, das Desinfektionsmittel Chlordioxid oder der Entwurmer Ivermectin – im Labor als praktischer Blocker des Kerntransports beliebt – als Heilmittel gegen Corona angepriesen. Alles besser als diese in kÜrzESter ZeIT entwickelten iMPf-NAnOpArtIkel aus mRNA mit VirUSGenEn drauf! Eigentlich enthalten die Impfstoffe ja nur ein – meist mutiertes – Virusgen, während das als wenig problematisch empfundene SARS-CoV-2 circa 30 verschiedene Proteine produziert und mit Anti-Immun­funktionen nur so vollgetackert ist. Und ein Impfstoff mit Virusgenen drin ist weiß Gott nichts Ungewöhnliches.

Natürlich musste man den mRNA-Vakzinen noch alles mögliche andere Schlechte andichten; angeblich machen sie aufgrund gewisser Ähnlichkeit des Spike-Proteins mit einem Plazenta-Protein unfruchtbar, oder verursachen durch DNA-Integration Krebs. Das sind alles durchaus testbare Hypothesen mit allerdings eher lausigem Plausibilitätsgrad, aber die Widerlegung kostet halt Zeit. Wie viel Verunsicherung und konkretes Leid bei Betroffenen wie etwa Schwangeren, die besonders COVID-19-gefährdet sind, durch das systematische Verbreiten solcher unbewiesener Behauptungen verursacht wurde, ist kaum mehr zu erfassen. Man kann aber davon ausgehen, dass diese „sciency“ dargebrachten Fehl­informationen erhebliche Konsequenzen hatten. Der neueste Trend sind ja „Impfausleitungen“, mit der vermeintliche Langzeitschäden mittels Ivermectin, „Mitochondrien­medizin“, „Mikro­immun­therapie“, Blutwäsche etc. sowie – natürlich – Homöopathie abgewendet werden sollen.

Wenn es nicht einen so ernsten Hintergrund hätte, dann wären manche der orchestriert verbreiteten Desinformationen, produziert von an der Uni ausgebildeten „Variants of Concern“, ja eher belustigend. Wer glaubt denn wirklich, dass man wegen der mRNA-Vakzine Spike-Proteine ausscheidet, mit denen die Verwandt- und Bekanntschaft gleich mitgeimpft wird? Da hat jemand munter das von Viren und manchen Lebend­impfstoffen bekannte „Shedding“ in einen Topf mit den – nicht vermeh­rungs­fähigen – Spike-Vakzinen geworfen, und fertig ist der nächste Impf-„Scare“. Oder dass Schutzmasken und Teststäbchen „Morgelons“ enthalten würden, also kleine Würmer oder Nanoroboter, die ihren Wirt durch die Nase infizieren. Bitte, was? Ein paar Textilfasern reagieren auf Temperatur­schwankungen, werden vom Billigmikroskop per Handy abgefilmt, fertig ist die Maskenpanik. Überhaupt, die Masken: Viruspartikel lassen sie barrierefrei durch, aber CO2 sammelt sich in bedenklichen Mengen an? Und gegen mRNA-Shedding werden sie dann doch getragen … Man hatte mitunter den Eindruck, dass die Logik selbst gerade Kreide holen war.

So, jetzt gehen mir langsam die „mpf“s aus. Kommen wir deshalb zum „ö“, das ist noch verfügbar. Homöopathie. Angeblich lassen sich damit akutes COVID-19, Long-COVID oder Impf­kompli­kationen behandeln. Das Konzept besteht ja darin, dass Stoffe mittels seriellem Ausschütteln so lange in Wasser verdünnt werden, bis sie verschwunden sind. Das so produzierte Nichts wird hernach auf Rohrzucker­kügelchen getropft und verabreicht. In den Illustrierten werden gerne Heilpflanzen neben ein paar ausgeschütteten Kügelchen gezeigt, obwohl es sich weder um Naturheilkunde handelt, noch die Ausgangsstoffe zwingend botanisch sind. Da kommt auch mal ein Stück Berliner Mauer – gegen seelische Blockaden –, Hundekot oder Elektrosmog zum Einsatz, aber damit lässt sich halt schlecht werben. Die vermeintliche Wirkung des abwesenden Stoffes muss man ja irgendwie erklären, wird sie doch mit zunehmendem Dahinschwinden sogar „potenziert“. Das soll das berühmte Gedächtnis des Lösungsmittels Wasser richten, denn laut der merkwürdigen Lehre ist Wasser sehr nachtragend. Jedenfalls, wenn man es gegen den Erdmittelpunkt schüttelt. OK, aber was ist dann mit den Globuli? Hat die Saccharose auch ein Gedächtnis und bekommt vom draufgetropften Wasser Unterricht? Schwierig …

