Editorial

Mitten ins Herz
des Virus

(08.05.2023) Medikamente und Vakzine gegen Grippe müssen ständig angepasst werden, weil der Erreger schnell mutiert. Außer man setzt bei der Wirtszelle an.
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Durch die Corona-Pandemie ist sie etwas in den Hintergrund gerückt. Dennoch ist die echte Grippe (Influenza) weltweit noch immer eine bedeutende Bedrohung für Gesundheit und Gesundheits­system. Jeden Winter löst sie lokale Epidemien und in größeren Abständen auch weltweite Pandemien aus – die letzte größere im Jahr 1968 forderte eine Million Todesopfer. Neben den geschätzt zwischen 20 und 100 Millionen Toten der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 bis 1920 bei einer Weltbevölkerung von nur 1,8 Milliarden Menschen nehmen sich die bis März 2023 registrierten knapp sieben Millionen COVID-19-Todesfälle regelrecht bescheiden aus.

Antivirale Medikamente gegen Grippe, die auf Proteine des Virus abzielen, werden in ihrer Wirksamkeit jedoch oft ausgebremst, weil das Influenzavirus extrem schnell mutiert und damit ihrer Wirkung entfliehen kann. Aus diesem Grund müssen auch Impfstoffe jede Saison neu angepasst werden. Allerdings haben Viren eine Schwachstelle, die sich für die Therapie­entwicklung ausnutzen lassen kann: Für ihre Vermehrung sind sie auf die Proteine ihrer Wirtszellen angewiesen. Und diese verändern sich deutlich langsamer als die viralen Proteine. Eine Resistenz­entwicklung ist dadurch unwahrscheinlich.

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Unverzichtbare Kopiermaschine

Influenzaviren gehören zu den Orthomyxo­viridae und besitzen ein Genom aus einzelsträngiger RNA negativer Polarität. Diese (-)ssRNA ist in acht Segmente aufgeteilt, an die Nucleo­proteine (NP) wie die Perlen auf einer Kette binden, um den Abbau durch Wirtsnucleasen zu verhindern. Die ersten und letzten Nucleotide der RNA bleiben jedoch frei, um untereinander hybridisieren zu können. Die dadurch entstehenden kurzen doppelsträngigen Abschnitte dienen als Promotor und Bindestelle für die viralen Proteine. Das RNA-Segment, die Nucleo­proteine und die virale Polymerase bilden zusammen das virale Ribonucleo­protein (vRNP).

Die virale Polymerase besteht aus den Untereinheiten PB2, PB1 und PA und kann anders als zelluläre Polymerasen RNA als Matrize nutzen. Bei RNA-Viren ist sie folglich unverzichtbar für Replikation und Transkription. „Die virale RNA-Polymerase ist quasi das Herzstück des Influenzavirus und stellt als Kopiermaschine des viralen Genoms einen der wichtigsten Patho­genitäts­faktoren dar“, erklärt Linda Brunotte, die die Influenza-Polymerase am Institut für Virologie der Universität Münster erforscht. „Aufgrund dieser zentralen Funktion bietet sie ein hoch attraktives Ziel für die Entwicklung von antiviralen Wirkstoffen und anderen Strategien, durch die die virale RNA-Synthese zum Erliegen kommt.“

Ausgangspunkt RNA

Die vRNPs werden nach ihrer Freisetzung ins Cytoplasma in den Zellkern der Wirtszellen aufgenommen. Dort beginnt die Virus-Polymerase direkt mit der Transkription, also der mRNA Synthese: Dafür „klaut“ sie zellulären mRNAs das 5‘-Cap und nutzt es, um den zur (-)ssRNA komplementären (+)-Strang zu synthetisieren, der dann von den Ribosomen in Protein übersetzt wird. „Für das Cap-Snatching interagiert die PA-Untereinheit der viralen Polymerase mit der transkriptionell aktiven zellulären RNA-Polymerase II“, erklärt Brunotte. „Die PB2-Untereinheit bindet dann die Cap-Struktur einer gerade in der Synthese befindlichen zellulären mRNA, und die Endonuclease in der PA-Untereinheit schneidet die Cap-Struktur ab. Durch eine Rotation von PB2 wird das geklaute Cap in das aktive Zentrum der viralen Polymerase eingeführt und kann dort als Primer für die mRNA-Synthese verwendet werden.“ Gleichzeitig läuft der erste Schritt der Replikation ab, wobei ebenfalls eine (+)ssRNA – die cRNA – entsteht. Da diese aber kein Cap trägt, wird sie nicht als Matrize für die Protein-Synthese erkannt. Im zweiten Schritt dient die cRNA als Vorlage für die Synthese des ursprünglichen (-)-Strangs, der in vRNPs verpackt und mithilfe von zellulären Proteinen aus dem Zellkern transportiert wird.

