Editorial

Regeln? Welche Regeln?

(30.06.2023) ... Oder warum es universelle Gesetze in der Biologie so schwer haben.
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Regeln sind was Schönes. Wenn feste und allgemein gültige Regeln existieren, werden die Einzelfälle berechenbar. Man weiß im Voraus, wie sie sich grundsätzlich verhalten und was man von ihnen zu erwarten hat.

Nicht zuletzt deshalb ist die Suche nach universellen Regeln eines der größten Ziele der Wissenschaft. Und vor allem die Mathematik und Physik sind ja auch sehr erfolgreich darin. Zwei plus Zwei macht immer Vier – zu jeder Zeit und überall im Universum. Und ebenso universell gilt etwa Newtons Gesetz zur Wirkung der anziehenden Gravitationskraft zwischen zwei Massepunkten.

Die Biologie hat es da deutlich schwerer. Klar, die Gesetze der Physik und Chemie gelten natürlich auch in lebenden Organismen – etwa das Gravitationsgesetz oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Und sicher, auch in der Biologie gibt es „Regeln“, die uns allgemein gültig vorkommen. Zum Beispiel, dass Leben und Vererbung grundsätzlich auf Nukleinsäuren basieren. Aber gilt das tatsächlich für das ganze Universum? Und für alle Zeiten? Schon schwammiger, oder?

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Biologie versus Brücken

Als wir Sydney Brenner, Pionier der Molekularbiologie und Nobelpreisträger des Jahres 2002, einmal fragten, ob diejenigen, die in der Biologie nach allgemeingültigen Regeln und Gesetzen suchen, nicht oftmals enttäuscht würden, antwortete er: 

„Ja, das stimmt. In der Biologie gibt es einfach keine allgemeingültigen Wege, wie man etwas verstehen kann. Das ist typisch für die Biologie. Biologie ist das Gebiet, in dem das Beispiel alles ist. Es ist nicht Beispiel für irgendetwas anderes. Es ist, was es ist. Und zwar, weil die Details zählen. In der Biologie geht es eher zu wie beim Ingenieurswesen. Ingenieure bauen zum Beispiel verschiedenste Brücken – ohne eine allgemeingültige Theorie zu haben. Zwar gelten gewisse Gesetze und Theorien auch bei Brücken – wie zum Beispiel die Schrödinger-Gleichung der Wellenmechanik –, aber vollumfassend beschreiben kann man sie damit nicht. Ähnlich funktionieren die Dinge in der Biologie. Und von daher denke ich, dass die Biologie einfach ein Teil der Natur ist, der nicht von Gesetzen abhängt.“

Schönes Beispiel, das mit den Brücken! Schauen wir uns also ein paar analoge „Ingenieursleistungen“ aus der Biologie an:

Wer schnell durchs Wasser schwimmen muss, braucht einen stromlinienförmigen Körperbau – ob Hecht, Pinguin, Delphin oder Krokodil. Und wer aktiv durch die Lüfte fliegt, hat Flügel – ob Vogel, Fledermaus, Insekt oder die Flugsaurier der Kreidezeit.

Flügel über Flügel

Es scheint also klar: Wenn verschiedene Organismen die selbe Art Lebensraum bevölkern, finden sie in der Regel ähnliche Lösungen, um die Herausforderungen zu meistern, denen sie sich dort stellen müssen. „In der Regel“? Steckt da also doch eine allgemeine Regel dahinter? 

Nicht wirklich. Es ist vielmehr wie bei Brenners Brücken-Beispiel. Jeder der genannten Organismen verfügt über unterschiedliches „Ausgangsmaterial“, um daraus auf ganz eigene Weise analoge Lösungen zu basteln. So entwickelten die Insekten-Ahnen ihre Flügel als Ausstülpungen ihres Chitin-Panzers; die ersten Vögel hingegen schmückten ihre Vorderextremitäten mit Federn, die deren Vorfahren wiederum aus den Kreatin-Schuppen der Echsenhaut entwickelt hatten; und die Linie der Fledermäuse begann, als sie große Hautlappen zwischen ihre langen Finger spannten. 

