Editorial

Evolution ohne Sex

(04.08.2023) Fortpflanzung ausschließlich über Jungfernzeugung, Nachkommen also nur genetisch gleiche Töchter – und trotzdem über 300 Arten gebildet. Hypothesen gesucht! 
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Der Marsch zur wissenschaftlichen Erkenntnis startet in aller Regel mit einer Beobachtung. Denn nur aus Beobachtungen lässt sich abschätzen, ob dahinter wissenschaftliche Fragen stecken, die genug realisierbares Erkenntnispotenzial versprechen, um durch gezielte Experimente gewinnbringend weiterverfolgt zu werden. 

Doch manchmal lassen sich Forscher auch durch Nicht-Beobachtungen auf solche „Erkenntnis-Märsche“ schicken. Oder genauer gesagt: Durch die Beobachtung, dass etwas fehlt.

Ein schönes Beispiel bietet die Ordnung Bdelloida aus dem Stamm der Rädertierchen (Rotifera). Diese mikroskopisch kleinen Kriechtiere leben weltweit vor allem im Süßwasser, aber auch in feuchtem Moos oder nasser Erde. Was ihnen überall jedoch fehlt, sind Männer. Niemand hat bisher welche beobachten können – weshalb die Rädertierchen-Forscher natürlich irgendwann einmal argwöhnisch wurden...

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Klone produzieren Klone, die wieder Klone produzieren

Wie die Bdelloida-Damen sich ohne Männer fortpflanzen, war jedoch schnell klar: durch sogenannte Jungfernzeugung – im Fachsprech Parthenogenese –, bei der die Töchter-Brut sich direkt aus unbefruchteten Eizellen entwickelt. Ein Phänomen, dass Biologen schon seit dem 18. Jahrhundert kennen – unter anderem von Blattläusen und Wasserflöhen, aber auch von manchen Fisch- und Reptilienarten. Viele dieser Organismen können sich allerdings zusätzlich auch sexuell fortpflanzen, da männliche Individuen durchaus vorhanden sind. Für die „eisernen Jungfern“ der 300 Bdelloida-Arten ist die Parthogenese dagegen die einzige Fortpflanzungsoption. 

Dies wiederum hat Konsequenzen. Schließlich wird bei der geschlechtlichen Fortpflanzung das Erbgut der entsprechenden Nachkommen stets neu durchmischt – konkret durch die homologe Rekombination der Chromosomen während der Reifeteilungen von Spermien- und Eizellen. Das fällt bei Bdelloida weg, sodass die Mütter via Jungfernzeugung prinzipiell ausschließlich genetisch identische Töchter erzeugen. Klone also, die wieder Klone produzieren, die wieder Klone produzieren… – und das schon über Jahrmillionen.

Womit wir an dem Punkt angekommen sind, an dem die anfängliche Beobachtung, dass den Bdelloiden jegliche Männer fehlen, zu lohnenswerten wissenschaftlichen Fragen führt. Denn wie konnten sie mit diesem Variations-Lockdown – ohne jegliche Rekombination des Erbguts – Hunderte von Millionen Jahre Evolution überleben? Und in dieser Zeit dennoch etwa dreihundert genetisch klar verschiedene Arten entwickeln?

Trocknen und Reparieren

Die Fragen sind also gestellt, jetzt braucht es eine Hypothese. Dazu rekrutierten die Bdelloidologen zunächst eine weitere Beobachtung – nämlich diejenige, dass die Mehrheit ihrer Lieblingstierchen wasserarme Krisenzeiten lange Zeit als komplett ausgetrocknete Dauerstadien überstehen kann. Auch dies, Anhydrobiose genannt, kennt man bereits von anderen Tierstämmen. Und daher weiß man, dass deren Erbgut solche Zyklen aus De- und Rehydrieren nicht schadlos übersteht. Die Konsequenz: Nach Erwachen aus dem Trockenschlaf müssen die Tierchen ihre DNA erst einmal von Grund auf reparieren.

Mit dieser Beobachtung formulierten die Experten letztlich die folgende, durchaus plausible Hypothese zur evolutionären Bdelloida-Variation ohne Männer: Die zelluläre Maschinerie zur DNA-Reparatur könnte in diesem Zusammenhang nicht nur schädliche Trocknungs-Mutationen wieder ausmerzen, sondern böte zugleich eine alternative Möglichkeit zur Rekombination des genetischen Materials. Ganz ohne Sex.