Manche nennen es die Luftgitarre der Medizin, Jörg Kachelmann nennt es Betrug. Bereits 1992 wandte sich die „Marburger Erklärung“ des dortigen Fachbereichs Humanmedizin gegen den zunehmenden Einfluss der Homöopathie in der Lehre. Dennoch ist diese vollkommen absurde Lügelchen-Alchemie hoch populär, und fest an den Universitäten verankert. Laut dem Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte wird es in Deutschland an 15 der insgesamt 37 Universitäten mit medizinischer Fakultät als Wahlpflichtfach angeboten. Weiterhin gibt es Arbeitskreise, Vorlesungen, Sommer­akademien und Famulaturen. An. Den. Unis.

Wenn wir uns also fragen, was bei manchen Menschen mit Immatri­kulations­hintergrund schiefgelaufen ist, dann ist für mich das schleichende Gift der Pseudo­wissenschaften an den Universitäten ein Premium­kandidat für die Ursache. Letztlich wird da im Mäntelchen der Offenheit für „Neues“ – seit 200 Jahren unverändert – eine Beliebigkeit toleriert, die dafür sorgt, dass man auch den größten Blödsinn akademisch schminken kann. Weißer Kittel, Reagenzgläser oder ein Mikroskop machen aber noch lange keine Wissenschaft, selbst wenn es sogar eigene Lehrbücher gibt und man möglichst viele Fremdwörter einsetzt.

Die Homöopathie ist nicht alleine verantwortlich für den ganzen Unsinn, der in der Pandemie hochvirulent wurde. Sie ist aber sicherlich der größte Pseudo­wissenschafts-Unfall in der akademischen Ausbildung – und in den Apotheken. Sie sollte durchaus an den Universitäten behandelt werden, allerdings als Demonstrations­objekt für groben Unfug und nicht als Fach. Eine „Heilmethode“, die wirkt wie von Helge Schneider und Petrosilius Zwackelman an einem Kneipenabend ausgeheckt, eignet sich doch hervorragend, um die Unterschiede zwischen seriös und pseudo herauszuarbeiten. Warum zum Beispiel ist anerkannt, dass Proteine ohne Erbsubstanz infektiös sein können, während so ein Wassergedächtnis höchstens Lachtränen verursacht? Warum ergeben drei zufriedene Großcousinen und ein fideler Hund noch keine aussagekräftige Statistik? Was sind geeignete Kontrollen und was nicht? Was ist der Placebo-Effekt und warum funktioniert er auch bei sozialen Tieren? Und wer von den Studierenden die meisten Naturgesetze nennen kann, die beim Wirkstoff-Verschütteln gleich mit im Gulli landen, bekommt eine C200-potenzierte Million Euro.

Schwurbler und Faktenverdreher wird es immer geben, aber sie sollten sich nicht auf an der Uni vermittelten Lernstoff berufen können. Gerade in Notsituationen wie einer Pandemie muss sich die Gesellschaft auf die Naturwissenschaft verlassen können. Quatschlehre verwässert nicht nur Wirkstoffe, sondern auch das Denken. Sie existiert nicht einfach in einer Parallelwelt vor sich hin, sondern vernichtet aktiv Wissen, Energie und manchmal sogar die Gesundheit. Wir brauchen aber Hirnschmalz, keine Hirnschmelze!

Zur Person
Friedemann Weber ist Direktor des Instituts für Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht er die Interaktionen hochpathogener RNA-Viren mit dem antiviralen Interferon-System. Als Modelle setzt er Vertreter der Bunyaviren, Coronaviren und Influenzaviren ein.

Bild: Tim Teebken (Bearb. U. Sillmann)

Dieser Essay erschien zuerst in Laborjournal 7-8/2023.


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Letzte Änderungen: 08.08.2023