Ähnlich läuft es auch auf molekularer Ebene. Ein besonders markantes Beispiel liefern etwa die Anti-Frost-Proteine, mit denen sich Fische, Pflanzen, Insekten und sogar Einzeller in eiskalten Lebensräumen gegen das Einfrieren schützen. Der Mechanismus ist stets derselbe: Die kleinen „Gefrierschützer“ unterdrücken die Bildung und das Wachstum von Eiskristallen in Zellen und Körperflüssigkeiten. Die Proteine selbst kommen allerdings in den verschiedensten Formen vor. Allein bei den Fischen lassen sich deren zahlreiche Vertreter inzwischen in ein halbes Dutzend unabhängiger Klassen einteilen – mit jeweils völlig unterschiedlicher Struktur und evolutionärer Herkunft. Und Pflanzen und Insekten bilden wieder ganz andere Typen.

Gleiches Ziel, ähnliches Ergebnis, verschiedene Wege

All dies sind Paradebeispiele für die sogenannte konvergente Evolution, nach der sich analoge Anpassungen an bestimmte Umweltanforderungen unabhängig aus verschiedenen Ursprungsstrukturen entwickeln. Das Ziel ist dasselbe, selbst das Ergebnis ist ähnlich – aber der Weg dorthin folgt keiner allgemeingültigen Regel.

Zumal die Natur oft genug auch mehr als eine hinreichende Lösungsstrategie für dasselbe Problem findet. Zum Beispiel beim Landgang aus dem Wasser. Diesen haben ziemlich verschiedene Lebewesen mehrmals zu verschiedenen Zeiten vollzogen. So stiegen etwa die ersten Insekten-Vorfahren viele Millionen Jahre vor dem ersten Fisch an Land. Beide Gruppen mussten sich jedoch unmittelbar denselben neuen Herausforderungen stellen: der Schwerkraft trotzen, Sauerstoff aus der Luft binden, sich vor dem Austrocknen schützen sowie ihre Fortbewegung und Fortpflanzung neu regeln. Und dafür haben sie bekanntlich großteils ganz verschiedene Lösungen gefunden.

Das Beispiel ist alles

Ein weniger umfassendes Beispiel liefern wiederum die eisigen Lebensräume in Arktis und Antarktis. Denn wer dort lebt, braucht nicht nur Frostschutz, sondern muss auch aufpassen, dass er in einer Umgebung, in der nur selten etwas flüssig ist, nicht vollends austrocknet. Für dieses Dehydrierungs-Problem fanden US-Forscher bei zwei wegen ihrer geringen Größe besonders gefährdeten Krabblern zwei völlig verschiedene Lösungsstrategien (P.N.A.S. 109(50):20744-9). Die flügellose Mücke Belgica antarctica verfolgt prinzipiell dieselbe Strategie wie viele Insekten heißer Trockenzonen: Kontrolliert trocknet sie sich selber aus, wobei sie ihre Stoffwechselaktivität auf nahe Null herunterfährt – und hangelt sich auf diese Weise von einer spärlichen Feuchtphase zur nächsten. Ganz anders hingegen der arktische Springschwanz Megaphorura arctica: Dieser steuert Stoffwechsel und Physiologie derart um, dass er mit maximaler Effizienz den Rest-Wasserdampf aus der eiskalt-trockenen Luft absorbieren kann.

„Ingenieur Evolution“ realisierte also zwei prinzipiell völlig verschiedene Lösungsstrategien. Was uns wieder zu Brenners Zitat bringt: „Biologie ist das Gebiet, in dem das Beispiel alles ist. Es ist nicht Beispiel für irgendetwas anderes. Es ist, was es ist.“ Und folglich ein schwieriges Feld für universelle Regeln.

Ralf Neumann

(Illustration kreiert mit Dall-E2)

 

 

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Letzte Änderungen: 27.06.2023