Editorial

Was tun mit den
Namenlosen?

(23.05.2023) Für die Anerkennung als Art benötigt man traditionell einen Mikro­organismus in Reinkultur. Bei SeqCode reicht die DNA-Sequenz in hoher Qualität.
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Vor kurzem hat Aharon Oren von der Hebrew University of Jerusalem einige Zahlen, Daten und Fakten zur Neubeschreibung von Prokaryoten zusammen­getragen (Can J Microbiol, 69(4): 151-57). Demnach seien zwischen 1990 und 1994 jährlich im Schnitt 150 neue Prokaryonten-Spezies benannt worden. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wuchs die Zahl auf 250 pro Jahr. Zwischen 2017 und 2021 lag die Jahresrate bei 950. Insgesamt gibt es etwa 23.000 kultivierte Prokaryonten-Spezies – dem stehen vermutlich eine Billion noch unbeschriebener Arten gegenüber (wohlgemerkt, wie sprechen über die deutsche Billion, also eine 10 mit 12 Nullen!).

Genetische und meta­genomische Analysen spülen aber eine Flut von Sequenzdaten in die Archive, deren Qualität über die Jahre immer besser wurde. Man kennt also die Genome von Mikroorganismen, denen man vielleicht niemals als lebenden Exemplaren begegnen wird. Wie zeitgemäß ist da noch die Benennung nach dem klassischen Prinzip, wenn klar ist, dass man damit nicht einmal annähernd einen relevanten Teil der mikrobiellen Artenvielfalt je erfassen kann? Vor drei Jahren schlugen Alison Murray et al. in einem Konsensus­papier vor, auch DNA-Sequenzen als Ausgangs­material zur Beschreibung neuer Arten zu akzeptieren – unabhängig von deren Kultivier­barkeit (Nat Microbiol, 5(8):987-994). Mehr als 60 Autoren aus aller Welt hatten mitgewirkt an dieser „Roadmap“, darunter auch Köpfe von Max-Planck- und Helmholtz-Einrichtungen in Deutschland.

Editorial

SeqCode statt ICNP

Jedoch lehnte das International Committee on Systematics of Prokaryotes (ICSP), also sozusagen die Hüter des ICNP, diesen Vorschlag ab. Im Paper gab es aber auch einen Plan B: Ein eigenes Nomenklatur­system für noch unkultivierte Mikro­organismen zu entwickeln. Die in diesem Verfahren generierten Namen sollen dabei kompatibel sein mit dem ICNP, sodass man beide Systeme in der Zukunft auch zusammen­fügen könnte. Herausgekommen ist der sogenannte SeqCode, der als eine DNA-basierte Richtlinie zur Benennung von Mikro­organismen gedacht ist, denen ein ICNP-Name (noch) nicht offensteht. Grundlage hierfür ist die DNA-Sequenz (Nat Microbiol, 7(10): 1702-8 & www.seqco.de).

Am Aufbau von SeqCode arbeitet auch Luis Miguel Rodríguez-Rojas von der Abteilung Mikrobiologie und dem Digital Science Center (DiSC) der Universität Innsbruck mit. Zum Beispiel war er maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung der SeqCode-Registry. „Es gibt Organismen, über die man einiges weiß, die aber noch nie in einem Labor gewachsen sind“, stellt Rodríguez-Rojas fest. Wenn das aber eine grundlegende Bedingung dafür ist, dass man dem Kind einen unveränderlichen und einheitlichen Namen geben kann, führt das zu Problemen. „Wenn Sie auf der einen Seite jede Menge Wissen zu einem Mikro­organismus aufbauen, es andererseits aber keine festgelegte Weise gibt, wie man sich auf diesen bezieht, werden verschiedene Leute nicht wissen, dass sie über denselben Organismus sprechen.“

Prioritäten respektieren

Schon jetzt ist es möglich, jenen Prokaryonten, über die man schon Daten gesammelt hat, einen provisorischen Namen zu geben. Der sieht dann formal aus wie ein Doppelname nach Carl von Linné, nur dass das Wort Candidatus vorangestellt ist. Auch für den Candidatus-Status müssen aber einige Kriterien über die reine Sequenz hinaus erfüllt sein. Trotzdem genießt der gewählte Name keine Priorität. Sind die ICNP-Bedingungen schließlich erfüllt, muss sich der Namensgeber nicht an einer bereits vorhandenen Candidatus-Bezeichnung orientieren. Für SeqCode ist aber solch eine Priorität vorgesehen.