Für die Replikation reicht die mitgelieferte Virus-Polymerase nicht aus; zuerst müssen neue Kopiermaschinen hergestellt werden. Diese bilden dann nacheinander zwei verschiedene Homodimere: Zuerst produziert ein asymmetrisches Dimer, das hauptsächlich über die beiden PB2-Untereinheiten interagiert, die cRNA. Diese wird nach der Bindung an Nucleo­proteine durch ein symmetrisches Polymerase-Dimer in das virale Genom umgeschrieben. An der Regulation dieser komplexen Abläufe sind vielfältige posttranslationale Modifikationen beteiligt, darunter die Übertragung von Ubiquitin auf Lysinreste, die durch Wirtszell-Enzyme bewerkstelligt wird. Ubiquitin markiert Proteine normalerweise für den Abbau im Proteasom. Es kann aber auch die positive Ladung des Lysins neutralisieren und dadurch Struktur und Interaktions­fähigkeit der Virus-Polymerase verändern, wie das Team von Brunotte kürzlich aufgeklärt hat.

Alle Lysine ausgetauscht

Mithilfe von Massen­spektrometrie konnten die Münsteraner Virologen in Virus-Polymerasen aus infizierten Lungen­epithel­zellen 59 ubiquitinylierte Lysine nachweisen. Diese verteilten sich auf alle drei Untereinheiten der Polymerase und waren stark konserviert, was auf eine strukturelle Bedeutung hinweist. Einige der Lysine konnten Abschnitten zugeordnet werden, die für die Dimerisierung oder den Transport in den Zellkern wichtig sind.

Um die Bedeutung der Modifikationen zu untersuchen, tauschten die Forscherinnen alle 59 Lysine einzeln gegen Alanin sowie gegen Arginin aus. Beide Austausche verhindern die Bindung von Ubiquitin, doch während Alanin neutral ist und somit eine Maskierung der Ladung durch Ubiquitin-Bindung vortäuscht, ist Arginin wie Lysin positiv geladen. Diese Ladung kann aber nicht wie bei Lysin durch Ubiquitin-Modifikation abgedeckt werden.

An 16 Positionen beeinflusste nur der Austausch gegen Alanin die Polymerase-Aktivität, woraus sich ableiten lässt, dass hier eher die fehlende positive Ladung von Bedeutung ist. An 17 Stellen hatten dagegen beide Austausche Einfluss auf die Polymerase-Aktivität. Besonders interessant schien dem Forschungsteam Lysin 578 in der PB1-Untereinheit: Hier führten beide Austausche zu einer erhöhten Polymerase-Aktivität, doch nur beim Austausch gegen Alanin wurden auch infektiöse Virenpartikel gebildet. „Dieses Ergebnis hat uns gezeigt, dass eine konstant positiv geladene Aminosäure, die nicht durch Ubiquitinylierung modifizierbar ist, an dieser Position im PB1-Protein der Polymerase nicht toleriert wird“, sagt Brunotte. „Unsere Daten weisen darauf hin, dass K578 über elektrostatische Interaktionen mit einem negativ geladenen Glutamat in der PB2-Untereinheit verbunden ist und dadurch eine flexible Aminosäure-Schleife fixiert.“

E3-Ubiquitin-Ligase gesucht

Die Mutation zu einem neutralen Alanin lockert diese Interaktion und verschafft der Schleife mehr Bewegungs­freiheit, während eine dauerhaft positive Ladung die Interaktion starr macht. Beide Zustände scheinen für die Virus­replikation notwendig zu sein, wie Brunotte ausführt: „Unsere Daten deuten darauf hin, dass die positive Ladung an K578 durch eine zelluläre Ubiquitin-Ligase modifiziert wird, um die Interaktion mit Glutamat 72 aufzulösen. Wir vermuten, dass dies vor allem für neu synthetisierte Polymerasen wichtig ist, um zu verhindern, dass sie zu schnell das symmetrische Dimer ausbilden und dadurch die verfügbaren Polymerasen zur Bildung des ersten asymmetrischen Dimers fehlen würden. Die Ubiquitinylierung an K578 unterstützt quasi die Polymerase dabei, die richtige Reihenfolge der Dimere einzuhalten.“ Auch eine frühzeitige Bindung des Nucleoproteins scheint durch die Ubiquitinylierung verhindert zu werden.

Als Nächstes soll von den mehr als 600 E3-Ubiquitin-Ligasen der Wirtszellen diejenige gefunden werden, die die entscheidende Ubiquitinylierung durchführt. „Unsere Daten sind wegweisend dafür, die verantwortliche E3-Ligase zu identifizieren und Inhibitoren zu entwickeln, die gezielt dieses Enzym blockieren“, ist Brunotte überzeugt.

Da Influenzaviren schnell replizieren, müsste eine Behandlung mit den Inhibitoren wohl nur über einen kurzen Zeitraum erfolgen, sodass keine größeren Nebenwirkungen zu erwarten sind. Ein wesentlicher Vorteil einer Strategie, die sich auf Wirtszell-Enzyme konzentriert, ist die geringe Gefahr einer Resistenz­bildung. Brunotte schaut deshalb optimistisch in die Zukunft: „Wir sehen hier ein sehr großes Potenzial für die Entwicklung von sicheren antiviralen Medikamenten gegen Influenzaviren und vielleicht auch anderen Viren, bei denen diese E3-Ligasen eine Rolle spielen.“

Larissa Tetsch

Günl F. et al. (2023): The ubiquitination landscape of the influenza A virus polymerase. Nat Commun, 14(1):787

Bild: NIAID


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Letzte Änderungen: 08.05.2023