Dummerweise reicht plausibel alleine jedoch nicht in der Forschung. Hypothesen müssen vor allem testbar sein – sonst taugen sie nur das Papier, auf dem sie notiert werden.

Tod einer Hypothese

Doch die Bdelloidologen hatten Glück, auch dieses Kriterium war erfüllt. Zum einen gibt es unter den Bdelloiden einige wenige Arten, die Trockenphasen nicht überstehen können und auch keine reparaturpflichtigen Dauerstadien bilden; und zum anderen steht seit einiger Zeit die komplette Methodik zur vergleichenden Analyse mehrerer verwandter Genome. Folglich war die Hypothese grundsätzlich testbar.

Ein Team des Londoner Imperial College machte sich schließlich daran, die Genomsequenzen der zwei austrocknungstoleranten Bdelloida-Vertreter Adineta ricciae und Adineta vaga mit denjenigen ihrer zwei austrocknungsempfindlichen Vettern Rotaria macrura und Rotaria magnacalcarata zu vergleichen. Wenn an der obigen Hypothese etwas dran sein sollte, so musste die Vorhersage logischerweise lauten: Die Genomsequenzen der austrocknungsempfindlichen Arten variieren deutlich weniger untereinander als diejenigen der Dauerstadien-Bildner, deren Vorfahren immer wieder ihr Erbgut reparieren mussten. Doch genau das kam nicht heraus, vielmehr gab es keine signifikanten Unterschiede in der Variabilität zwischen allen Arten (PLoS Biol. 16(4): e2004830). Die Reparatur-Hypothese war folglich gestorben. 

Doch die nächste Hypothese steht bereit

Ohne es zu wollen, hatten die Londoner damit nebenbei auch den Wert sogenannter negativer oder Null-Ergebnisse demonstriert – denn dadurch war sonnenklar: Eine neue Hypothese muss her!

Und wieder half eine Beobachtung. Die Genomanalyse der Londoner bestätigte nämlich eindrucksvoll gewisse Hinweise, dass das Bdelloida-Erbgut in bisher unbekanntem Ausmaß voller Gene steckt, die im Laufe der Evolution über horizontalen Gentransfer aus anderen Organismen eingeschleust wurden. Indes war dies in den Entwicklungslinien aller vier Bdelloida-Arten praktisch gleich häufig geschehen – also völlig unabhängig vom Trockenheits-Management der jeweiligen Spezies.

Natürlich drängte sich damit direkt die Frage auf, ob statt der DNA-Reparatur nicht vielmehr dieser intensive horizontale Gentransfer als wahrer Motor hinter der genetischen Variabilität der bdelloiden Rädertierchen stecken könnte. Womit zugleich die neue Hypothese formuliert war.

Begünstigt Jungfernzeugung horizontalen Gentransfer?

Doch wie lässt sich diese jetzt testen? Und abgesehen davon: Welches sind die Ursachen und Mechanismen, dass ausgerechnet diese Rädertierchen derartige Rekordraten an horizontalem Gentransfer aufweisen? Mit Trockenstadium oder nicht hat das ja offenbar nichts zu tun. Und noch weiter darüber hinaus: Könnte es gar generell sein, dass nicht nur bei den Bdelloida, sondern überall dort, wo Jungfernzeugung als Fortpflanzungsform dominiert, horizontaler Gentransfer forciert wurde? Weil nur so die genetische Variabilität hoch genug gehalten werden kann, um den evolutionären Zwängen einer sich stetig ändernden und selektierenden Umwelt nachkommen zu können?... 

Fragen über Fragen. Aber viele meinen ja sowieso, dass es für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess wichtiger sei, die richtigen Fragen zu stellen, als Antworten zu liefern. Glücklicherweise reicht dazu oft genug eine simple Beobachtung als Startschuss – wie etwa diejenige, dass den klitzekleinen Rädertierchen Männer fehlen. 

Ralf Neumann

(Foto: Charles Krebs)

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Letzte Änderungen: 31.07.2023