Der Validierungs­prozess für einen neuen Namen kann über verschiedene Wege laufen. Idealerweise soll ein Forscher seinen Organismus registrieren, wenn er eine Publikation in einer Fachzeitschrift vorbereitet. Der Peer-Review-Prozess zum Paper läuft nun unabhängig von einer formalen Prüfung des vorgeschlagenen Namens. Eine zweite Möglichkeit für die SeqCode-Registrierung besteht, wenn bereits eine Publikation unter einer Candidatus-Bezeichnung existiert.

Die Veröffentlichung im Fachjournal ist der eigentlich relevante Teil der Validierung, erläutert Rodríguez-Rojas, denn mit Validierung sei vor allem eine „valid publication“ gemeint. „Das ist der Fall, wenn ein Name bereits in einem veröffentlichten Werk vorkommt, zum Beispiel einem Paper oder einem Buch. Und wenn dieser Name den Regeln des Nomenklatur-Codes folgt.“

Namensgenerator

Natürlich kann man darüber diskutieren, ob wirklich jede neu entdeckte Sequenz auch einer Spezies mit eigenem Namen zugeordnet werden muss. Bislang hatte man einen Organismus mit eigenen Augen gesehen (wenn auch nur durchs Mikroskop oder als Zellrasen oder mindestens als ein Fossil). Andererseits kann man aus hochqualitativen Sequenzdaten immerhin schließen, dass es diesen oder jenen noch unbekannten Organismus geben muss, man kann ihn sogar verwandtschaftlich einordnen. Fest steht aber, dass man zu den allermeisten neu benannten Mikroben nichts wissen wird über deren Aussehen, Ökologie und Lebensweise, sondern allenfalls Hypothesen hierzu anhand der codierten Erbinformation formulieren kann (siehe auch „Die Unkultivierbaren“ aus LJ 11/2018).

Welche Namen sollte man solch einem Unbekannten dann geben? Häufig spricht der Artname ja für ein besonderes Verhalten des Lebewesens oder soll sein Aussehen beschreiben. Das wird hier nicht mehr möglich sein.

Hier hat Rodríguez-Rojas mitgearbeitet an einem Tool, das beliebige Namen generiert, die zwar lateinisch klingen, aber frei sind von jeder Bedeutung. Die Autoren des quelloffenen Python-Scripts sind 65.000 Candidatus-Namen durchgegangen, für die es bislang nur nichtssagende Ziffernfolgen als Identifikator gab. Heraus­gekommen sind Namen wie „Hopelia gocarosa“, die wissenschaftlich klingen, und die man sich auch irgendwie merken kann.

Nicht gegen die Community

„Wir möchten diese Namen auch in SeqCode einpflegen, aber zunächst geben wir den eigentlichen Erstbeschreibern noch Zeit, ihrer Entdeckung einen eigenen Namen zu geben“, erklärt Rodríguez-Rojas. Allerdings sei es gar nicht neu, Namen für Arten beliebig zu generieren. „Das hat eine lange Tradition in der biologischen Nomenklatur“, erklärt Rodríguez-Rojas, „sogar Linnaeus hat Anagramme der Namen seiner Freunde erstellt, um daraus willkürliche Namen zu generieren“.

Rodríguez-Rojas ist wichtig, eine Nomenklatur nicht gegen den Widerstand von Forschern durchzusetzen – und die Freiheit der Namenswahl bleibt ja bestehen. Auch SeqCode als Möglichkeit, Arten jenseits der faktisch meist unerfüllbaren ICNP-Anforderungen zu validieren, soll mit der mikro­biologischen Community und nicht gegen diese erfolgen. „Wir haben derzeit 130 Mitglieder in unserer Gemeinschaft“, freut er sich über den Zwischenstand.

Mario Rembold

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 5/2023.

Bild: Tasha Sturm/Cabrillo College/asm.org


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Letzte Änderungen: 20.05.2023